Verschleierte Freiheit der Advokatur
Rechtsvergleichende Anmerkungen zum Kopftuchverbot für französische Anwältinnen
Aus deutscher Perspektive ist es immer wieder erstaunlich, wie weitreichend der französische Gesetzgeber oder die Verwaltung als religiös empfundene Verhaltensweisen im Alltag regulieren. Dies betrifft neben der Ernährung in Kindergärten und Schulen vor allem auch die Kleidung von Privatpersonen. Classen hat zu Recht konstatiert, dass derart weitreichende Vorschriften und Debatten aus deutscher Sicht schwer vorstellbar scheinen,1) trotz auch hier bekannter Diskussionen im Arbeits-, Schul- und Beamten- und Richterdienstrecht. Der vorliegende Beitrag rückt eine Entwicklung im französischen anwaltlichen Berufsrecht in den Fokus und ordnet diese vergleichend deutsch-französisch ein: Am 7.9.2023 hat der Conseil national des barreaux (CNB – Nationaler Rat der Rechtsanwaltskammern), beschlossen, dass zur Anwaltsrobe keine sogenannte signes distinctifs, also „differenzierende Abzeichen“, bspw. ein Kopftuch, getragen werden dürfen.2)
Was kann das deutsche (Verfassungs-)Recht zu dieser Frage beitragen?
Derartige Pflichten für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen werfen spezifische verfassungsrechtliche Fragen auf. Die französische Rechtsprechung hat diese bislang nur unzureichend adressiert.3) Ein deutsch-französischer Grundrechtsvergleich kann angesichts dieser Leerstelle die kritischen Punkte eines „Kopftuchverbots“ für Rechtsanwältinnen verdeutlichen.4) Aussagen des deutschen Verfassungsrechts sind für Frankreich in diesem Bereich deshalb interessant, weil beide Rechtsordnungen, trotz mancher Unterschiede, ein vergleichbares Berufsbild des Anwalts fixieren: Er übt als unabhängiger Interessenvertreter und unabhängiges Organ der Rechtspflege einen freien Beruf aus.
Vorgeschichte der neuen Regelung
Der CNB ergänzte das règlement intérieur national – vorbehaltlich der zu erwartenden Genehmigung durch das Justizministerium – dahingehend, dass Anwälte im Rahmen ihrer justiziellen Funktion, so wie es das Gesetz verlangt, le „costume de leur profession“, also die Berufstracht tragen. Und weiter: L’avocat ne porte aucun signe distinctif avec sa robe. Die Entscheidung der anwaltlichen Selbstverwaltung fügt sich nahtlos in das rechtspolitische Klima des Sommers 2023 ein. So hat der Conseil d’État ein schulrechtliches Verbot des Tragens der Abaya, einer Art Überkleid, vorläufig nicht beanstandet. Ebenfalls hat er dem französischen Fußballverband zugebilligt, signes distinctifs zu untersagen, um „tout affrontement ou confrontation“ auf dem Spielfeld zu verhindern.
Die Änderung des anwaltlichen Berufsrechts ist die direkte Folge einer Grundsatzentscheidung der Ersten Zivilkammer der Cour de Cassation. Diese hatte im März 2022 die Klage einer Anwältin und einer Anwaltsschülerin gegen eine lokale Satzungsregel aus Lille letztinstanzlich abgewiesen. Die Cour de Cassation befand ein solches Verbot, signes distinctifs wie ein Kopftuch zu tragen, für vereinbar mit nationalen und europäischen Grundrechten. Das Verbot sei zum Schutz der anwaltlichen Unabhängigkeit und der Prozessgrundrechte der Mandanten gerechtfertigt.
Unabhängigkeit vom Staat oder von den Religionsgemeinschaften?
