04 May 2020

Rechtsprechungs­notstand in Bayern

Verfassungskonforme Auslegung oder Rechtsschutzverweigerung?

Verfolgt man die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes (BayVGH) zu den in Bayern erlassenen Maßnahmen in der Corona-Epidemie, fühlt man sich unweigerlich an die Rechtsprechung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs unter Vorsitz von Armin Nack erinnert. In Strafverteidigerkreisen sprach man damals spöttisch nur noch vom „Olli-Kahn-Senat“: Hält alles, vor allem Unhaltbares! Die Richter des ersten Strafsenats begründeten ihre niedrige Aufhebungsquote indes gerne mit der guten Arbeit der zu ihrer Zuständigkeit gehörenden Instanzgerichte. Ganz so einfach kann es sich der BayVGH in diesen Tagen jedoch nicht machen. Denn die handwerklichen und verfassungsrechtlichen Fehler der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) sind auch ihm nicht verborgen geblieben. Trotzdem haben sich die Richter des für den Seuchenschutz zuständigen 20. Senats bislang nicht dazu berufen gesehen, die vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassenen Vorschriften außer Vollzug zu setzen.

Rechtsprechung im juristischen Niemandsland

Mit der Entscheidung vom 27.04.2020 (20 NE 20.793) zur 800qm-Regel im Einzelhandel (dazu schon hier) dürfte der BayVGH juristisches Niemandsland betreten haben. Denn obwohl er einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und damit die Verfassungswidrigkeit einzelner Vorschriften der 2. BayIfSMV feststellen musste, sah er davon ab, die untergesetzliche Verordnung außer Vollzug zu setzen – wie es eigentlich nach § 47 Abs. 6 VwGO gebotenen ist. Damit rückte der BayVGH von der Linie des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 24.02.2020, 9 BN 9/18 Rn. 25 m.w.N.) ab, das für einen Verzicht auf die gesetzlich vorgesehene Unwirksamkeitserklärung im Sinne von § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO schon in der Hauptsache grundsätzlich keinen Raum sieht, weder aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität noch wegen privater Interessen. Schließlich sind gesetzeswidrige untergesetzliche Rechtsvorschriften ipso iure unwirksam und nichtig, sodass es schon gar keine Rechtswirksamkeit gibt, die überhaupt in Geltung erhalten werden könnte. Die frühzeitige Außervollzugsetzung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verhindert insofern, dass voraussichtlich gesetzeswidrige und unwirksame Regelungen vollzogen werden.

Gelten im Gesundheitsnotstand auch verfassungswidrige Rechtsverordnungen?

Der BayVGH (Rn. 27 ff.) berief sich für seine neuartige Vorgehensweise, von der gebotenen Außervollzugsetzung abzusehen, auf einen „Notstand“. Dieser Weg schien ihm durch das BVerwG nicht versperrt zu sein. Denn dieses hatte es (in einem Beschluss vom 09.06.2010 9 CN 1/09, Rn. 29) mit einem Nebensatz einmal dahinstehen lassen, „ob in besonderen Ausnahmefällen, in denen die Unwirksamkeitserklärung einen ‚Notstand‘ zur Folge hätte, etwas anderes gelten kann“. Bei Lichte besehen handelt es sich allerdings um einen ungangbaren Weg aus dem vom BayVGH offenbar angenommenen Rechtsprechungsnotstand.

Denn das BVerwG bezog sich mit seinem Hinweis nicht auf die gesetzlich gebotene Außervollzugsetzung im Eilrechtsschutz, sondern auf die gesetzlich gebotene Unwirksamkeitserklärung im Hauptsacheverfahren. Der BayVGH sah dagegen von der gebotenen Außervollzugsetzung im Eilrechtsschutz unter Berufung auf einen Notstand jedoch insbesondere auch deshalb ab, weil die verfassungswidrigen Normen befristet waren (Rn. 26, 29), sodass es ihm tatsächlich gar nicht um ein Absehen von der von ihm sogar vor die Hauptsache gezogenen Unwirksamkeitserklärung ging. Damit drohte aber gerade auch nicht ein Notstand infolge einer Unwirksamkeitserklärung in der Hauptsache, sondern allenfalls in der Folge der gebotenen Außervollzugsetzung im Eilrechtsschutz.

