25 May 2022

Schlechte Umfragewerte für Chiles Verfassung

Die Kommunikationsschwierigkeiten der Verfassunggebenden Versammlung

Die Verfassunggebende Versammlung in Chile befindet sich mitten im Endspurt, bevor am 5. Juli dieses Jahres der endgültige Vorschlag einer neuen Verfassung veröffentlicht werden muss. Am 17. Mai wurde ein erster Entwurf der neuen Verfassung mit 499 Artikeln vorgestellt, der im nächsten Schritt in die Kommission für die Harmonisierung eingebracht wird. Nun zeigen die letzten Umfragen großer Meinungsforschungsinstitute in Chile seit einigen Wochen eine knappe Mehrheit, die gegen die neue Verfassung stimmen möchte. Dies könnte vor allem an der Kommunikation der Verfassunggebenden Versammlung liegen.

Gescheiterte Kommunikation

Die Verfassunggebende Versammlung hat ein Kommunikationsproblem. Das liegt teilweise an den Medien, aber auch an den Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung selbst. Einige von ihnen erklärten, dass Medienvertreterinnen und Medienvertreter kein Interesse daran hätten, mehr und detaillierter über den Prozess hin zu einer neuen Verfassung zu berichten. Zum Einen scheint der verfassunggebende Prozess mit all den technischen Feinheiten nicht so interessant für die breite Öffentlichkeit zu sein. Das Thema ist sehr komplex und für weite Teile der Bevölkerung, die sich nicht alltäglich mit der Verfassunggebenden Versammlung befassen, schwierig zu überblicken. Einzelne Verfahren sind oft nicht genügend von den Medien, aber auch nicht von der Verfassunggebenden Versammlung erklärt und erreichen außerhalb eines akademischen Kreises und interessierten Teilen der Zivilgesellschaft keine breiten Bevölkerungsschichten. So schauen sich durchschnittlich etwa nur 1.000 Personen die Diskussionen der Verfassunggebenden Versammlung auf YouTube an. Zum Anderen verfolgen die meisten Medien mit der lückenhaften Berichterstattung, den knappen Informationen und der scheinbar sogar gezielten Desinformation zu gewissen Themen aber auch ihre ganz eigene Agenda. Die überwiegende Anzahl der Print- und Onlinemedien und der nationalen Fernsehsender sind in den Händen einiger weniger Privatpersonen in Chile, die kein Interesse an einer neuen Verfassung haben, die die bestehenden Machtverhältnisse ändern könnte.

Inzwischen kämpfen die Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung mit ihrer Kommunikation gegen die Zeit. Innerhalb von wenigen Wochen stimmten sie über 1.275 Normen ab und diskutierten noch einmal mögliche Veränderungen. Dabei blieb nur wenig Zeit, die Bürgerinnen und Bürger über die einzelnen Schritte und Arbeitsweisen zu informieren. Innerhalb der Verfassunggebenden Versammlung ist laut Statut das Sekretariat für Kommunikationen, Information und Transparenz für die Kommunikation zuständig. Seit der Schaffung dieses Postens im Dezember letzten Jahres haben schon drei Personen die Leitung der offiziellen Kommunikation im Sekretariat übernommen. Die Journalistin Lorena Penjean gab bereits nach zwei Monaten die Leitungsposition mit folgenden Worten auf: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es weder den internen Zusammenhalt noch den Willen gibt, eine professionelle Kommunikationsstrategie zu entwickeln, die der Größe der Herausforderung angemessen ist.”

Es lohnt sich auch ein Blick auf das Budget für das Kommunikationssekretariat: Ursprünglich waren 174 Millionen chilenische Pesos für die Kommunikation vorgesehen (ca. 194.880 Euro). Bereits im Dezember 2021 wurde darum gebeten, weitere 800 Millionen chilenische Pesos in den Bereich der Bürgerbeteiligung und Informationsverbreitung zu investieren. Nach den schlechten Umfrageergebnissen zur neuen Verfassung wurden zusätzliche 400 Millionen chilenische Pesos beantragt. Die Aufstockung des Budgets könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Verfassunggebende Versammlung nach den schlechten Umfragewerten im April erkannt hat, wie dringend die Bevölkerung in diesem Bereich aufgeklärt werden muss und nun eine andere Kommunikationsstrategie entwickeln möchte.

