25 September 2025

Reparationsdarlehen für den Wiederaufbau

Zurückbehaltung Russischer Vermögenswerte lege artis

Die Debatte um die Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine hat wieder Fahrt aufgenommen: Am Samstag beriet Brüssel über ein Reparationsdarlehen für die Ukraine, das aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten – vor allem russischem Zentralbankguthaben – finanziert werden soll. Es gibt drei mögliche Ansätze zum Einsatz immobilisierter Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine. Neben dem Reparationsdarlehen stehen der EU zwei weitere Optionen offen: Sie kann sich auf das Einfrieren – oder, technisch präziser, die Beschlagnahme – beschränken, oder eine Konfiskation der Vermögenswerte in Betracht ziehen. Diese beiden Möglichkeiten stoßen jedoch an völkerrechtliche bzw. praktische Grenzen. Demgegenüber erweist sich das Reparationsdarlehen als tragfähiges juristisches Manöver, das zudem der EU ermöglicht, der Ukraine dringend benötigte Mittel bereitzustellen.

Vorläufige Gegenmaßnahmen

Mit dem Angriff auf die Ukraine und dessen Fortführung hat Russland zweifellos das Völkerrecht verletzt – zum einen das in Art. 2 Abs. 4 UN-Charta verankerte Gewaltverbot (das Ob des Angriffskrieges), zum anderen das humanitäre Völkerrecht (das Wie der Kriegsführung), zumal Russland zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.

Als Reaktion auf diese gravierenden Verstöße haben Drittstaaten sowie internationale Organisationen wie die EU umfangreiche Sanktionen gegen Russland verhängt, um politischen Druck auszuüben. Dabei handelt es sich teils um Handlungen, die isoliert betrachtet völkerrechtswidrig wären (früher als Repressalien bezeichnet). Das betrifft zum Beispiel Handelsbeschränkungen. Diese Handlungen können jedoch als Gegenmaßnahmen gerechtfertigt sein, also als Maßnahmen, die darauf abzielen, Beugezwang gegenüber dem rechtsbrechenden Staat auszuüben, sofern das Völkerrecht auch Drittstaaten ein solches Vorgehen erlaubt. [vgl. insoweit Art. 22 der Draft articles on Responsibility of States (DARS) sowie – für die EU als internationale Organisation – in Art. 22 der Draft articles on the responsibility of international organizations (DARIO), die Gewohnheitsrecht deklaratorisch kodifizieren].

Die gewohnheitsrechtliche Zulässigkeit drittstaatlicher Gegenmaßnahmen (third-party countermeasures) ist nicht unumstritten (vgl. hierzu Art. 48 Abs. 1 lit. b DARS bzw. Art. 49 Abs. 2 DARIO sowie Art. 54 DARS und Art. 57 DARIO, die das Spannungsfeld um diese Frage verdeutlichen). Völkerrechtler*innen nehmen sie jedoch mittlerweile überwiegend an, wenn Verstöße gegen sogenannte erga omnes-Normen in Rede stehen. Das sind völkerrechtliche Verpflichtungen, die aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft bestehen (owed to the international community as a whole). Hierunter fallen auch das Gewaltverbot sowie wesentliche Teile des humanitären Völkerrechts. Schließlich stützt ein a fortiori-Schluss die Zulässigkeit drittstaatlicher Gegenmaßnahmen: Gewährt Art. 51 UN-Charta dritten Staaten ein Recht auf Nothilfe im Rahmen kollektiver Selbstverteidigung, so müssen erst recht Maßnahmen unterhalb der Schwelle der Gewaltanwendung erlaubt sein.