Doch selbst einen solchen Notstand infolge der Außervollzugsetzung im Eilrechtsschutz begründete der BayVGH in seiner Entscheidung nicht. Vielmehr berief er sich lediglich ganz allgemein auf einen „Notstand in der gegenwärtigen Bedrohung der Gesundheit der Bevölkerung durch das Corona-Virus“, obwohl er zugleich obendrein zugeben musste, dass er das „von manchen Experten prognostizierte“ Schreckensszenario „nicht realistisch abschätzen“ könne (Rn. 28). Der befürchtete und zur Entscheidungsverweigerung bemühte Gesundheitsnotstand wird also in der Entscheidung gar nicht (positiv) festgestellt.

Rechtsschutzeskapaden und juristische Kollateralschäden

Richtigerweise hätte der BayVGH allenfalls dann auf einen „Notstand“ abstellen können, wenn die Außervollzugsetzung der verfassungswidrigen Vorschriften einen noch rechtsferneren Zustand zur Folge gehabt hätte, als der mit der Verfassungswidrigkeit ohnehin schon bestehende rechtsferne Zustand. Ein solcher noch rechtsfernerer Zustand drohte indessen nicht, denn ohne den Vollzug der verfassungswidrigen Vorschriften drohte allein ein grundgesetzkonformer Zustand. Diesen scheint der BayVGH in seiner Entscheidung aber zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Trotz dieser größtmöglichen Schützenhilfe sah sich die Bayerische Staatsregierung zur umgehenden Abstellung des Gleichheitsverstoßes veranlasst, denn der BayVGH hatte das Tor zur Staatshaftung weit aufgestoßen. Nichts anderes hätte die Staatsregierung aber auch getan, hätte der BayVGH die ihm gesetzlich aufgetragene Außervollzugsetzung der rechtsverordneten Vorschriften ausgesprochen. Durch die Eskapade des BayVGH kam zu der Verfassungswidrigkeit der Vorschriften also noch eine Missachtung des geltenden Prozessrechts hinzu, die auf eine Verweigerung des zu gewährenden Rechtsschutzes hinausläuft. Dies nährt zunehmend berechtigte Zweifel, ob der 20. Senat überhaupt gewillt ist, seinem gesetzlichen Auftrag nachzukommen, oder ob er nicht vielmehr um jeden Preis versucht, der Staatsregierung in Zeiten einer unklaren Bedrohungslage den Rücken freizuhalten.

Marginalisierung des Ausgangsverbots

Auch mit seinem – bislang offiziell noch immer nicht veröffentlichten – Beschluss vom 28.04.2020 (20 NE 20.849) zu dem mittlerweile seit mehr als sechs Wochen geltenden Ausgangsverbot präsentiert sich der 20. Senat nicht über jeden Zweifel erhaben. Denn abgesehen davon, dass er sich teils überhaupt für unzuständig erklärt (Rn. 23), teils klägerischen Vortrag (zu Art. 104 GG) gänzlich unbeachtet lässt (Rn. 19 ff.), leistet er darin auf vielen Seiten (Rn. 34-48) eine vorgeblich „verfassungskonforme Auslegung“, die das angegriffene Ausgangsverbot kurzerhand zum Verschwinden bringt.

Dabei ist zu erinnern, dass das Verlassen der eigenen Wohnung in Bayern mit § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV nicht grundsätzlich erlaubt und lediglich im Ausnahmefall beschränkt, sondern umgekehrt grundsätzlich verboten und nur in Ausnahmefällen erlaubt ist. Ein solcher Ausnahmefall setzt einen „triftigen Grund“ voraus und § 5 Abs. 3 2. BayIfSMV nennt namentlich („insbesondere“) nur einige solcher triftigen Gründe, schließt andere triftige Gründe allerdings nicht aus. Wir erinnern uns: Aufgrund dieser strikten Regelung war es nach Auffassung des Bayerischen Innenministeriums beispielsweise lange Zeit auch nicht erlaubt, auf einer Parkbank Platz zu nehmen; jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Bayerische Ministerpräsident Söder, sehr zur Überraschung der Bayerischen Polizei und ihres obersten Dienstherren, in der Bildzeitung verlautbarte, „selbstverständlich“ sei dies erlaubt.

