28 September 2023

Religiöse Kleidung ohne Religionsfreiheit?

In Frankreich lodert erneut eine heftige Debatte über Verbote religiöser Kleidung. Ausgangspunkt ist ein Erlass des französischen Bildungsministeriums, der das Tragen von Abaya und Qamis an Schulen verbietet. Bei der Abaya handelt es sich um ein langes Überkleid mit weiten Ärmeln, das von muslimischen Frauen über der normalen Kleidung getragen wird. Der in der öffentlichen Debatte weniger beachtete Qamis ist das Pendant für Männer. Besagtes Kleidungsverbot ist am 07.09.2023 vom Conseil d’État, dem höchsten französischen Verwaltungsgericht, für zulässig erklärt worden.

Verbote religiös konnotierter Symbole sind in Frankreich weit weniger ungewöhnlich als hierzulande. Grund dafür ist das französische Modell der laïcité, wonach Staat und Religion strikt zu trennen sind (dazu unten). Der Ministerialerlass zu der Abaya reiht sich in eine Vielzahl von Verboten religiöser Kleidung in allen denkbaren Lebensbereichen ein. In Bildungseinrichtungen flammte der Konflikt erstmals in den 1990er-Jahren auf, als einzelne Schulen versuchten, Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs zu verbieten. Über 100 solcher Verbote wurden damals mit Verweis auf die Religionsfreiheit von französischen Verwaltungsgerichten gekippt. In der Folge untersagte die französische Nationalversammlung im Jahr 2004 pauschal per Gesetz das Tragen religiöser Kleidung im schulischen Kontext. Der EGMR sah darin keinen Verstoß gegen die in Art. 9 EMRK verbürgte Religionsfreiheit und verwies in seiner Begründung maßgeblich auf das in Frankreich geltende Konzept der laïcité.

Staatliche Vorschriften zu religiöser Bekleidung blieben derweil nicht auf den schulischen Bereich beschränkt. 2010 wurde das umstrittene Vollverschleierungsverbot im öffentlichen Raum beschlossen. 2016 erregten kommunale Burkini-Verbote an den Stränden der Côte d’Azur die Gemüter, bevor der Conseil d’État diese im Eilverfahren wieder kassierte. Indessen kippte der Conseil d’État im Jahr 2022 eine Regelung der Stadt Grenoble, die es Musliminnen explizit erlaubte, im städtischen Schwimmbad einen Burkini zu tragen. Inmitten dieses Gewirrs ist weiterhin unklar, ob Mütter bei den Schulausflügen ihrer Kinder ein Kopftuch tragen dürfen.1) Das jüngste Kapitel in der Reihe von Verboten religiöser Kleidung bildet der Beschluss des Nationalen Rats der Rechtsanwaltskammern vom 07.09.2023, der Anwältinnen das Tragen des Kopftuchs erschwert.

Religiös vs. Kulturell

Bei der Abaya und dem in der folgenden Darstellung ausgeklammerten Qamis ist die rechtliche Beurteilung von vorneherein komplexer, da der religiöse Gehalt des Kleidungsstücks umstritten ist. So hörte sich beispielsweise der Fernsehsender France.tv in Saint Denis bei Verkäuferinnen des Kleidungsstücks um und kam zu dem Ergebnis, es handele sich bloß um ein modisches Accessoire. Auch der Conseil français du culte musulman (CFCM), ein islamischer Dachverband in Frankreich, stuft die Abaya nicht als religiöses Kleidungsstück ein. Tatsächlich beruht der Trend zum Tragen der Abaya in Frankreich wohl weniger auf religiösen Vorgaben als vielmehr auf Einflüssen von Social Media, allen voran TikTok-Videos. Dennoch ist zu beobachten, dass die Abaya vornehmlich von Musliminnen getragen wird. Ihren Ursprung findet sie zudem in Staaten, in denen der Islam gesellschaftlich prägend ist. Vor diesem Hintergrund kann der religiöse Charakter der Abaya nicht gänzlich verneint werden. Daher verwundert es nicht, dass auch die mündliche Verhandlung vor dem Conseil d’État um die religiöse Bedeutung der Abaya kreiste. Das Gericht folgte letztlich der Argumentation des Ministeriums, wonach sich eine Abaya-tragende Schülerin sofort als Muslimin zu erkennen gebe, und bejahte somit den religiösen Charakter des Kleidungsstücks.

