Reform der EU-Asylpolitik: Fallstricke bei der politischen Aktualisierung von Verfassungswerten
Die relative Ruhe der öffentlichen Diskussion sollte nicht davon ablenken, dass die Krise des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ungelöst bleibt. Umso wichtiger ist, dass die Kommission eine Reihe von Vorschlägen unterbreitete, die derzeit in Brüssel intensiv diskutiert, in Deutschland mit Ausnahme der Reform der Dublin-Verordnung aber kaum beachtet werden. In der Tat sind die vorgeschlagene Reform der Aufnahme-Richtlinie sowie das Vorhaben für eine neue Verfahrens- und Qualifikation-Verordnung, die erstmals im vergangenen Juli kurz vor der Sommerpause veröffentlicht wurden, vergleichsweise technisch angelegt. Wichtig sind sie aber dennoch, weil die drei Rechtsakte den legislativen Kern des GEAS ausmachen und daher auch beim anstehenden Europäischen Rat am 22. und 23. Juni diskutiert werden. Überwindet die EU mit den Vorhaben die Krise?
1. Verfassungsrahmen: Bedarf nach politischer Entscheidung
Im Gegensatz zur Eurokrise kann eine Reform der Asylpolitik auf Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV verwirklicht werden, ohne dass man den Vertrag ändern oder ergänzen müsste, weil der Lissabon-Vertrag die EU mit einer robusten Kompetenzgrundlage ausstattete. Hiernach können der Rat und das Europäische Parlament sich jederzeit auf eine Reform verständigen, ohne dass einzelnen Staaten ein formales Vetorecht zusteht. Über die Annahme der vorgeschlagenen Richtlinien und Verordnungen entscheiden die nationalen Minister und die EU-Parlamentarier mit einem Mehrheitsentscheid. Nationale Parlamente wie der Bundestag haben hier nichts mitzureden (und auch das BVerfG bleibt ruhig), was ein Grund für die vergleichsweise geringe öffentliche Debatte sein dürfte.
Speziell in der Asylpolitik ist der Hinweis auf den politischen Charakter der EU-Entscheidungsfindung zudem wichtig, weil hier der Verweis auf eine vermeintlich klare Rechtslage häufig politische Positionierungen ersetzt. Tatsächlich steht der Inhalt des Sekundärrechts nicht fest: Dass es Alternativen gibt, hatte auch die Kommission in einer Mitteilung vom Frühjahr 2016 noch ausdrücklich betont, als sie verschiedene Handlungsoptionen vorstellte – gemäß der allgemeinen Vorgabe von Präsident Junker, „eine sehr politische Kommission“ sein zu wollen. Diese Optionenvielfalt scheint in der Begründung der Vorschläge allerdings nur noch am Rande auf; die Kommission erklärt nicht, warum sie bestimmte Wege (nicht) einzuschlagen gedenkt, auch wenn diese Alternativen von Rat und Parlament intensiv beraten werden.
Natürlich unterliegt der EU-Gesetzgeber rechtlichen Grenzen, speziell der Genfer Konvention, der EU-Grundrechtecharta sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese Grenzziehungen müssen beachtet werden, ohne dass sich deshalb politische Entscheidungen erübrigten. Viele Bestimmungen im geltenden Sekundärrecht (und in den Kommissionsvorschlägen) überschreiten aus guten Gründen das verfassungsrechtliche Mindestmaß – wie der EuGH bei der Familienzusammenführung explizit anerkannte (hier, Rn. 59 f.). In derartigen Fällen muss der EU-Gesetzgeber immer auch politische Entscheidungen über das wünschenswerte Schutzniveau treffen, wie das später erwähnte Beispiel der sicheren Drittstaaten zeigen wird.
2. Europäische Werte und politischer Streit
Politische Debatten finden in keinem Vakuum statt, weil gemeinsame Werte politische Entscheidungen auch dann beeinflussen können, wenn sie keine gerichtsfesten Vorgaben enthalten. So bekräftigen Politiker häufig den ethischen Wert eines Flüchtlingsschutzes nach dem „Geist“ der Genfer Konvention – wie vor einiger Zeit auch Kanzlerin Merkel im Telefonat mit Donald Trump, als sie dessen Einreiseverbot kritisierte. Einen solchen Ansatz bezeichnet man gemeinhin als Menschenrechtspolitik oder, allgemeiner, Verpflichtung auf europäische „Werte“ in Situationen, in denen die Menschenrechte keine dogmatischen Vorgaben enthalten. So formulierte der Europäische Rat als Zielvorgabe für die Migrationspolitik, dass diese „unter uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte, des Völkerrechts und der europäischen Werte“ erfolgen solle.
