Rettungsschirm für Grundrechte: Anmerkungen von DANIEL THYM
Die Parallelen zwischen den Notoperationen zur Euro-Rettung und einer EuGH-Grundrechtsintervention in Ungarn sind bemerkenswert: In beiden Fällen zeigen sich Konstruktionsschwächen der EU-Verträge, und die Befürworter von „mehr Europa“ fordern eine Stärkung der überstaatlichen Aufsichts- und Kontrollrechte. Diese Rückkehr zur Integrationsmethode der 1970er-Jahre ist nicht frei von Risiken.
Defizite der EU-Verträge liegen auf der Hand. Bei der Schaffung des Euro wurde auf eine Wirtschaftspolitik verzichtet und auch die EU-Grundrechte sind von einer Asymmetrie geprägt. Es kann nicht sein, dass die EU in den Beitrittskandidaten (etwa Serbien) und Drittstaaten (etwa Syrien) die Menschenrechte einfordert, gegenüber dem Mitgliedstaat Ungarn aber nur auf Umwegen aktiv wird, indem man etwa die fehlende Unabhängigkeit des ungarischen Datenschutzbeauftragten rügt.
Angesichts dieser Konstruktionsschwächen liegt es durchaus nahe, die Lösung beim Gerichtshof zu suchen. Schließlich sind Gerichte dafür da, auch aus unstimmigen Anordnungen eine kohärente und praxistaugliche Rechtsordnung zu entwickeln. Warum also sollte der EuGH nicht zur Durchsetzung der gesamteuropäischen Wertordnung aktiv werden? Dagegen sprechen meines Erachtens drei Erwägungen: Praktikabilität, die Sorge um die Rechtsgemeinschaft und die Hoffnung auf die Politik.
Keine praxistaugliche Hilfestellung für Ungarn
Seinen Ausgangspunkt nimmt der Vorschlag von Armin von Bogdandy und seinem Team (jedenfalls in der Langfassung) in einem konkreten Problem: politischen Fehlentwicklungen in Ungarn sollen die Gerichte durch eine Verknüpfung von Unionsbürgerschaft und Grundrechten begegnen. Hierdurch entsteht der Eindruck, dass der Vorschlag eine praxistaugliche Hilfestellung für Ungarn wäre. Dem ist jedoch nicht so. Speziell die Anwendung der umgekehrten Solange-Formel ist nicht praktikabel. Warum? Der Rechtsmaßstab des „Wesensgehalts der Grundrechte“ bleibt vage.
Klar ist nur, dass der Wesensgehalt ein Mindestschutzniveau betrifft. Zur Illustration wird eine „andauernde Weigerung, ein rechtskräftiges Urteil des EGMR in einem wesensgehaltrelevanten Bereich umzusetzen,“ oder eine „bewusste, rücksichtslose oder offensichtliche Missachtung des grundrechtlichen Wesensgehalts durch oberste Staatsorgane“ genannt. Was das konkret heißt, wird nicht gesagt – und zwar auf gutem Grund. Rechtssicherheit gäbe es nur, wenn man anstelle eines unbestimmten Mindestschutzniveaus auf die etablierte Rechtsprechung zu den „regulären“ Grundrechten zurückgreifen könnte. Eben dies will der Vorschlag jedoch nicht, weil die Grenzziehungen des Artikels 51 GRCh ausdrücklich gewahrt werden sollen.
Das Ruiz Zambrano-Urteil des EuGH zeigt, welche Schwierigkeiten die Anwendung derart abstrakter Rechtsmaßstäbe bietet. Bewusst vage heißt es dort, dass der „tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte“ (substance of the rights / l’essentiel des droits) aus der Unionsbürgerschaft nicht angetastet werden dürfe (dass von Bogdandy und sein Team stattdessen von „Wesensgehalt / essence“ sprechen, unterstreicht, wie unklar der anzuwendende Rechtsmaßstab offenbar ist). Was hierunter konkret fällt, weiß die Große Kammer des EuGH selbst nicht. Im Folgeurteil Dereci zu fünf unterschiedlichen Sachverhalten einer österreichischen Vorlage blieb der EuGH bewusst unscharf: Vermutlich sei der Kernbestand nicht berührt, ganz ausschließen könne man dies jedoch nicht; daher solle das nationale Gericht nochmals prüfen und selbst entscheiden.
Schnelle Abhilfe wird der EuGH mithin nicht liefern. Ohnehin kann die Kernbestandsdoktrin nur ein subsidiäres Sicherheitsnetz sein. Dies fordert nicht zuletzt die prozessuale Rücksicht gegenüber Selbstkorrekturmechanismen, die das BVerfG vom EuGH in seiner Solange-Rechtsprechung vollkommen zu Recht einfordert. Bevor Luxemburg eingreift, müssen die nationalen Gerichte und der EGMR zur Abhilfe angerufen werden. Hierauf sollten wir unsere Kräfte konzentrieren: Straßburg stärken und es erst gar nicht dazu kommen lassen, dass EGMR-Urteile dauerhaft missachtet werden.