Das Verbot qua Dienstanweisung

Da, wie bereits erwähnt, seit 2004 ein pauschales gesetzliches Verbot von religiöser Kleidung an Schulen existiert, mag man sich fragen, warum sich das Bildungsministerium hinsichtlich der Abaya überhaupt noch zum Erlass eines (weiteren) Verbots veranlasst sah. Ein genauerer Blick in das Gesetz verleiht Aufschluss, denn die Nationalversammlung hat das Tragen von Zeichen oder Kleidung, durch die Schülerinnen und Schüler ihre religiöse Zugehörigkeit demonstrativ zum Ausdruck bringen, nur abstrakt verboten. Erst ein circulaire des Bildungsministeriums konkretisierte das Verbot auf das muslimische Kopftuch, die jüdische Kippa und große Kreuze. Diese Aufzählung ist derweil nicht abschließend. Denkbar sind auch Fälle, in denen ein Kleidungsstück zwar für sich genommen neutral ist, aber in Kombination mit einem bestimmten Verhalten religiös aufgeladen wird. So entschied der Conseil d’État im Jahr 2007, dass auch das Tragen eines Bandana, eines quadratischen oder dreieckigen Tuchs, im Einzelfall unzulässig sein kann (CE, 5/12/2007, n°295671). Entsprechendes gelte, so das Bildungsministerium im Jahr 2022, für die Abaya, wenn deren Tragen einen religiösen Charakter aufweise. Ob dies der Fall sei, müssten die betreffenden Schulen im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung des Verhaltens der Kinder entscheiden. Kritische Stimmen beklagten in der Folge die weiterhin bestehende Rechtsunsicherheit und mahnten striktere Verbote religiöser Kleidung in Schulen an. Auch Schulleiter forderten eine einheitliche Regelung des Bildungsministeriums.

Pünktlich vor Beginn des neuen Schuljahrs, der in ganz Frankreich auf den gleichen Tag fällt, kam das Bildungsministerium den Rufen nach einer klareren Vorgabe doch noch nach. Regelungstechnisch bediente sich der zuständige Bildungsminister Gabriel Attal einer note de service, einer Dienstanweisung, an sämtliche Schulleiter des Landes. In selbiger wird das Tragen der Abaya allerdings nicht explizit verboten. Stattdessen wird schlicht auf Probleme hingewiesen, die in jüngerer Zeit mit dem Kleidungsstück entstandenen sind. Diese werden zum Anlass genommen, um an das generelle Verbot religiöser Bekleidung an Schulen zu erinnern. Zusätzlich erhielten die Schulen noch eine Handlungsanweisung, wie im Falle eines Verstoßes zu verfahren ist. Ferner wandte sich das Bildungsministerium mit einem Brief an alle Eltern schulpflichtiger Kinder, in dem es – nun ausdrücklich – das Verbot des Tragens von Abaya und Qamis an Schulen erklärte.

Am ersten Schultag wurde das Verbot landesweit kontrolliert. In 67 Fällen wurden Schülerinnen, die eine Abaya trugen, nach Hause geschickt. Die Association Action Droits des Musulmans (ADM), die nach eigenen Angaben für Rechte von Muslimen und gegen Diskriminierung kämpft, begehrte nach Veröffentlichung der Dienstanweisung umgehend Eilrechtsschutz. Der Conseil d’État, der für Aufhebungen von ministeriellen Erlassen und Rechtsakten erstinstanzlich zuständig ist, erklärte das Verbot im Eilverfahren binnen weniger Tage für zulässig. Der Beschluss des höchsten Verwaltungsgerichts bestätigt den restriktiven Umgang Frankreichs mit religiöser Kleidung auf bemerkenswerte Art und Weise. Schon die eigenständige Angreifbarkeit des Erlasses war alles andere als selbstverständlich, da der Erlass in erster Linie die Schulleiter betrifft und damit nur verwaltungsinterne Wirkung entfaltet. Grundsätzlich gilt, dass nicht jeder circulaire und nicht jede note de service anfechtbar ist, sondern nur solche, die einen imperativen Charakter aufweisen. Eine note de service, die allein auf die geltende Rechtslage hinweist, ist nach ständiger Rechtsprechung keiner Nachprüfung durch den Conseil d’État zugänglich (CE, 13 octobre 2008, n°312088). Allerdings reichte hier wohl die Handlungsanweisung an die Rektoren, für die Einhaltung des Verbots zu sorgen, als imperatives Element aus. Der Conseil d’État schien sich dabei jedenfalls nicht daran zu stören, dass es schon qua Gesetz ein Verbot religiöser Bekleidung gab.