Damit sind wir bei einem Kernproblem der aktuellen EU-Asylpolitik angelangt: eine normative Leitfunktion gemeinsamer Werte entsteht nicht aus dem Nichts, sondern gründet auf politischen Debatten und sozialen Praktiken, die Verfassungswerte in den Köpfen und Herzen von politischen Akteuren und Bürgern verankern. Einen solchen Konsens über die normativen Grundlagen der EU-Asylpolitik gibt es jedoch nicht. Die aktuelle Situation gleicht, wie ich in einem aktuellen Beitrag für die Common Market Law Review beschreibe, einem konstitutionellen Moment für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), in dem die normativen Grundlagen neu konfiguriert werden – in Übereinstimmung mit der griechischen Bedeutung des Worts „Krise“, das immer auch einen Wendepunkt meinte.
Es liegt im Wesen einer derartigen Neuausrichtung, dass das Ergebnis nicht feststeht. Die aktuellen Debatten könnten in einem paneuropäischen Verständnis des Asylrechts münden, einer Art von Verfassungsidentität für das GEAS, auch wenn Stillstand und Scheitern konzeptuell ebenso möglich bleiben. Insoweit sind die bürgerschaftliche Unterstützung für Flüchtlinge, Grenzzäune, Resettlement-Programme und die Arrangements mit der Türkei und Libyen die Bausteine einer sich im Umbruch befindenden EU-Asylpolitik. Im erwähnten Beitrag beschreibe ich näher, dass ein zentraler Faktor für die Zukunft des GEAS das Ausmaß der Politisierung sein dürfte: Wenn es auf EU-Ebene „nur“ darum geht, zwischenstaatliche Streitigkeiten zu schlichten, dürften die Reformen früher oder später erfolgreich sein. Ungleich schwieriger wäre die Situation freilich, wenn die supranationale Asylpolitik dauerhaft innenpolitische Debatten und Wahlen mitentscheiden sollte.
Eine derartige Politisierung wäre für die EU-Organe besonders problematisch, weil sie traditionelle eine konsensbasierte Entscheidungsfindung hinter verschlossenen Türen bevorzugen und politische Vorschläge in einer technischen Sprache als Ausdruck quasi-wissenschaftlicher Erkenntnisse verkaufen. In einem politisierten Umfeld ginge dies nicht mehr; die Kommission und die Mitgliedstaaten müssten alle Reformschritte politisch begründen und verteidigen und könnten sich nicht länger auf die Konsultation der „Stakeholder“ in Brüssel beschränken. Es wird hier nicht ausreichen, dass Präsident Juncker eine „sehr politische“ Kommission verspricht; er wird die Ankündigung in Taten umsetzen müssen, wenn die Inhalte der EU-Rechtsakte zur Migrationspolitik dauerhaft zu salient issues in den innenpolitischen Debatten erstarken.
Ein solches Ergebnis hätte auch Auswirkungen auf die Regelungsinhalte. Aus der vergleichenden politischen Ökonomie wissen wir, dass eine Politisierung der Migrationsgesetzgebung häufig mit restriktiveren Ansätzen einhergeht. Soweit dies nicht der Fall ist, können die westlichen Staaten, wie häufig in den vergangenen fünfzig Jahren, eine vergleichsweise liberale Politik trotz einer skeptischen öffentlichen Meinung durchsetzen. Dies ändert sich freilich regelmäßig, sobald die Migrationspolitik innerstaatlich in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Breite öffentliche Debatten und offene Grenzen vertragen sich selten.
3. Gesetzgebung ist nicht ausreichend
In der Mitteilung, die den jüngsten Vorschlägen vorausging, hatte die Kommission ehrgeizig ein „echtes“ Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) versprochen und damit zugleich eingestanden, dass während der Krise strukturelle Defizite offenbar geworden waren. Es ist dies ein bemerkenswertes Bekenntnis des eigenen Scheiterns, weil auf der EU-Ebene die zweite Harmonisierungsphase beim Ausbruch der Krise gerade erst abgeschlossen war, von der man seinerzeit gesagt hatte, dass sie das GEAS zukunftsfest machen würden, weshalb sich etwa die Ypres-Leitlinien aus dem Jahr 2014 für die kommenden Jahre noch auf die Umsetzung des geltenden Rechts konzentrieren wollten. Davon kann keine Rede mehr sein: die bestehende Gesetzgebung erwies sich als dysfunktional.