Belastungsgrenzen der supranationalen Rechtsgemeinschaft
Die meisten Innovationen des EuGH finden eine Erklärung in der Sorge um die supranationale Rechtsgemeinschaft. Dies gilt für die unmittelbare Anwendung und die Staatshaftung ebenso wie für ungeschriebene EU-Menschenrechte, die den Vorrang des EU-Rechts sicherten. Auch in der Gegenwart bleibt die Rechtsgemeinschaft gefährdet. In der Öffentlichkeit hält sich (zu Unrecht) die Überzeugung, dass das EU-Recht bei der Euro-Rettung systematisch gebrochen wird – und erst gestern, am 15. Februar 2012, brandmarkte im tschechischen Brünn erstmals ein Verfassungsgericht ein EuGH-Urteil als inakzeptablen Ultra-vires-Akt, dem innerstaatlich die Gefolgschaft zu verweigern sei.
Wohlgemerkt: Ich behaupte nicht, dass der Vorschlag von Armin von Bogdandy und seinem Team ein Ultra-vires-Akt sei. Dazu ist er viel zu intelligent durchdacht. In einer dogmatisch schlauen und argumentativ überzeugenden Art und Weise werden alle zentralen Gegenargumente berücksichtigt (freilich um den Preis, dass der Rechtsmaßstab vage bleibt). Man kann den Vorschlag sehr gut verteidigen. Es ist jedoch eine andere Frage, ob eine weitere richterliche Innovation die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Art. 19 EUV) zum gegenwärtigen Zeitpunkt fördert.
Meines Erachtens überwiegen die Risiken. Die supranationale Rechtsgemeinschaft lebt nicht zuletzt von der Folgebereitschaft innerstaatlicher Gerichte. Diese muss beständig gelebt und bekräftigt werden. Wenn der EuGH dieses Ziel erreichen will, muss seine Rechtsprechung als legitim wahrgenommen werden. Hierzu gehört eine nachvollziehbare Begründung ebenso wie vorhersehbare Rechtsfolgen. Beides hatte er in Ruiz Zambrano vermissen lassen – und dogmatische Winkelzüge bei der Grundrechtsaufsicht dürften einer vergleichbaren Kritik begegnen. Dies gefährdete das Glaubwürdigkeitspotenzial des EuGH und mit ihm die supranationale Rechtsgemeinschaft. Dies ist ein hoher Preis, zumal der EuGH die Aufsicht über Ungarn sehr gut dem EGMR überantworten kann.
Hoffen auf die Politik
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Euro-Krise und der Ungarn-Debatte: Letztere kann durch die Politik im Alleingang gelöst werden. Wenn die ungarische Regierung einlenkt, besteht das Problem nicht mehr. Man benötigt keine privaten Geldgeber, die den Kredithunger der Euro-Staaten befriedigen. Hier sollte die Lösung ansetzen – im langfristigen Eigeninteresse der Europäischen Union. Eine nachhaltige Strategie für „mehr Europa“ ist nicht die Stärkung supranationaler Aufsicht, sondern der Aufbau Europas von unten durch die Unionsbürger, nationale Gerichte und politische Parteien.
Im Europa der Zukunft kann der Zweck nicht mehr alle Mittel rechtfertigen. Es mag sein, dass die Kürzung der griechischen Mindestlöhne und Renten im wohlverstandenen Eigeninteresse der griechischen Bürger liegt, weil der alternative Staatsbankrott viel höhere Reallohnverluste mit sich brächte. Auch muss Ungarn das Grundrecht der Medienfreiheit kompromisslos achten (und nicht nur dessen Wesensgehalt!). Bei Rettungsschirmen für den Euro und die Grundrechte geht es jedoch nicht nur um das Ergebnis. Wenn wir Europa demokratisch verfassen wollen, haben der Weg und das Verfahren einen Eigenwert.
Aus diesem Grund überzeugt mich die Rückkehr zur Integrationsmethode der 1970er-Jahre nicht. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vorschlag auf eine Integration durch Recht und Gerichte setzt (ähnlich wie der Euro-Fiskalpakt auf die Kommission). Das reicht nicht. Es geht nicht länger um die gerichtliche Anordnung, dass die Niederlande den Zollsatz auf Formaldehyd senken (so der Sachverhalt in van Gend en Loos). Wer Renten kürzt und einer demokratisch mit klarer Mehrheit gewählten Regierung die Umsetzung ihres Wahlprogramms verbietet, sollte nicht allein auf supranationale Aufsicht setzen. Die europäische Republik kann nicht vom EuGH verordnet werden.
Daniel Thym ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz.
[…] The most pressing question which arises upon reading the proposal is, in agreement with Daniel Thym: ‘Whom will this help?’ Arguably, citizens have little use in the shield form the […]
[…] share the misgivings of a number of commentators, including Peter Lindseth, Daniel Thym and Anna Katharina Mangold about trying to find a purely legal remedy to an essentially political […]