Rumours made in Germany: Wie das Auswärtige Amt das Menschenrecht der Auswanderungsfreiheit kriminalisiert
Die Piroge treibt auf hellblauen Wellen. Ihr Ziel wird durch ein Schild angezeigt: „UE“, Union européenne, die Europäische Union also. An Bord zwei Insassen: Ein Mann dunkler Hautfarbe, der seinen erschrockenen Blick auf den zweiten Mann an den Rudern richtet: dieser verkörpert den Tod. Abgedruckt auf der Rückseite eines Magazins, das sich an die afrikanische Diaspora in Deutschland richtet („LoNam – das Afrika-Magazin“), ist die Botschaft der Annonce eindeutig: Wer sich als afrikanischer Bootsflüchtling in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa auf das Geschäft von Schleppern einlässt, riskiert sein Leben. Der Hinweis auf die Finanzierung der Anzeige findet sich rechts unten: „supported by Auswärtiges Amt“, nebst Bundesadler und den Farben der deutschen Flagge.
Wäre es hiermit getan, könnte jenseits von Geschmacksfragen kaum etwas gegen diese Annonce einzuwenden sein. Tatsächlich handelt es sich bei dem Mittelmeer weiterhin um die tödlichste Seeroute der Welt – in diesem Jahr verloren bereits über 1.700 Flüchtlinge und MigrantInnen hier ihr Leben. Allein im September starb oder verschwand eine von acht Personen, die das Mittelmeergebiet nach Europa zu überqueren versuchten. Verantwortlich zeichnen hierfür nicht nur die Reduzierung von Such- und Rettungskapazitäten aufseiten der EU, sondern auch profitorientierte Schlepper.
Die Annonce lässt es allerdings nicht bei dieser Botschaft bewenden, sondern erklärt in großen Buchstaben „SAY NO TO ILLEGAL EMIGRATION“ sowie auf Französisch – die Zielgruppe des Magazins stammt vorwiegend aus dem zweisprachigen Kamerun – „CAMPAGNE DES SENSIBILISATION CONTRE L’EMIGRATION CLANDESTINE“. Nein zur „illegalen Auswanderung“? Eine Kampagne gegen „heimliche Auswanderung“? Und das im Auftrag der Bundesregierung?
Das Menschenrecht der Ausreisefreiheit vor dem Hintergrund der deutschen Teilungsgeschichte
Anders als das Recht, in einen beliebigen Staat einzureisen oder einzuwandern, stellt das Recht zur Ausreise und Auswanderung ein allgemein anerkanntes Menschenrecht dar. Es wird insbesondere in Art. 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 proklamiert, in dem es heißt: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen (…).“ Auch für Deutschland rechtsverbindlich und nahezu wortgleich statuieren diese Rechte auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) von 1966 (Art. 12 Abs. 2: „Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen.“) sowie das 1968 in Kraft getretene Vierte Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Art. 2 Nr. 4: „Jeder Person steht es frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen.“). Bezogen auf Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner berühmten Elfes-Entscheidung von 1957 die Ausreisefreiheit als Bestandteil des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG identifiziert (BVerfGE 6, 32).
Eine Beschränkung dieses Grund- und Menschenrechts kommt nach allgemeiner Auffassung nur in Ausnahmefällen in Betracht, etwa wenn eine Person sich durch ihre Ausreise der (legitimen) Strafverfolgung entziehen will. Eine systematische Verletzung der Ausreisefreiheit war jedoch bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 Kennzeichen der Länder des sog. Ostblocks. In der DDR war die nicht genehmigte Ausreise nicht nur unter dem Begriff der „Republikflucht“ oder später des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ kriminalisiert (vgl. § 213 des DDR-Strafgesetzbuchs, der ab 1979 eine Freiheitsstrafe von bis zu acht Jahren vorsah), sondern aufgrund des an die DDR-Grenzsoldaten ergangenen Schießbefehls, der insgesamt 327 Todesopfer forderte, auch lebensgefährlich. Vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen der innerdeutschen Teilung wäre von der deutschen Bundesregierung eine besondere Sensibilität und gesteigerte politische Verantwortung für die Wahrung der Ausreisefreiheit zu erwarten. Die Finanzierung einer Kampagne zur Desinformation einer ausländischen Bevölkerung über dieses Menschenrecht und damit die Beeinträchtigung der freien Ausreise wiegt daher umso schwerer.