Ein Grund für die (Selbst-)Täuschung war nach meiner Überzeugung, dass man in Brüssel den Inhalt des Amtsblatts häufig mit der Wirklichkeit verwechselt – und zwar in der Tradition der herkömmlichen Methode einer „Integration durch Recht“, die gemeinsame Politiken durch gesetzgeberische Vorgaben und Gerichtsurteile realisiert. In der Grenzschutz- und Flüchtlingspolitik reicht dieser gesetzgebungs- und gerichtsfokussierte Ansatz jedoch wegen des operativen Charakters der betroffenen Politikfelder nicht aus (wie ich im erwähnten Aufsatz näher ausführe). Daher wäre der EU-Gesetzgeber durchaus gut beraten, neben der Gesetzgebung vor allem auch den Ausbau von Frontex und EASO voranzutreiben, um eine bessere Rechtsanwendung zu fördern.
Tatsächlich krankt das GEAS keineswegs nur, wie manchmal behauptet wird, an einem Solidaritätsdefizit, das durch die fehlende Umsetzung der Relokationsbeschlüsse und die Ungerechtigkeit des Dublin-Systems verkörpert wird. Zugleich leidet die Asylpolitik unter strukturellen Anwendungsdefiziten in einigen Ländern im Süden und Osten des Kontinents, die kaum über Erfahrung als Zielstaaten von Migrationsbewegungen verfügen und nicht die administrativen Fähigkeiten bzw. den politischen Willen aufbringen, ein funktionsfähiges Asylsystem einzurichten. Dies zeigt ein kurzes Gedankenspiel:
Selbst wenn die EU sich auf eine Quote zur Verteilung aller Asylbewerber auf die Mitgliedstaaten ohne Opt-outs verständigen könnte, so bewirkte ein Verteilungsschlüssel aufgrund von BIP und Bevölkerungsgröße, dass Italien etwas mehr als 14 % oder 280.000 Personen der ungefähr zwei Millionen Asylbewerber unterbringen müsste, die in den letzten zwei Jahren nach Europa kamen, während der griechische Anteil rund 1,9 % oder 38.000 Personen betrüge – nicht sehr viel weniger (für Griechenland) bzw. mehr (für Italien) als sich derzeit tatsächlich in den beiden Staaten aufhalten.
Gewiss ist die fehlende Solidarität ein Hauptproblem des GEAS, vor allem für künftige Neuzugänge über das Mittelmeer, aber das Gedankenspiel zeigt, dass die Anwendung des geltenden Rechts nicht weniger wichtig ist. Nicht nur die Dublin-Verordnung wird seit Jahren in der Praxis kaum angewandt, auch die Richtlinien über Asylverfahren und die menschenwürdige Unterbringung von Asylbewerbern werden nicht überall beachtet. Wenn die EU verhindern will, dass das GEAS früher oder später auseinanderbricht, wird sie die innerstaatliche Anwendung des supranationalen Rechts fördern müssen – auch weil sonst das Europarecht aufhört, den zwischenstaatlichen Zusammenhalt auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens anzuleiten.
4. Leere Versprechungen? Verordnungen anstelle von Richtlinien
Was schlägt die Kommission konkret vor, um diese Defizite anzugehen? Neben dem (richtigen) Fokus auf die Agenturen möchte die Kommission die bestehende Aufnahme-Richtlinie überarbeiten und darüber hinaus eine Asylverfahrens-Verordnung sowie eine Anerkennungs-Verordnung verabschieden, die die bestehenden Richtlinien zu diesen Themen ersetzt. Im Kleingedruckten enthalten diese Vorschläge viele wichtige (und kontroverse) Änderungen, aber dennoch ist die allgemeine Marschlinie überraschend unambitioniert: Sehr viele Einzelbestimmungen sollen überhaupt nicht geändert werden, teils auch dann nicht, wenn es um zentrale Problemfelder geht.
Ein prominentes Beispiel hierfür sind die Aufnahmebedingungen, die den bedauerlich schlechten Zustand der griechischen Hotspots kennzeichnen. Art. 16 Abs. 2 der geänderten Aufnahme-Richtlinie ist insoweit identisch mit dem bisherigen Art. 17 Abs. 2 Richtlinie 2013/33/EU, wo es schlicht heißt, dass ein „angemessener Lebensstandard“ zu gewährleisten sei, der in Art. 2 Nr. 7 nur etwas konkreter definiert wird als Unterkunft, Verpflegung und Kleidung sowie, als einzige Neuerung des Kommissionvorschlags, „andere wichtige Bedarfsartikel…, zum Beispiel Toilettenartikel.“ Gewiss überzeugt das in der Sache, weil Hygiene-Artikel notwendig sind, allein der Gesetzgebungsvorschlag gibt nicht die notwendige Klarheit, die ein „echtes“ EU-Asylsystem braucht.