Bloße Erkennbarkeit eines Sanktionsrisikos?

Trotz der offenen Regelung der Ausnahmetatbestände verstößt das Ausgangsverbot nach Auffassung des 20. Senats „nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot hinreichender Normbestimmtheit“ (Rn. 34) – obwohl ein Verstoß gegen das Ausgangsverbot mit Bußgeld- bzw. Strafe bedroht ist. Der BayVGH folgt damit nicht den Erkenntnissen (dazu schon hier) des Saarländischen Verfassungsgerichtshofes vom 28.04.2020 (Lv 7/20), der für das saarländische Ausgangsverbot wegen der bereits prinzipiell unstatthaften Regelbeispielstechnik einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG festgestellt hat: „Damit wird letztlich den Ordnungsbehörden überlassen, in welchem Umfang Grundrechtseingriffe sanktionsbewehrt oder jedenfalls vollziehbar erfolgen dürfen. Das ist verfassungsrechtlich nicht statthaft.“. Denn weder an dieser prinzipiell unzulässigen Regelungstechnik noch an der eindeutigen Blankettrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stört sich der BayVGH, wenn er sich demgegenüber in einer vorgeblich „verfassungskonformen Auslegung“ übt, die ganz unscheinbar den verfassungsrechtlichen Maßstab verschiebt.

Zwar referiert der BayVGH (Rn. 35) zunächst zutreffend die ständige Rechtsprechung des BVerfG, wonach der Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG sowohl sicherstellen soll, dass die Normadressaten „vorhersehen“ können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist, als auch gewährleisten soll, dass der Gesetzgeber über die Sanktion selbst und somit nicht die Exekutive entscheidet. Falsch ist aber die unter Berufung auf das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 17.03.2010, 3 K 319/09, Rn. 29) nachgeschobene Behauptung, in Grenzfällen müsse es ausreichend sein, wenn „wenigstens das Risiko einer Ahndung erkennbar“ sei. Denn dem vom OVG (hier: Rz. 18) für diese Behauptung wiederum bemühten Beschluss des BVerfG vom 22.06.1988 (2 BvR 234/87, 2 BvR 1154/86) lässt sich ein solcher Satz schlechterdings nicht entnehmen, was wohl auch der 20. Senat erkannt haben muss, der sich nicht auf das BVerfG, sondern lediglich auf das OVG beruft.

Verfassungskonforme Auslegung verfassungswidriger Normen durch verfassungswidrige Maßstäbe?

Diesem – in freier Rechtsfindung auserkorenen – Maßstab werde das Ausgangsverbot „noch gerecht“ (Rn. 36), denn bei „verfassungskonformer Auslegung“ (Rn. 37 ff.) ließen „die im Regelbeispielkatalog genannten Tätigkeiten zumindest das Risiko einer Ahndung“ erkennen (Rn. 48). Aus Wortlaut und Systematik sei „zwar nur bedingt erkennbar“ unter welchen Voraussetzungen ein triftiger Grund zum Verlassen der Wohnung bestehe; aus einer „Gesamtschau“ ergebe sich aber „in hinreichender Weise, dass im Grundsatz jeder sachliche und einer konkreten, nicht von vornherein unzulässigen Bedürfnisbefriedigung dienende Anlass als ‚triftiger Grund‘“ anerkannt werden müsse (Rn. 38).