Systematische Abschreckung
Handelt es sich bei der Kriminalisierung des Menschenrechts also nur um ein Versehen in der Wortwahl? Man könnte auf die Idee kommen, dass die Ersteller der Annonce eigentlich vor einer illegalen Einreise warnen wollten. Doch im Gespräch betont Robert Alain Lipothy, der gemeinsam mit Hervé Tchemeleu für die Anzeige verantwortlich zeichnet, dass es ihnen gerade um eine Abschreckung vor der Auswanderung, also dem Verlassen des Heimatlands gehe, explizit nicht um die Einwanderung („immigration“) – Letzteres zu verhindern sei Problem der Europäer. Lipothy, selbst Heimkehrer aus Europa, ist Präsident der in Kamerun ansässigen Association des Rapatriés et de Lutte Contre l’Émigration Clandestine du Cameroun (ARECC), also der Organisation der Rückkehrer und zum Kampf gegen die heimliche Auswanderung aus Kamerun, welche die menschenrechtswidrige Abschreckungspolitik bereits in ihrem Namen trägt. In Partnerschaft mit dem in Berlin ansässigen Afrika Medien Zentrum e.V., der von Tchemeleu, zugleich Herausgeber und Chefredakteur des LoNam-Magazins, geführt wird, hat ARECC Mitte September 2018 im Kamerunischen Yaoundé das auf sechs Monate angelegte und von der deutschen Regierung finanzierte Projekt „Look I am back“ vorgestellt, mit der in erster Linie Jugendliche von einer „illegalen Ausreise“ abgehalten werden sollen. Als Teil dieser Kampagne findet die eingangs beschriebene Karikatur mit ihrer menschenrechtswidrigen Aussage damit nicht nur in der afrikanischen Diaspora in Deutschland Verbreitung, sondern auch in Kamerun selbst.
Das Beispiel gibt einen Einblick in die Strukturen der neuen Abschreckungspolitik, welche die Bundesregierung unter dem Schlagwort der „Auslandskommunikation zu Flucht und Migration“ unter Federführung des Auswärtigen Amts seit dem Jahr 2016, in welchem die Ausgaben für diesen Bereich verdoppelt wurden (BT-Drs. 19/1117, S. 3), forciert. Dabei bedient sich die Regierung gezielt sog. Influencer oder „Multiplikatoren“ aus der afrikanischen Diaspora. Vonseiten der Regierung heißt es dazu auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE: „Eine strukturierte Zusammenarbeit mit Multiplikatoren im Bezug zur Auslandskommunikation zu Flucht und Migration erfolgt aktuell mit Personen mit afrikanischem Migrationshintergrund in Deutschland“ (BT-Drs. 19/1117, S. 5).
Desinformation unter dem Siegel der Aufklärung
Neben der Zusammenarbeit mit externen Partnern bildet – im deplatzierten Wirtschaftsjargon formuliert – das „Kernprodukt“ der Auslandskommunikation zu Flucht und Migration seit Herbst 2017 die (fast schon zynisch betitelte) Webseite „Rumours about Germany – facts for migrants“ (kritisch dazu schon Nerges Azizi und Dana Schmalz). Die Bundesregierung versuche „mit Hilfe faktenbasierter Auslandskommunikation zu verhindern, dass sich Menschen in ohnehin schwieriger Lage mit verklärten Vorstellungen und falschen Erwartungen auf den Weg machen“ – Gerüchten, Fehlinformationen sowie dem falschen Informationsangebot der Schleuser sollen hiermit die „nötigen Fakten“ entgegengesetzt werden (BT-Drs. 19/1117, S. 1-3). Mittlerweile liegen verschiedene Sprachfassungen der Seite vor. Neben einer englischen und französischen Version existieren auch Übersetzungen in das Arabische, in das im Iran bzw. Afghanistan gesprochene Farsi/Dari, das in Pakistan und Indien gesprochene Urdu sowie das in Äthiopien und Somalia gesprochene Tigrinisch. Innerhalb der ersten vier Monate der Freischaltung der Webseite sollen etwa 240.000 Besuche verzeichnet worden sein (BT-Drs. 19/1117, S. 14).