Das negierte religiöse Element

Das höchste Verwaltungsgericht Frankreichs hatte zu prüfen, ob der Ministerialerlass gegen Grundrechte verstößt. Dabei ging es aber nicht um die sich aus Sicht des deutschen Rechtsanwenders aufdrängende Frage, ob ein Verbot der Abaya an Schulen die Religionsfreiheit von Musliminnen in unverhältnismäßiger Weise beschneidet. Die den Antrag gegen die note de service stellende ADM machte vielmehr eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, des Rechts auf Bildung, sowie eine Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft geltend. Hintergrund dürfte sein, dass das Tragen religiöser Kleidung zwar auch in Frankreich vom Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst ist, Einschränkungen im schulischen Kontext aber bislang stets durch die aus der laïcité abgeleitete Neutralität des Schulsystems gerechtfertigt waren. Wenngleich die Antragstellerin auch auf die liberté de culte, häufig mit Religionsfreiheit übersetzt, Bezug nimmt, moniert sie nur, dass das Ministerium ein Kleidungsstück als religiös klassifiziert, das von Religionsvertreter*innen selbst nicht als religiös eingestuft wird. Folglich macht die ADM (nur) einen Verstoß gegen einen Teilgehalt der kollektiven Religionsfreiheit geltend, nämlich das Recht der Religionsgemeinschaften, selbst über den religiösen Wert eines Kleidungsstücks befinden zu können.

Der Streit um das Abaya-Verbot weist unverkennbare Parallelen zum Fall um Ramlati Ali auf. Ali war zwischen 2018 und 2022 Mitglied des französischen Parlaments und vertrat das zu 98% mit sunnitischen Muslimen bewohnte Übersee-Department Mayotte. Auf einem Foto, das auf dem offiziellen Internetauftritt der Nationalversammlung zu finden war, trug sie ein Kopftuch. Vertreter*innen der politischen Rechten machten schnell einen Verstoß gegen die laïcité geltend, auch wenn zweifelhaft ist, ob Abgeordnete überhaupt eine Neutralitätspflicht trifft. Ali widersprach den Vorwürfen und argumentierte, es handle sich mitnichten um ein religiöses Zeichen, sondern um einen traditionellen Schal aus ihrer Heimatregion Mayotte.

Ob Abaya im Klassenzimmer oder Kopftuch im Parlament – beide Fälle eint, dass der religiöse Gehalt eines Kleidungsstücks negiert und stattdessen sein kultureller Bezug betont wird, obschon dieser – im Gegensatz zur Religionsfreiheit – keinen gesonderten grundrechtlichen Schutz genießt.

Der Einfluss der laïcité

Auf den ersten Blick erscheint die Ausgangslage paradox. Eine muslimische Vereinigung, die bereits ihrem Namen nach erkennbar religiöse Interessen vertritt, bringt gegen das Abaya-Verbot nicht die Religionsfreiheit der Schülerinnen, sondern allein andere Freiheitsrechte in Stellung. Sie argumentiert, das Verbot hindere die betroffenen Schülerinnen daran, in der Schule ihre Verbundenheit mit einer Kultur oder einer geografischen Region auszudrücken. Diese Einschränkung beruhe ferner auf einer ethnischen Diskriminierung, da nur Schülerinnen einer bestimmten Herkunft von dem Verbot betroffen seien. Bei genauerer Betrachtung leuchtet der Versuch der Antragstellerin, die Abaya nicht als religiöses, sondern als kulturelles Kleidungsstück zu charakterisieren, aber ein. Denn eine religiöse Konnotation spräche tatsächlich nicht gegen, sondern für die Rechtmäßigkeit des Verbots.