Als Zwangsmittel dürfen Gegenmaßnahmen aber nur vorläufig wirken. Sie sollen den rechtsbrechenden Staat dazu bringen, den Völkerrechtsverstoß einzustellen. Das Einfrieren russischer Vermögenswerte lässt sich also noch als Gegenmaßnahme einordnen, da der Prozess grundsätzlich reversibel ist und die Vermögenswerte jederzeit freigegeben werden können. Überschreitet die Maßnahme jedoch die Schwelle zur Irreversibilität, ist die Gegenmaßnahme nicht mehr gerechtfertigt. Entscheidend ist daher die Gratwanderung zwischen Revisibilität und Irreversibilität – denn an ihr hängt letztlich, ob eine Maßnahme noch als zulässige, weil reversible Gegenmaßnahme gerechtfertigt werden kann oder in den Bereich einer völkerrechtswidrigen, weil irreversiblen Handlung fällt. Je nach Handlungsoption – Beschlagnahme, Konfiskation oder Reparationsdarlehen – fällt diese Gratwanderung unterschiedlich aus.

Konfiskation russischer Vermögenswerte

Die Konfiskation von Vermögenswerten scheitert gerade an dieser Hürde der Revisibilität. Konfiskation bedeutet die zwangsweise Einziehung oder – in der Regel entschädigungslose – Enteignung von Vermögenswerten. Während das Einfrieren  Vermögenswerte also nur vorübergehend einbehält, zieht die Konfiskation sie irreversibel ein. Die Konfiskation lässt sich damit nicht als Gegenmaßnahme rechtfertigen.

Nichtsdestotrotz haben die USA, Kanada und Estland Gesetze erlassen, die ihre Exekutive zur Konfiskation russischer Vermögenswerte ermächtigen, um auf Völkerrechtsverstöße zu reagieren. Das heikle an diesem Vorgehen ist, dass es die völkerrechtlichen Regeln der Staatenimmunität verletzen könnte. Danach ist es Staaten verwehrt, über einen anderen Staat im Erkenntnisverfahren zu richten und insbesondere gegen diesen aus Urteilen zu vollstrecken (immunity from adjudication and enforcement). Ob sich diese Grundsätze auch auf den Zugriff auf Vermögenswerte durch Legislativakte bzw. Exekutivhandeln übertragen lassen, ist unter Völkerrechtler*innen wiederum nicht unumstritten. Dafür spricht, dass es faktisch keinen Unterschied macht, ob eine Konfiskation gerichtlich oder qua Verwaltungsakt ergeht; dagegen, dass es an einer entsprechenden Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung wohl bislang fehlt. In jedem Fall kann aber eine Enteignung auch von Staatsvermögen grundsätzlich nicht entschädigungslos erfolgen. Die EU hat sich deshalb bislang auf die Abschöpfung außerordentlicher Zinserträge der immobilisierten Vermögenswerte beschränkt und diese über die Europäische Friedensfazilität und die Ukraine-Fazilität an die Ukraine weitergeleitet. Eine Konfiskation ist das noch nicht.

Beschlagnahme als Druckmittel

Anders sieht die rechtliche Bewertung hinsichtlich der Beschlagnahme aus, die sich auf die vorübergehende Sicherstellung von Vermögenswerten beschränkt. Das Eigentum verbleibt beim russischen Staat. Die Beschlagnahme genügt dem Revisibilitätskriterium, solange keine unmittelbare Überführung der Vermögenswerte an die Ukraine bzw. unmittelbare Verwertung erfolgt. Anstatt dessen müssten Drittstaaten bzw. die EU die Vermögenswerte als Druckmittel gegen Russland verwenden, um Russland zur Begleichung der ukrainischen Reparationsforderungen zu bewegen.

Dabei stellt sich die Frage, ob die Beschlagnahme auch zum Zweck der Sicherung von Reparationsansprüchen der Ukraine erfolgen kann, oder nur, um Russland dazu zu bewegen, seine primären Völkerrechtsverstöße einzustellen. Dass Gegenmaßnahmen auch als Zwangsmittel für die Durchsetzung von Sekundär-, also mitunter Reparationsansprüchen, in Betracht kommen, deuten schließlich Art. 48 Abs. 2 lit. b) DARS bzw. Art. 49 Abs. 4 lit. b) DARIO an. Ob die Pflicht zur Zahlung von Reparationsansprüchen ihrerseits eine erga-omnes-Pflicht darstellt, ist ebenfalls nicht unumstritten (in diese Richtung aber IGH, Legal Consequences of the Separation of the Chagos Archipelago from Mauritius in 1965, Advisory Opinion, 2019 I.C.J. 95, 139). Wenn man aber bedenkt, dass die Reparationspflicht unmittelbar aus dem primären Völkerrechtsverstoß resultiert und der Sicherung der Restitution dient, ist die Ausweitung auf die Sekundärebene nur konsequent.

