Rechtslosigkeitsrecht
Das britische Unterhaus hat in dieser Woche ein Gesetz von geradezu exquisiter Niedertracht beschlossen. Die Illegal Migration Bill wird, wenn sie in Kraft tritt,  die britische Regierung in die Lage versetzen, Menschen aus ehemals kolonisierten Regionen, die auf der Flucht vor ihren zerstörten Lebensbedingungen es irgendwie auf das Territorium des Erzkolonisatoren UK schaffen, in eine andere ehemals kolonisierte Region wegzudeportieren, und zwar ohne dass ihnen dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg dabei noch mit einstweiligen Anordnungen in die Quere kommen kann. Das dürfen die Briten zwar rechtlich gar nicht, und das wissen sie auch, aber sie machen es einfach trotzdem, und zwar nicht einfach nur so, sondern aus Prinzip. Dafür sind sie schließlich aus der EU ausgetreten und werden wohl notfalls noch aus der EMRK austreten, damit sie das können. Sie (bzw. die Tory-Regierung und ihre Wähler*innen) wollen das können dürfen, und wenn das Recht sie daran hindert, dann um muss das Recht eben zu gelten aufhören.
Anders als das Vereinigte Königreich ist Griechenland nirgends ausgetreten. Griechenland ist ein Mitglied der Europäischen Union, und die ist bekanntlich, der Himmel sei gepriesen, laut Artikel 2 EUV auf den Grundwerten der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte errichtet. Griechenland ist auch weiterhin und unbestritten Mitglied der EMRK und als solches soeben vom Straßburger Gerichtshof verurteilt worden, einer schwangeren Asylsuchenden 5000 € Schadensersatz zu zahlen für die unmenschliche Behandlung, die ihr im Aufnahmecamp auf der griechischen Insel Samos zuteil wurde.
Das ist tatsächlich das erste Mal, dass der Gerichtshof in einem Urteil die Feststellung trifft, dass die Lebensbedingungen in den griechischen “Hotspots” mit der Menschenwürde unvereinbar sind. Das erste Mal? Nach all den Jahren, all den Fernsehberichten und aufrüttelnden Reportagen, all den detaillierten und mühevoll dokumentierten Berichten von Menschenrechtsorganisationen? Ja, offenbar ist es das erste Mal. Es ist, wenn ich mich nicht irre, überhaupt das erste Gerichtsurteil dazu. Von den Gerichten der Europäischen Union und der Mitgliedsstaaten gibt es anscheinend überhaupt nichts.
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Unmenschliche Lebensbedingungen mitten in der EU, jahrelang und für alle, die hinschauen, offen zu Tage liegend. Und es gibt keinerlei Rechtsprechung? Wie kann das sein?
Ich habe gestern mit den Juristen Philipp Schönberger, Kilian Schavani und Max Maydell telefoniert, die im Rahmen der Refugee Law Clinics in Berlin und Köln an der Klage beteiligt waren. Was die Begründetheit der Klage betrifft, sei der Fall völlig klar gewesen, sagen sie. Die Verletzung von Artikel 3 EMRK sei lupenrein und wasserdicht dokumentiert. Deswegen habe der Gerichtshof den Fall auch in der kleinen Besetzung mit drei Richter*innen erledigen können: Materiell sei das ein “No-Brainer” gewesen. Bevor der Gerichtshof materiell prüfen kann, muss die Klage aber erst mal formell zulässig sein, und das war in der Tat hier alles andere als klar. Man muss schließlich, um in Straßburg anklopfen zu dürfen, immer zuerst den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft haben. Und das hatten sie nicht. Wie auch? Es gibt in Samos kein Gericht. Samos verlassen dürfen die Camp-Insassen nicht. Niemand habe ihnen sagen können, was überhaupt hier der richtige Rechtsbehelf ist. Die paar völlig überlasteten Anwält*innen, die es vor Ort gebe, hätten schon mit den Asylverfahren mehr als genug zu tun. Wie soll man also klagen? Wo?
Der Gerichtshof räumt das Hindernis mit dem lapidaren Hinweis aus dem Weg, dass hier “exzessiver Formalismus” fehl am Platz sei und die griechische Regierung darzulegen habe, welcher Rechtsweg der Klägerin auch praktisch zum Ausschöpfen zur Verfügung gestanden hätte. Hat sie nicht? Dann zulässig.
Kein Rechtsweg für Folteropfer in Griechenland: lässt sich dieser menschenrechtliche Skandal also als ein weiteres Beispiel mediterraner Staatsunzulänglichkeit wegfolklorisieren? Das könnte uns so passen. Tatsächlich steckt hinter all dem Chaos wohl viel mehr Methode, als man meinen möchte und meinen soll. Und diese Methode wird nicht in erster Linie in Athen ersonnen, sondern in Brüssel.