Anwaltliche Unabhängigkeit ist in Deutschland und Frankreich – wie die richterliche Unabhängigkeit – nicht ein bloßes Gebot an den Staat, bestimmte Handlungen zu unterlassen. Über diese traditionelle Perspektive auf anwaltliche Unabhängigkeit, die in Deutschland oft mit der tradierten, auf Rudolf [v.] Gneist zurückgehenden und vom BVerfG aufgegriffenen Formel der „Freien Advokatur“ gleichgesetzt wird, verlangt das Berufsrecht vom Anwalt auch Unabhängigkeit gegenüber dem Mandanten und Dritten. Dieser Befund ist an sich unbestritten; regelmäßig problematisch sind aber die genauen Folgen dieses Gebots. Wenn die Cour de Cassation das Verbot des Tragens religiöser Zeichen als durch die Unabhängigkeit geboten hält, verlangt sie unausgesprochen eine weltanschauliche und politische Unabhängigkeit des Anwalts und auch weitergehend eine positive Identifikation des Anwalts mit der religiösen Neutralität als Prinzip der französischen Verfassungsordnung (vgl. Art. 1 FrzVerf. 1958). Ob das französische Recht von Anwälten ein Bekenntnis zur Verfassungsordnung verlangen darf, ist bislang noch nicht entschieden worden.
Das deutsche BVerfG hatte 1983 ein solches Gebot zurückgewiesen, weil es zwangsläufig mit der Staatsferne der Anwaltschaft kollidieren muss. Es gab der Verfassungsbeschwerde eines Assessors statt, der sich in einer verfassungsfeindlichen, freilich nicht verbotenen kommunistischen Partei engagierte und sich gegen die Versagung seiner Zulassung wegen „Unwürdigkeit“ (§ 7 Nr. 5 BRAO) wandte (BVerfGE 63, 266). Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, dass der Rechtsanwalt einen „freien Beruf ausübt, der staatliche Kontrolle und Bevormundung prinzipiell ausschließt“; vormalige Aussagen, der Rechtsanwalt übe einen staatlich gebundenen Beruf aus, der ihm eine amtsähnliche Stellung zuweise (BVerfGE 38, 105 (119)), können aus guten Gründen als überholt gelten. So judizierte das BVerfG, dass die „Herauslösung des Anwaltsberufs aus beamtenähnlichen Bindungen und seine Anerkennung als ein vom Staat unabhängiger freier Beruf […] als ein wesentliches Element des Bemühens um rechtsstaatliche Begrenzung der staatlichen Macht angesehen werden [kann], das der Verfassungsgeber vorgefunden und in seinen Willen aufgenommen hat“. Anwaltliches Berufsrecht ist Ausgestaltung und Ermöglichung berufsfreiheitlicher Entfaltung; Art. 33 Abs. 5 GG und die hierdurch verbürgte politische Treuepflicht, jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung Gewähr zu bieten, findet keine Anwendung. Simon hat in seinem Sondervotum 1983 festhalten wollen, dass der Anwalt „keine weitergehende politische Loyalität gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung [schulde] als jeder Staatsbürger“.
Die Staatsferne der Anwaltschaft hat in Frankreich eine sehr weit zurückreichende Tradition; sie ist bis heute identitätsprägend für den Stand, der sich oft in Opposition zu Staat und Kirche befand und als liberale politische Kraft agierte. Gleichwohl ist der Konflikt zwischen der Staatsunabhängigkeit und einem religiösen und politischen Neutralitätsgebot bislang nicht problematisiert worden. Dabei entspricht es der langjährigen Rechtsprechung der französischen Verwaltungsgerichte, dass religiöse Neutralitätspflichten nur Mitglieder des öffentlichen Dienstes treffen und nie den Nutzer (usager) des service public. Besonderheiten gelten im schulischen Kontext. Der Anwalt ist anders als der Richter weder agent noch fonctionnaire. Als auxiliaire de justice wirkt er nur punktuell an der staatlichen Aufgabenerfüllung im Rahmen des service public de la justice mit. Diesen etablierten Unterschied zwischen Beamten und freiberuflich tätigen Anwälten überspielt die Änderung des anwaltlichen Berufsrechts nunmehr.