Problematisch ist dennoch, dass durch die bloße Beschlagnahme russischer Vermögenswerte keine Liquiditätszufuhr an die Ukraine garantiert wird. Die EU wäre vielmehr gezwungen, den unwahrscheinlichen Fall abzuwarten, dass Russland von sich aus rechtskonform die Reparationsforderungen begleicht. Das ist umso problematischer, als die Ukraine ein praktisches Interesse daran haben wird, die Reparationszahlungen noch für die eigene Verteidigung einzusetzen. Die als Gegenmaßnahme rechtfertigbare Beschlagnahme ist damit de facto eher ein für die Ukraine wirtschaftlich wertloses Zurückbehaltungsrecht in der dritten Hand der EU, während die Reparationsforderung gegen Russland angesichts dessen Zahlungsunwilligkeit ebenfalls praktisch wertlos bleibt.

Davon abgesehen wird die Einsetzung einer Reparation Commission nach dem abzuwartenden Kriegsende, die über die Reparationsansprüche befinden soll, jedenfalls durch die UN mit hoher Wahrscheinlichkeit daran scheitern, dass Russland die Einsetzung jederzeit mit seinem Veto im Sicherheitsrat blockieren kann.

Reparationsdarlehen als juristisches Manöver

An dieser Stelle dockt der Vorschlag vom Reparationsdarlehen an, dessen „Erfinder“ unter anderem der britische Journalist Hugo Dixon ist. Er schlägt vor, dass die EU der Ukraine ein Darlehen aus eigenen Mitteln gewährt, ohne dass die eingefrorenen russischen Vermögenswerte bemüht werden. Die Ukraine stellt dafür ihre Reparationsansprüche gegen Russland als Sicherheitsleistung (collateral) für das Darlehen bereit. Die Rückzahlung des Darlehens erfolgt dabei ausschließlich aus dieser gestellten Sicherheit, bleibt also streng an die Reparationsansprüche gebunden (limited recourse obligation). Das heißt, die Ukraine haftet anders als bei einem normalen Darlehen nicht mit ihrem sonstigen Vermögen. Das birgt auch den Vorteil, dass das Rating der Ukraine am Kreditmarkt vom Reparationsdarlehen nicht weiter tangiert wird.

Für das Darlehen sollen auch keine laufenden Zinsen anfallen, sondern Zinsen nach Ende des Krieges und Feststellung der endgültigen Reparationshöhe auf die Endsumme aufgeschlagen werden.

Im unwahrscheinlichen Fall, dass Russland die Reparationsansprüche begleicht, verwendet die Ukraine diese Mittel dann zur Tilgung des Darlehens der EU. Die EU würde daraufhin die eingefrorenen russischen Vermögenswerte in entsprechenden Beträgen freigeben, weil es ihr insofern gelungen wäre, Beugezwang auszuüben.

Im wahrscheinlicheren Fall, dass Russland sich weigert, seiner Zahlungspflicht nachzukommen, übernimmt die EU als Darlehensgeberin die Reparationsansprüche der Ukraine im Wege der Zwangsvollstreckung und verrechnet die eingefrorenen russischen Vermögenswerte mit diesen russischen Reparationsschulden. Dieser Set-Off ist keine zusätzliche Sanktion gegen Russland, sondern Kalkül eines vernünftigen Darlehensgebers, der sein (gutes) Recht wahrnimmt, in eine vom Darlehensnehmer zur Verfügung gestellte Sicherheit zu vollstrecken und insoweit mit der ihm zur Verfügung gestellten Forderung aufzurechnen.