Denn der Regelungsgehalt des Ausgangsverbots sei nach Wortlaut und Systematik „ambivalent“ (Rn. 39): Einerseits ist es mit dieser drastischen Regelung nämlich schon im Grundsatz verboten, die eigene Wohnung zu verlassen, sodass triftige Gründe zur Rechtfertigung eigentlich nur in engen Grenzen anerkannt werden können, weil das Verbot andernfalls unterminiert würde (Rn. 40). Anderseits bewirken die ausdrücklich genannten Regelbeispiele schon jetzt eine Bagatellisierung des Merkmals triftiger Gründe (Rn. 42 ff.), weil nach diesen Regelbeispielen nicht nur jeder willkürliche Bewegungswunsch, sondern auch jedes beliebige Konsuminteresse als triftiger Grund fungieren kann, sodass „ein unabweisbares Bedürfnis“ (Rn. 45) zum Verlassen der eigenen Wohnung gerade nicht vorausgesetzt wird. Auf diese Weise „verliert die Beschränkung der Ausnahmen auf ‚triftige‘ Gründe weitgehend an Kontur“ (Rn. 41).

Zwischen Unbestimmtheit und Unverhältnismäßigkeit des Ausgangsverbots

Dass sich dieser Befund des BayVGH nun aber ausgerechnet mit seiner Feststellung hinreichender Bestimmtheit in Deckung bringen lässt, und zwar im Sinne eines hinreichend absehbaren Sanktionsrisikos (Rn. 47-48), liegt mit der vorgeblich „verfassungskonformen Auslegung“ alleine daran, dass es ein Sanktionsrisiko dort überhaupt nicht geben kann, wo ohnehin alles erlaubt ist. Das bewehrte Ausgangsverbot ist demnach hinreichend bestimmt, weil es nach der Auslegung des BayVGH faktisch gar kein Ausgangsverbot mehr gibt. Dies spricht im Grunde sogar der 20. Senat offen aus, der zu seinem Auslegungsergebnis (Rn. 46) notiert, dass mit ihm „das im Regelungsmodell […] angelegte Regel/Ausnahmeverhältnis […] nicht mehr gewahrt wird“. Der Erkenntnis, dass eine derartige Verbotsregel zwingend unverhältnismäßig ist, sofern sie sich faktisch in ihr Gegenteil verkehrt, hat sich der BayVGH (Rn. 49) indessen verschlossen, indem er lediglich abermals an den Verordnungsgeber appellierte.

Das Ausgangsverbot ist tot – lang lebe das Ausgangsverbot!

Der zuständige Verordnungsgeber im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege zeigte sich von diesem hilflosen Appell zuletzt jedoch kaum beeindruckt und verlängerte das bewehrte Ausgangsverbot unter abermaliger Erweiterung der Ausnahmetatbestände durch Erlass der 3. BayIfSMV erneut. Es ist demnach in Bayern nach Interpretation des Innenministeriums nunmehr beispielsweise in der siebenten Woche verboten, die Wohnung zu dem Zweck zu verlassen, eine Spazierfahrt mit dem PKW zur Bewältigung der durch das Ausgangsverbot zwischenzeitlich aufgekommenen Langeweile zu unternehmen. Verbindet sich diese vorgeblich illegale Spazierfahrt jedoch mit einem vorherigen und nach § 7 Abs. 3 Nr. 7 3. BayIfSMV legalen Spaziergang an der frischen Luft, beispielsweise zur Aufsuchung des außerhalb der eigenen Wohnung geparkten PKW, dann bewegt sich der KFZ-Führer mit dieser Absicht nach „verfassungskonformer Auslegung“ neuerdings schon wieder im Bereich des Legalen. Sanktionen drohen somit nur noch den bei aller Rechtschaffenheit völlig Unbedarften oder den der Polizei schon seit jeher Missliebigen. Man könnte also auch trotz der Notstandsrhetorik meinen, der Freistaat sei längst wieder zu alter Ordnung zurückgekehrt. Dass sich ein solcher Umgang mit dem Recht des Einzelnen sowie der Gesellschaft aber früher oder später rächen wird, dürfte so sicher sein wie das Amen in den neuerdings wieder aufgesperrten Kirchen. Denn eine Staatsregierung, die auf dem Vollzug nichtiger Ausgangsverbote besteht, macht sich nicht nur politisch unglaubwürdig, sondern auch der Nötigung schuldig.