Funktion der Robe im Verfahren
Ein zentraler Unterschied zwischen dem deutschen und französischen Recht scheint in der verfassungsrechtlichen Funktion der Anwaltsrobe zu liegen. Denn die Cour de Cassation hat das Kopftuchverbot damit gerechtfertigt, dass dieses notwendig sei, um die Gleichheit der Parteien und die Verfahrensgrundrechte zu schützen. Nur die Robe als „Uniform“ sichere die Gleichheit der Parteien. Es ist interessant, dass das BVerfG im sog. „Robenstreit“ der Robe eine gänzlich andere Funktion zugewiesen hat. Sie diene dem „Interesse der Allgemeinheit daran, daß Gerichtsverhandlungen in guter Ordnung und angemessener Form durchgeführt werden können.“ Sie fördere die „Übersichtlichkeit“ und hebe den Rechtsanwalt hervor, worin ein „zumindest mittelbarer Nutzen für die Rechts- und Wahrheitsfindung im Prozeß“ begründet liegt (BVerfGE 28, 21 (31 f.)). Zusätzlich mag man darin, dass der Anwalt eine Robe trägt, eine Respektbekundung für das Anliegen seines Mandanten sehen.5)
Dass die Robe, wie die Cour de Cassation meint, konstitutiv für die Wahrung eines grundrechtskonformen Gerichtsverfahrens ist, erscheint unplausibel, jedenfalls zu weitreichend. Auch wenn man, wie die Cour de Cassation, einen Bezug zwischen Mandantengrundrecht und Robenpflicht bejaht, dürfte ein „Kopftuchverbot“ unangemessen sein. Denn bereits der Richter ist an diese Grundrechte unmittelbar gebunden und muss sie im Verfahren sicherstellen, und zwar natürlich unabhängig von religiösen oder weltanschaulichen Bekundungen der Prozessvertreter. Stattdessen konstruiert die Cour de Cassation eine intensive mittelbare Drittwirkung der Prozessgrundrechte im Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant. Das Institut der Horizontalwirkung der Grundrechte ist auch in Frankreich grundsätzlich anerkannt, allerdings mit weniger festen dogmatischen Kontouren. Im Verordnungs- und Satzungsrecht wird zwar angedeutet, dass Anwälte an das Grundrechts auf ein faires Verfahren ihrer Mandanten gebunden sind. Allerdings überlagert diese Bindung keinesfalls die Grundrechtsbindung des Richters, sondern muss inhaltlich hinter dieser zurückbleiben.
Freie Anwaltswahl
Im Übrigen kann man der Cour de Cassation und auch der Selbstverwaltung vorwerfen, dass sie das Recht auf anwaltlichen Beistand, das auch die freie Anwaltswahl umfasst, in unverhältnismäßiger Weise beschränken. Zwar gilt das Verbot nicht für jede anwaltliche Tätigkeit, sondern nur für jene die in Robe ausgeübt wird, so dass jedenfalls die beratende Tätigkeit hiervon ausgenommen ist. Dies mindert die Schwere des Eingriffs jedoch nicht, denn die Regelung zwingt einen Mandanten, der ein Anliegen hat, das in ein Gerichtsverfahren münden könnte, schon im Vorfeld einen Anwalt zu wählen, der vor Gericht kein religiöses oder politisches signe tragen will.