Dennoch fällt es schwer, hier Abhilfe vorzusehen, die über die gleichfalls vorgeschlagene (unverbindliche) Standardsetzung durch die künftige Asylagentur hinausreicht. Die Kommission befindet sich in einem regulatorischen Dilemma, weil sie schwerlich einen bestimmten Geldbetrag vorschreiben kann, wenn dies dazu führte, dass Asylbewerber in Bulgarien mehr erhielten als eigene Staatsangehörige. Im Asylsystem spiegeln sich insofern die teils erheblichen Unterschiede zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten. Ein Level Playing Field ist nicht erreichbar, zumal selbst vergleichbare Unterbringungsstandards nichts an der divergenten sozio-ökonomischen Attraktivität der Mitgliedstaaten änderten, die ein wichtiger Grund für die verbreitete Sekundärmigration ist, wenn sich Migranten entgegen den Bestimmungen des EU-Rechts faktisch in einen Mitgliedstaaten begeben, der für ihre Asylanträge nicht zuständig ist.
In der öffentlichen Präsentation ihrer Vorschläge geht die Kommission über all diese Probleme hinweg – und betont stattdessen, dass die Annahme von Verordnungen anstelle von Richtlinien eine entscheidende Verbesserung sei. Viel wichtiger als die rechtliche Form ist jedoch der Inhalt, weil auch eine Verordnung inhaltliche Klarheit nur insoweit schafft, als eine konkrete Norm hinreichend bestimmt und unbedingt ist. Hinzu kommt, dass die unmittelbare Anwendbarkeit von Verordnungen nichts daran ändert, dass die nationalen Behörden diese innerstaatlich anwenden müssen, sodass fehlende Kapazitäten vor Ort immer auch die effektive Geltung beeinträchtigen, wie das Schicksal der diversen Dublin-Verordnungen zeigt, die allesamt unmittelbar anwendbar waren, in der Rechtspraxis der Mitgliedstaaten aber nicht immer ankamen.
5. Sichere Drittstaaten: von der Reaktion zur Gestaltung
Die Debatte über die Kommissionsvorschläge betrifft nicht nur die interne Funktionsweise des GEAS, sondern berühren zugleich die externe Zusammenarbeit mit Drittstaaten, weil etwa die Asyl-Verfahrens-Verordnung an den EU-Außengrenzen gilt, wenn in den Hotspots Asylentscheide getroffen werden (während die sonstige Kooperation mit Drittstaaten, die keine Auswirkungen auf die Durchführung von Asylverfahren auf dem EU-Territorium besitzt, von den genannten Rechtsakten nicht umfasst ist). Eine zentrale Schnittstelle von internen Asylverfahren und externer Kooperation sind die Bestimmungen über sichere Drittstaaten und erste Asylstaaten. Auch insoweit enthält sich die Kommission zukunftsgewandter Überlegungen und konzentriert sich stattdessen auf die reaktive Aufbereitung der Erfahrungen mit der EU-Türkei-Erklärung.
So wird in Art. 45 der vorgeschlagenen Verfahrens-Verordnung klargestellt, dass ein sicherer Drittstaat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ohne territorialen Vorbehalt ratifiziert haben muss, solange er nur alle Konventionsbestimmungen in der Praxis auf rückgestellte Flüchtlinge anwendet (Art. 45 Abs. 1 Buchst. e). Zudem besteht die Kommission auf einer persönlichen Verbindung zwischen einem Asylbewerber und dem Land, in das er oder sie zurückgeführt werden soll, wobei die Verbindung etwa durch einen früheren Transit hergestellt werden kann, solange sich der Drittstaat in der geographischen Nähe des ursprünglichen Herkunftslandes befindet (Art. 45 Abs. 3 Buchst. a). Beide Änderungen reagieren auf Erfahrungen mit der EU-Türkei-Erklärung.