Was hier am Werk ist, kann man, denke ich, mit einem brutal desillusionierenden und aufs Eindringlichste zur Lektüre empfohlenen Paper von Dimitry Kochenov und Sarah Ganty als Teil des Europäische Rechtslosigkeitsrechts bezeichnen: ein sich stetig weiterentwickelndes System planmäßiger rechtlicher Arrangements in der Absicht, das direkte oder an Dritte ausgelagerte Töten, Foltern, Ausrauben und anderweitig menschenunwürdig Behandeln von ehemals Kolonisierten, die Zutritt und Rechte von ihren einstigen Kolonialherren fordern, jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle zu entziehen.
Dieses Europäische Rechtslosigkeitsrecht, so Kochenov/Ganty, ist nicht nur ein Betriebsunfall. Die EU ist so gebaut, war es von Anfang an. Das Rechtlosigkeitsrecht ist Resultat aus ihrem Design als Raum, in dem diejenigen, die im Besitz der Unionsbürgerschaft sind, alle Rechte haben und diejenigen, die dieses Privileg nicht genießen, so gut wie gar keine. Und dieses Design wiederum, so vermuten Kochenov/Ganty, steht in direktem Zusammenhang mit dem Verlangen, den ehemaligen Kolonialherren über den Verlust ihrer rassistischen Imperien hinwegzuhelfen, indem man den Unterschied zwischen berechtigten Kolonisatoren und entrechteten Kolonisierten trotz dieses Verlusts auf Dauer stellt.
Drei Strategien zum Einsatz von Rechtslosigkeitsrecht heben Kochenov/Ganty hervor: informelle Rückführungs- und andere Abkommen mit zumeist ex-kolonisierten Drittstaaten, oft gekoppelt mit Entwicklungshilfe und Visaerleichterungen, die keinen Rechtscharakter haben, von keinem Gericht kontrolliert, teilweise nicht mal öffentlich bekannt gegeben werden. Dann das unkontrollierte und keinerlei Rechenschaft ablegende Ausgeben von enormen Mengen Geld, um damit die Dienste Dritter für das “Migrationsmanagement” zu kaufen, für deren Umgang mit der Menschenwürde man jede Verantwortung von sich weist. Und schließlich: FRONTEX, die europäische Grenz- und Küstenschutzagentur, überall dabei, nirgends und für nichts haftbar zu machen, die institutionalisierte Verantwortungsdiffusion. Von der EU-Justiz ist dabei übrigens keine Hilfe zu erwarten: Den EuGH mit seinem eilfertig jede Kontrolle weit von sich weisenden Urteil zum EU-Türkei-Deal bezeichnen Kochenov/Ganty als einen der Architekten des EU-Rechtslosigkeitsrechts.
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Jetzt also, immerhin: ein Rechtsweg zum EGMR in Straßburg, ein Urteil, das den Menschen, die diesem Rechtslosigkeitsrecht unterworfen sind, doch ein gewisses Maß an Zugang zum Recht verleiht. Das 6-fach überbelegte, von Gewalt und unfassbarer Not geprägte Lager in Samos aus dem aktuellen Urteil gibt es aber mittlerweile gar nicht mehr. Stattdessen eine Art Hochsicherheitsknast, in den man die Leute einsperrt, alles sauber, alles korrekt, kilometerweit draußen, auf dass sich da nicht zu viele NGOs und Rechtsanwält*innen herumtreiben, und von außen kann niemand sehen, was da drin passiert. Da noch mal eine so gut dokumentierte Klage wie die jetzt in Straßburg entschiedene zustande zu bekommen, wird so oder so schon deshalb schwierig. Und aufrüttelnde Pressereportagen und NGO-Berichte kriegt man auch viel schwerer an Öffentlichkeit, wenn man auf den Bildern immer nur Stacheldraht sieht. Es sind da ja tatsächlich offenbar auch weniger Leute drin. Die Pushbacks scheinen zu wirken. Die sind manifest illegal, aber das schert ja offenbar wirklich überhaupt niemanden mehr. Es ist eh schon extrem schwer, ein Gericht angerufen zu bekommen, wenn man gerade auf dem Mittelmeer ausgesetzt oder in einen weißrussischen Wald zurückgeprügelt wird. Wer es unternimmt, den Menschen von außen dabei zu helfen, geht ein enormes Risiko ein, als Schleuserkomplize kriminalisiert zu werden heutzutage.
So wird es immer weiter verfeinert und engmaschiger gemacht, das EU-Rechtslosigkeitsrecht, und die bundesdeutsche Ampelkoalition, wie man liest, knüpft dabei eifrig mit.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:
In Russland wird künftig der Geschichtsunterricht dem Zweck unterworfen, die kollektive Identität durch ein gemeinsames verordnetes Geschichtsbild zu formen. ANASTASIIA VOROBIOVA untersucht diesen russischen “mnemonic constitutionalism” und setzt ihn zum Recht auf Bildung in Beziehung.