Während der Aufklärungsanspruch selbst – insbesondere insoweit mit der Seite auch auf legale Alternativen zu riskanten Überfahrten auf Schlepperbooten informiert werden soll – richtig und begrüßenswert ist, enttäuscht die Realisierung auf ganzer Linie. Die Seite strotzt nur so von falschen und irreführenden Darstellungen und dürfte damit in kürzester Zeit jeden Anschein objektiver Information zerstreuen. Ein Beispiel: Auf die Frage „Will the German government give you money to live?“ erscheint zunächst ein großformatiges „No“, bevor im Text darunter zu lesen ist: „In Germany, asylum seekers do receive some aid. But it is based on strict conditions and only granted when all saving and income have been spent. Furthermore, most of the aid is provided in kind, such as shelter, hygiene products or clothes”. Diese Aussagen sind falsch bzw. irreführend. Schließlich erhalten Personen, die einen Asylantrag gestellt haben sehr wohl Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dass der Großteil der Leistungen als Sachleistungen statt als Geldleistungen erbracht werde, erscheint äußerst fragwürdig und kann von der Bundesregierung selbst auf Nachfrage hin nicht belegt werden („Differenzierte Zahlen … liegen derzeit nicht vor“ – BT-Drs. 19/1117, S. 12).
Auch an anderen Stellen werden damit – in diametralem Gegensatz zum erklärten Anspruch – Gerüchte gestreut, statt Fakten präsentiert. Auf die Frage „German universities are open to everyone?“ heißt es in der aktuellen Fassung – Fachkräftemangel hin, Fachkräftemangel her – großformatig „No“. Sodann heißt es erklärend darunter: „Generally, universities in Germany are not open to everyone. While some schools may offer specific programmes of enrollment for migrants, a residence title is necessary for the purpose of attending school.” Gravierender noch war eine frühere Fassung, in der eierklärt wurde: „only people who have been subject to persecution or serious harm can hope to be entitled to protection”. Erst auf eine Kleine Anfrage hin wurde die Passage menschenrechtskonform umformuliert; schließlich muss eine Person nicht bereits verfolgt sein, um eine Flüchtlingsanerkennung zu erhalten, nach der Genfer Flüchtlingskonvention genügt vielmehr die begründete Furcht vor Verfolgung (BT-Drs. 19/1117, S. 10).
Abschreckung als Symptom der Abschottung
Die fragwürdige Kampagne fügt sich ein in die zuletzt intensivierten Anstrengungen der Bundesregierung wie auch der EU, Migrationsbewegungen nach Europa zu unterbinden und dabei sowohl die Schicksale einzelner Betroffener als auch menschenrechtliche Verpflichtungen weitgehend auszublenden. Zu den Symptomen dieser Abschottungspolitik zählt etwa die Externalisierung der Migrationskontrolle durch Kooperationen mit Herkunfts- und Transitstaaten wie z.B. die Zusammenarbeit mit der Libyschen Küstenwache (vgl. zur Übersicht: http://www.migrationundmenschenrechte.de/de/topic/541.remap.html), aber auch die beschriebene neue mediale Strategie. Mit Kampagnen, die auf die Desinformation von MigrantInnen und gegen die Wahrnehmung anerkannter Menschenrechte gerichtet sind, verspielt die Bundesregierung dabei Glaubwürdigkeit. Die Unterscheidbarkeit im Informationsgehalt zu den von (anderen) Eigeninteressen geleiteten Schleppernetzwerken verschwimmt damit. Nachhaltig kann aber nur eine aufrichtige und menschenrechtskonforme Migrationspolitik sein.
Es gibt das Recht Emigration aber kein allg. Recht auf Immigration. Schade, dass das im Artikel nicht thematisiert wird. So fügt sich der Artikel in das Bild der misanthropen, neoliberalen Agitpropaganda, welche nicht die Ursachen von Migration – i.d.R. große Wohlstandgefälle – bekämpfen will, sondern hinter einer scheinbar humanistischen Maske, aus dem Elend der Menschen Profit schlägt. Dies geschieht sowohl auf Kosten der Herkunfts- als auch der Zielländer von Migration. Hannes Hofbauer hat dies in einem Interview mit Telepolis beschrieben.
“Massenwanderungen haben sowohl in den Herkunftsländern als auch den Zielländern der Migranten negative Effekte”
https://www.heise.de/tp/features/Massenwanderungen-haben-sowohl-in-den-Herkunftslaendern-als-auch-den-Ziellaendern-der-Migranten-4205760.html
@Ronald Fein
Schön, dass Sie den Anwurf einer “misanthropen, neoliberalen Agitpropaganda” zurückgezogen haben. Da sag mal noch einer, es gäbe keine Einsichtsfähigkeit im Netz.