Nun macht die Kommission nur Vorschläge, über deren Inhalt sodann Rat und Parlament als EU-Gesetzgeber beraten und beschließen. Hier wird es auch um die Frage gehen, ob die Asyl-Verfahrens-Verordnung nur auf vergangene Krisen reagieren soll oder zugleich künftige Anwendungsfälle mitdenken möchte, die im Fall der zentralen Mittelmeerroute anders aussehen dürften als bei der EU-Türkei-Erklärung. Deren Logik etwa möchte Angela Merkel langfristig auf die Staaten Nordafrikas übertragen, indem man die Lebenssituation Asylsuchender dort verbessert, um sodann nach dem Modell der Türkei-Kooperation legale Zugangswege von schutzbedürftigen Personen nach Europa zu schaffen.
Wer auf dieser Grundlage darüber nachdenkt, inwieweit die laufende Gesetzgebung solche künftigen Konstellationen vorbereiten kann, muss sich bewusst machen, dass die derzeitige Richtlinie 2013/32/EU ebenso wie der Kommissionsvorschlag für eine künftige Verfahrens-Verordnung in verschiedenen Punkten über die Mindestvorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention, der EMRK und der Grundrechtecharta hinausgeht. So ist etwa das Kriterium einer persönlichen Verbindung zum Aufnahmestaat vom Völkerrecht nicht vorgegeben, weil es die tatsächliche Aufnahmebereitschaft der betroffenen Drittstaaten sichern soll (ausführlich hierzu die Studie von Steven Legomsky über den anderweitigen Schutz sowie eine Reaktion von UNHCR auf einen Vorschlag der britischen Regierung). So könnte der EU-Gesetzgeber etwa vorsehen, dass Flüchtlinge, die von der libyschen Küste aufbrechen, in einen anderen sicheren Drittstaat zurückgeführt werden, solange dort das Mindestschutzniveau gesichert ist, während man diesen Staat nach dem Modell der EU-Türkei-Erklärung unterstützt und zugleich ein Resettlement von schutzbedürftigen Personen im größeren Umfang gestattet.
Zudem muss ein sicherer Drittstaat nach der etablierten Terminologie des Flüchtlingsvölkerrecht einen „wirksamen Schutz“ (effective protection) bereitstellen, der neben dem Refoulementverbot auch eine ganze Reihe sonstiger Garantien, nicht aber – wie die aktuelle Fassung der Richtlinie 2013/32/EU – notwendig alle sozioökonomischen Garantien der Flüchtlingskonvention umfassen muss (hier in Nr. 14 unter Verweis auf die Ergebnisse eines Expert Roundtable). Auch insoweit könnte der Gesetzgeber sich am Völkerrecht orientieren anstatt dem Kommissionsvorschlag zu folgen. Insbesondere ein Arbeitsmarktzugang ist völkerrechtlich nicht zwingend.
Schließlich muss die notwendige Sicherheit nach Flüchtlingsvölkerrecht nicht notwendig im gesamten Land gewährleistet sein, wie dies in der aktuellen Fassung der Verfahrens-Richtlinie und dem Kommissionsvorschlag vorgesehen ist. Die Sicherheit in bestimmten Regionen reicht aus – und zwar bei der sogenannten inländischen Fluchtalternative im Herkunftsstaat ebenso wie für sichere Drittstaaten. Es ist dies der gesetzgeberische Hintergrund für den Vorschlag des Innenministers, über „sichere Orte“ in Drittstaaten nachzudenken, wobei die notwendige Sicherheit vor Ort gegebenenfalls mit aktiver EU-Unterstützung hergestellt werden könnte.
Dem „Geist“ der Flüchtlingskonvention muss ein solches Vorgehen nicht widersprechen, solange die EU bei der Umsetzung eines neuen Politikansatzes die eigene Verantwortung nicht nach dem Modell der australischen Asylpolitik oder der ungarischen Grenzzäune auf Drittstaaten abwälzen will, sondern ehrlich für kooperative Lösungen streitet. Hierzu gehört die Aufnahme von schutzbedürftigen Personen in der EU ebenso wie die aktive Unterstützung von ärmeren Drittstaaten, die häufig sehr viel mehr Flüchtlinge aufnehmen als Europa. Das Flüchtlingsvölkerrecht und die EMRK können all diese Fragen aber nicht beantworten. Dafür sind die EU-Organe zuständig.
Diskutiert wird, trotz allem, besonders ein “vertieftes Mehr” an Europa. Kritik kann sein: wichtigere Dinge scheinen in Europa voller wenig lösbarer Dilemma. Bei Fragen wie, was in ganz Europa auf Restauranttischen für Ölfäßchen stehen dürfen o.ä., scheint dagegen alles einfach.