Rolle der Selbstverwaltung
Die Thematik verdeutlicht zuletzt auch den unterschiedlichen Blick des (Verfassungs-)Rechts auf Institutionen der berufsständischen Selbstverwaltung in Deutschland und Frankreich. Für Deutschland hat das BVerfG in seinen berühmten „Bastille-Beschlüssen“ vom 14.7.1987 judiziert, dass deren rechtsetzender Tätigkeit die Gefahr innewohnt, dass sich ein „Übergewicht von Verbandsinteressen“ durchsetzt und damit ein „verengtes Standesdenken“ begünstigt wird, dass den berufsfreiheitlichen Grundrechtsschutz „zum Nachteil der Berufsanfänger und Außenseiter“ verkürzt (BVerfGE 76, 171 (185)). Die Rechtsetzung der Satzungsversammlung wird deshalb heute konsequent und angesichts von Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG („aufgrund eines Gesetzes“) selbstverständlich durch das Parlamentsgesetz determiniert. Die französische Selbstverwaltung scheint in ihrer Rechtssetzung deutlich weniger strengen verfassungsrechtlichen Maßstäben unterworfen zu sein. Der allgemeine Regelungsvorbehalt für die Bedingungen der Grundrechtsausübung aus Art. 34 FrzVerf. 1958 hat, anders als für die Normsetzung durch die Exekutive, für das Satzungsrecht der freien und reglementierten Berufe kaum Bedeutung erfahren. So hat die Cour de Cassation in ihrer Entscheidung lediglich festgestellt, dass mit der Berufstracht die sachliche Zuständigkeit der anwaltlichen Selbstverwaltung eröffnet sei und das Gesetz keine konträre Regelung enthalte.6) Anders als in Deutschland erlaubt das Gericht der anwaltlichen Selbstverwaltung also ohne spezifische Ermächtigungsgrundlage die Grundrechte ihrer Mitglieder zu begrenzen. Dies hat vor allem historische Gründe. Der Ordre, wie die Rechtsanwaltskammer genannt wird, galt und gilt seit jeher als Schutzgarant gegenüber dem Staat und nicht als Gefährder der anwaltlichen Freiheit. Die institutionelle Unabhängigkeit wird als Voraussetzung für individuelle Unabhängigkeit verstanden. Eine solche Position unterscheidet sich deutlich von der des BVerfG und des anwaltsrechtlichen Schrifttums in Deutschland. Die Funktion, die in Deutschland die Berufsfreiheit als Individualgrundrecht für den einzelnen Berufsträger hat, wird in Frankreich durch den institutionellen Schutz realisiert. Wohl deshalb werden strukturelle Gefährdungen individueller Grundrechtsausübung durch die berufsständische Selbstverwaltung nur selten7) als Problem benannt. Dass ein kritischer Blick der Gerichte hier aber angezeigt wäre, wird durch verschiedene Äußerungen von Standesvertretern nahegelegt, die mit dem Kopftuchbann die „Einheit des Standes“ sichern oder die Gefahr eines „barreau féminin musulman“ abwenden wollten.
Schluss
Laizität im französischen Recht umfasst zuvörderst eine staatliche Neutralitätspflicht; der Staat darf sich, insoweit im Gleichlauf mit dem deutschen Recht, mit keiner Religion identifizieren. Sie wird zudem auch als eine Garantie der Religionsfreiheit verstanden (vgl. auch Art. 10 DDHC). Das französische Grundrechtsverständnis ist jedoch im Vergleich zum deutschen objektiver orientiert und richtet sich weniger am Individuum und dessen Entscheidungen aus: „Gruppenbildungen“ innerhalb der Gesellschaft, die mit Religiosität einhergehen, werden als unerwünscht bekämpft – um den Preis individuellen Grundrechtsschutzes.8) Die Änderung des anwaltlichen Berufsrechts zeigt, dass dies auch innerhalb eines „Standes“ wie der Anwaltschaft gilt.
Der Beitrag führt Gedanken fort, die der Verfasser in seiner in Passau und Toulouse entstandenen Dissertation/thèse „Anwaltliche Berufsausübung im Dienste des Rechtsstaats. Eine grundrechtsdogmatische deutsch-französische Studie“, Tübingen 2023, S. 236 ff., S. 281 ff. (Open-Access) entwickelt hat. Für Anregungen dankt der Verfasser seinen Doktoreltern Prof. Dr. Aurore Gaillet (Université Toulouse Capitole) und Prof. Dr. Kai v. Lewinski (Universität Passau).
References
↑1 | Classen, Laizität und Religionsfreiheit in Frankreich, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 62 (2017), S. 111 (114). |
---|---|
↑2 | Eine Ausnahme besteht für das Abzeichen der Ehrenlegion. |
↑3 | Allgemeine Kritik am fehlenden Grundrechtsschutz für Rechtsanwälte Carrère, Le droit constitutionnel de l’avocat, Revue française de droit constitutionnel 2019, supplément électronique, S. 19 ff. |
↑4 | Auf die Unzulässigkeit eines „Kopftuchverbots“ in Deutschland weist v. Lewinski, Berufsrecht der Rechtsanwälte, Patentanwälte und Steuerberater, 5. Aufl. 2021, Kap. 7, Rn. 67 m |