Die Konstruktion ähnelt damit in gewisser Weise dem Factoring, bei dem der Darlehensnehmer bzw. Kreditor (die Ukraine) seine Forderungen gegen dritte Debitoren (Russland) dem Darlehensgeber bzw. dem Factor (der EU) abtritt. Das Delkrederisiko, also das Risiko der Uneinbringlichkeit der Reparationsforderungen gegen Russland, trägt wegen der Struktur des Reparationsdarlehens als limited recourse obligation grundsätzlich die EU (sodass das Reparationsdarlehen zivilrechtlich gesprochen als Forderungskauf zu qualifizieren wäre). Angesichts dessen, dass die EU aber über die eingefrorenen russischen Vermögenswerte verfügt, bleibt sie über den Set-Off Mechanismus, also die Möglichkeit zur Aufrechnung, abgesichert.

In rechtlicher Hinsicht manövriert das Reparationsdarlehen damit zum einen am Problem der Irreversibilität von Konfiskationen vorbei, indem es lediglich an die – als Gegenmaßnahme gerechtfertigte – Beschlagnahme anknüpft und durch die in Aussicht gestellte Freigabe der eingefrorenen Vermögenswerte auch der Funktion von Gegenmaßnahmen als Beugezwangsmittel gerecht bleibt. Zum anderen sichert in praktischer Hinsicht der Cash Transfer über die Darlehenskonstruktion der Ukraine sofortige Finanzmittel, ohne dass die Ukraine auf die unsichere Durchsetzung ihrer noch festzustellenden Reparationsansprüche warten muss oder russische Vermögenswerte unmittelbar verschoben werden. Dadurch, dass die Liquiditätszufuhr an die Ukraine über das Darlehen aus einer anderen Vermögensmasse stammt und der Set-Off durch die EU als Aufrechnung nur zur Erfüllung gegenseitiger Verpflichtungen (der EU zur Freigabe der russischen Vermögenswerte; von Russland zur Begleichung der abgetretenen Reparationsforderung) durch Saldierung führt, stellt sich das Reparationsdarlehen auch nicht als de facto-Konfiskation dar.

Politisch verschafft sich die EU schließlich durch die Stellung als „aufrechnende“ Darlehensgeberin jedenfalls auch ein Stück mehr bargaining power in den Friedensverhandlungen.

Umsetzung auf Ebene der EU

Der Vorschlag der EU unterscheidet sich vom Dixon „Plan“ darin, dass die eingefrorenen Vermögenswerte nicht nur als politischer Hebel fungieren, sondern direkt in den Darlehensmechanismus eingebunden sind. Die Vermögenswerte sollen nämlich die Vergabe von Zero Coupon Bonds als Sicherheit decken, also Anleihen, die ohne laufende Zinszahlungen ausgegeben werden. Der durch den Verkauf dieser Anleihen generierte Gewinn wird dann an die Ukraine als Reparationsdarlehen weitergereicht, wobei die Darlehensrückzahlung – wie im Dixon Plan – aus den Reparationsansprüchen der Ukraine erfolgen soll.

Die Anleihekäufer tragen dabei in der Theorie kein Risiko, da die Anleihen – selbst wenn Russland keine Reparationen zahlt – durch die immobilisierten Vermögenswerte abgesichert bleiben. Diese Modifikation birgt den Vorteil, dass die EU als Darlehensgeberin nicht selbst in „Vorleistung“ gehen muss. Schließlich handelt es sich auch bei dieser Konstruktion um keine Konfiskation, da die Vermögenswerte lediglich als Sicherheit für die Zero Coupon Bonds dienen, während Russland formal Eigentümerin bleibt.

Die EU schafft also mit dem Reparationsdarlehen nicht nur eine rechtlich tragfähige Lösung, sondern liefert der Ukraine dringend benötigte Mittel, ohne die eingefrorenen russischen Vermögenswerte endgültig zu enteignen und damit die entscheidende Schwelle zur Irreversibilität zu überschreiten.


SUGGESTED CITATION  Hubbes, Maxima: Reparationsdarlehen für den Wiederaufbau: Zurückbehaltung Russischer Vermögenswerte lege artis, VerfBlog, 2025/9/25, https://verfassungsblog.de/reparationsdarlehen-ukraine-eu/.

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