Vielen Dank für die interessanten Artikel!
Drängt der Zwiespalt zwischen rechtlichen Supranationalismus und begrenzter politischer Integration nicht auf, die besten Zuständigkeiten in der Asylrechtsproblematik nach dem Subsidiaritätsprinzip finden zu müssen?
Die Frage nach Regelungen mit Drittstaaten involviert ja verhandlungstechnisch immer die Kompetenzen nationaler Außenpolitik (Der Türkei-Deal ist hiervon keine Ausnahme sondern ein Beleg, weil eine Gegenleistung der EU –neue Beitrittskapitel– für die Türkei nur einen Wert hat, wenn am Ende auch alle EU-Nationalstaaten einem Türkei-Beitritt zustimmen.).
Freizügigkeit gilt für anerkannte Asylbewerber schon innerhalb der Nationalstaaten nicht, also haben sie auch keine Freizügigkeit im Binnenmarkt, die einer EU-Zuständigkeit Sinn geben würde. Hinsichtlich Wirtschafts- und Investitionsförderung konkurrieren sie mit den gewöhnlichen Einwohnern eines EU-Landes, auch dies begründet keine EU-Zuständigkeit.
Es gibt also nicht notwendig die Situation, daß die EU involviert sein muß, damit nicht ein EU-Land Asyl oder Einreise zulasten eines anderen EU-Landes gewährt. Sachgerecht wäre die Situation, daß ein Asylbewerber genau bei seinem bevorzugten Zielland einen Asylantrag stellt um die dort vorgesehenen Leistungen zu bekommen oder nach den Regeln dieses Landes –welche freilich den humanitären und rechtsstaatlichen Grundsätzen folgen müssen– abgewiesen zu werden. In Ihrem CML Rev.-Artikel schreiben Sie selber, das Asylbewerber nicht Schutz in “Europa”, sondern in Deutschland, Österreich, Schweden suchen, gerade weil am Ende die nationalen Regeln für die Asylbewerber gelten, egal was sich die EU juristisch denkt.
Die Problematik beginnt dort, wo die Asylbewerber zum Rechtsverkehr mit einem EU-Land gezwungen werden, von dem sie nichts wollen und von denen dieses Land ebenfalls nichts will. Dieser Zwang entsteht durch die Richtlinie 2001/51/EG, die Direktflüge in die bevorzugten Zielländer unterbindet und –was rechtsstaatlich sicher nicht unproblematisch ist– im Zusammenhang mit dem Zwang, den Asylantrag nur im Inland stellen zu können, eine Zugangsbarriere zu einem “ausgelobten” Grundrecht errichtet. Gäbe es diese Richtlinie nicht, kämen die Flüchtlinge direkt in ihrem bevorzugten Zielland an und die Dublin-Regeln würden hervorragend funktionieren.
Hier gibt es nämlich einen natürlichen Zusammenhang, den man mit einem Marktgleichgewicht vergleichen kann: Die Nachfrage nach Asyl orientiert sich insbesondere am Angebot der möglichen Zielländer hinsichtlich Lebensstandard und Liberalität des Asylverfahrens. Asylsuchende werden ihr Zielland also in einem Gleichgewicht zwischen Überfüllung, Lebensstandard und Liberalität des Asylverfahrens wählen. Hier kann man vielleicht sinnvoll Ihre Beobachtung einsetzen, daß die EU ehrer auf Schaffung eines Marktes ausgelegt ist als auf politische Integration: Die ordnungspolitische Vorgabe wäre, daß Asylbewerber einen Asylantrag stellen können müssen und den Mindestschutz des humanitären Völkerrechts beanspruchen können, damit kein Wettlauf zur Abschaffung des Asylrechts stattfindet. Die weitere Ausgestaltung wäre den EU-Staaten überlassen. Es würde sich dann ein Gleichgewicht zwischen den Präferenzen der Asylbewerber, den Lebensmöglichkeiten und –in der nationalen Politik– den Asylverfahren der Zielländer ergeben.
Womöglich würden dann die meisten EU-Länder Asylanträge von sich aus nur noch an Auslandsbotschaften entgegennehmen wollen. Damit entfiele das Problem der allfälligen Abschiebungen und der damit verbundenen notwendigen Einigung mit den Rücknahmestaaten. Gleichzeitig würde man Schleppern und ausländischen Regierungen den Anreiz nehmen, Flüchtlingsbewegungen zu provozieren.