Die EU-Kommission erwägt, rund 200 Milliarden Euro an eingefrorenen russischen Vermögenswerten zu investieren, um die Erlöse für den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden. LORIN WAGNER untersucht, ob das wirtschaftlich, politisch und rechtlich eine gute Idee ist.
Fünf osteuropäische Länder haben einseitig die Getreideimporte aus der Ukraine gestoppt, um ihre heimische Landwirtschaft zu schützen. PETER VAN ELSUWEGE hält die permissive Reaktion der EU-Kommission auf diese Erpressungspolitik einiger Mitgliedsstaaten für einen “gefährlichen Präzedenzfall” von Realpolitik.
Vor einer Woche hat der EU-Rat einen Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement (AMMR) veröffentlicht. FELIX PEERBOOM kritisiert den Ansatz, den Mitgliedsstaaten zu erlauben, bei plötzlichem Migrationsdruck vom Asylrecht abzuweichen.
Welche Gene sollten Kinder niemals erben? NIALL COGHLAN untersucht den EU-Vorschlag für eine Verordnung über Substanzen menschlichen Ursprungs und meint, dass dabei nicht bemerkt werde, in welch heikles ethisches und politisches Terrain man sich dabei begebe.
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Am 03.05. findet die nächste Ukraine-Veranstaltung von Dr. Carolyn Moser zum Thema „Die europäische Sicherheitsarchitektur im Lichte neuer geopolitischer Realitäten: Böses Erwachen und notwendiger Wandel“ statt. Der Vortrag skizziert die Kernelemente dieses Wandels und diskutiert insbesondere die Rolle der EU.
Für die Teilnahme in Präsenz im Vortragssaal der WLB ist keine Anmeldung erforderlich. Online können Sie über folgenden Link teilnehmen.
Mehr Informationen zum Programm finden Sie hier.
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Die Urteile des französische Verfassungsrat im Kontext der umstrittenen Rentenreform zeigen nach Ansicht von THOMAS PERROUD den “zutiefst konservativen Charakter” der französischen Verfassung und ihres Wächters.
Seit 2008 ist die Natur in der Verfassung Ecuadors als Subjekt mit besonderen Rechten anerkannt. In jüngster Zeit kommt es jedoch zu Widerstand aus den Reihen der Richterschaft. LENA KOEHN & JULIA NASSL sehen sich das genauer an.
Angesichts des Zusammenbruchs der Biodiversität, des Klimawandels und der Versuche des Globalen Nordens, auf die weitere Dominierung der Natur zu denken, anstatt ihre Politik zu ändern, plädiert KATHERINE SNOW dafür, die Nachrichtendienste zum Sammeln von environmental intelligence einzusetzen.
Erlaubt die Notwendigkeit des Klimaschutz eine Ausnahme von der Schuldenbremse? Joachim Wieland hatte diese Frage letzte Woche bejaht. Anders jetzt LENNART LAUDE & NICOLAS HARDING: Klimaschutz sei eine Daueraufgabe
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat seine Pläne zur Cannabis–Legalisierung „light“ vorgestellt. Sind die europarechtlichen Bedenken damit ausgeräumt? ROBIN HOFMANN zufolge bewegt sich die Regierung „stark an der Grenze zu dem, was rechtlich zulässig sein dürfte“.
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Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal! Bitte versäumen Sie nicht zu spenden!
Ihr
Max Steinbeis
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Eine berechtigte Krik am Rechtslosigkeitsrecht. Hier könnte/müsste die Grundrechtecharta, voran die Menschenwürde und weiteren fundamentalen Rechte im ersten Titel, endlich zum Schutz vulnerabler Menschen und Personengruppen zur Anwendung gebracht werden. Allerdings hat der EuGH bekanntlich systemisch nicht die Möglichkeit, unmittelbar auf massive Menschenrechtsverletzungen zu reagieren. Es fehlt an einer “Chartabeschwerde “, die der Verfassungsbeschwerde vergleichbar wäre. Der EuGH ist auf einschlägige Vorlagen nationaler Gerichte angewiesen. Auf diesem Weg hat derGerichtshof in den letzten Jahren eine bereits dichte und überzeugende Rechtsprechung zu Art. 1 GRC (Würde des Menschen) und insbesondere Art. 4 GRC (Folterverbot) entwickelt. So ist eine Ausweisung/Auslieferung/Ãœberstellung … in einen anderen Mitgliedstaat menschenrechtlich verboten, wenn etwa eine Verletzung des Folterverbots, treffender des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, durch überfüllte Lager droht ( s. etwa Rs. C-490/16).