In den letzten zwei Jahrzehnten mussten religiöse Zeichen und Bekleidungen nahezu immer hinter dem Primat des Neutralitätsgebots zurückstehen. Dieses Gebot ist Teil des in Frankreich seit 1905 vorherrschenden laizistischen Staatsverständnisses. Seit der fünften Republik ist dieses Verständnis nunmehr prominent in Art. 1 der französischen Verfassung verankert. Über die laïcité ist schon viel geschrieben worden, doch bis heute bleibt vieles unklar. Der Begriff, zumindest insoweit besteht Einigkeit, ist vielschichtig und in seiner Bedeutung variabel. So differenziert etwa der Soziologe Jean Baubérot zwischen sieben verschiedenen Laizitätsbegriffen.2) Während es früher vornehmlich um das Verhältnis zwischen Staat und katholischer Kirche ging, begegnet man dem Begriff heutzutage meist in Konflikten mit dem Islam. Historisch gesehen geht es bei der laïcité nicht allein um die Grenzen der Religionsfreiheit, sondern auch um deren Garantie.3) Diese Interpretation findet sich nicht zuletzt im politischen Diskurs wieder. So sprach Emmanuel Macron 2018 von der laïcité als „Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben“. Auch der aktuelle Bildungsminister Gabriel Attal beschrieb die laïcité im Zuge des Abaya-Verbots als Freiheit (liberté) und nicht als Beschränkung (contrainte). Tatsächlich ist diese Interpretation aber wenig überzeugend, wie der aktuelle Fall beispielhaft zeigt. Denn in Bezug auf religiöse Zeichen diente das Prinzip der laïcité bislang stets zur Einschränkung eines vom Schutzbereich der Religionsfreiheit umfassten Verhaltens. Gesetze, die das Tragen religiöser Kleidung limitieren, werden unter Verweis auf die laïcité erlassen. Lehrkräften an Schulen wird für „Angriffe auf die laïcité“ ein Meldeformular an die Hand gegeben. Selbst private Unternehmen haben in der Vergangenheit versucht, das Tragen von Kopftüchern in ihren Betrieben unter Verweis auf die laïcité zu verbieten. Vor diesem Hintergrund darf man in Zweifel ziehen, dass die an den Schultüren abgewiesenen Musliminnen die laïcité tatsächlich als Ausdruck von Freiheit empfanden.

Was bleibt von der Religionsfreiheit?

Die neue Dienstanweisung bestätigt den in Frankreich bereits seit Längerem verfolgten Kurs, religiöse Kleidung möglichst weitgehend aus der Öffentlichkeit zu verbannen. In den Schulen ist dieses Bestreben gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Neu und bemerkenswert ist das jüngste Verbot insofern, als dass ein Ministerium bei einem mehrdeutigen Kleidungsstück nunmehr selbst einzuteilen gedenkt, ob es religiös ist oder nicht. Dass die Religionsfreiheit in diesen Fällen keine große Rolle mehr spielt, ist im Rechtsvergleich auffällig, kann aber in Anbetracht des französischen Leitbilds der weltanschaulichen Neutralität nicht verwundern. Das französische Konzept der laïcité hat in den letzten zwei Jahrzenten bei Musliminnen hauptsächlich für Einschränkungen gesorgt. Doch schon Mitte des letzten Jahrhunderts sprach der französische Staatsrechtler Jean Rivero bei der laïcité von einem Wort, das nach Schießpulver riecht.4) Dass religiöse Gruppierungen es nun nicht einmal mehr wagen, sich auf die Religionsfreiheit zu berufen, ist eine bedenkliche Entwicklung.

References

References
1 Dazu Popp, Religiöse Kleidung im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und laïcité, in: Sydow (Hrsg.), Französisches Verfassungsrecht im 21. Jahrhundert, Tübingen 2022, S. 238 (252 ff.).
2 Baubérot, Les 7 laïcités françaises, Paris 2015.
3 Gaudemet, Revue du droit public 2015, 329.
4 Rivero, La notion juridique de la laïcité, Recueil Dalloz 1949 [Chronik 33], 137: „ce mot sent la poudre; il éveille des résonances passionnelles contradictoires“.

SUGGESTED CITATION  Popp, Christian: Religiöse Kleidung ohne Religionsfreiheit?, VerfBlog, 2023/9/28, https://verfassungsblog.de/religiose-kleidung-ohne-religionsfreiheit/, DOI: 10.17176/20230928-223350-0.

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