Fake News

Für die Kommunikation der Verfassunggebenden Versammlung gibt es nun auch eine weitere Herausforderung: Aufgrund der fehlenden Informationen von Seiten der traditionellen Medien und der nicht vorhandenen Kommunikationsstrategie der Verfassunggebenden Versammlung gibt es viel Raum für Fake News. In einer Umfrage gaben 58 % der Befragten an, dass sie Falschinformationen über die Arbeit des Konvents und/oder die Normen kennen, wobei 48,5 % dieser Gruppe zum ersten Mal über die sozialen Netzwerke mit diesen Falschmeldungen konfrontiert wurden. Da 66,26 % von allen Befragten erklärten, dass sie sich vor allem in den sozialen Medien über die Verfassunggebende Versammlung informieren, ist davon auszugehen, dass Fake News eine breite Öffentlichkeit erreichen. Gerade bei komplexen Themen, die das Leben der gesamten Bevölkerung beeinflussen werden, ist es wichtig, die Bevölkerung umfassend zu informieren und aufzuklären. Die Dringlichkeit dieser Aufgabe zeigte sich bereits mit Beginn der Proteste im Oktober 2019 und der Forderung nach einer neuen Verfassung. Für viele Bürgerinnen und Bürger waren die Workshops, Gespräche und Informationsveranstaltungen damals der erste Kontakt zur alten Verfassung. Nun kommt es offenbar zu einem neuen Wettlauf zwischen Falschinformationen und Bildungs- und Aufklärungsarbeit.

Verlorenes Vertrauen in die Verfassunggebende Versammlung

Eine andere Herausforderung ist das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität der Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung. Die Arbeit der letzten Wochen hat die ideologische, soziale und politische Kluft zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb des Konvents deutlich gemacht. Dadurch ist der Eindruck entstanden, dass es den Mitgliedern eher um den eigenen Nutzen geht als um einen Konsens für eine neue Verfassung. Vor den Wahlen des Konvents wurde von vielen Kandidatinnen und Kandidaten oft betont, dass sie nicht Teil der alten Elite und der politischen Parteien seien. Gerade dieser Diskurs gegen „die da oben“ half einigen Kandidaten und Kandidatinnen zum Wahlerfolg. Während der Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung sind nun mehrere Mitglieder selbst in interne Machtspiele verwickelt worden. Ihre Handlungsweise scheint sich von außen nicht mehr groß von „denen da oben“ zu unterscheiden.

Verzerrte Debatten

Die Kommunikationsprobleme wirken sich natürlich auch auf die inhaltlichen Diskussionen aus. Aktuell werden verschiedene Normen zu sozialen Rechten diskutiert und verabschiedet, die von der Bevölkerung seit den Protesten im Oktober 2019 ausdrücklich gefordert werden. So wurde im Normtext bereits ein Recht auf würdevolles und angemessenes Wohnen, ein Recht auf Bildung und Gesundheit, sowie das Recht auf Betreuung und Versorgung von bedürftigen Menschen verankert. Dabei scheinen progressive Kräfte in der Verfassunggebenden Versammlung so viele Errungenschaften wie möglich im Detail im Normtext festschreiben zu wollen, damit diese Normen anschließend nicht mehr durch einfache Gesetze grundlegend verändert werden können. Ein Beispiel für einen besonders detaillierten Normtext ist die Festschreibung der sexuellen und reproduktiven Rechte in Artikel 16 Absatz 3 der Grundrechtsnormen: „Der Staat garantiert und erkennt das Recht des Einzelnen an, den wissenschaftlichen Fortschritt zu nutzen, um seine sexuellen und reproduktiven Rechte in freier, autonomer und nichtdiskriminierender Weise auszuüben.“ Damit wurde zum einen das Gesetz N° 21.030 aus dem Jahr 2017 verfassungsrechtlich verankert, das in drei Fällen eine Abtreibung ermöglicht. Die Verfassungsnorm geht jedoch weit über das aktuelle Abtreibungsrecht hinaus. In der medialen Debatte wurde die neue Norm allerdings vor allem als ein Abtreibungsrecht und nicht als Selbstbestimmungsrecht präsentiert, was zu einer inhaltlich ungenauen und verzerrten Diskussion und zur Verbreitung von Falschinformationen führte. Diese Falschinformationen könnten nun die Zustimmung zur neuen Verfassung mit einer Zustimmung zu einem weitgehenden Abtreibungsrecht gleichsetzen, was für konservative Kräfte das Argument zur Ablehnung des Verfassungsvorschlags sein wird.

Neben der sexuellen Selbstbestimmung gab es im öffentlichen Diskurs intensive Diskussionen über die mögliche Abschaffung des Senats als bestehende zweite Kammer im politischen Systems Chiles. Es führte zu einem großen Aufschrei in den Medien, dass diese Institution nach 200 Jahren abgeschafft werden sollte. Letztendlich wurde der Senat vom Plenum gar nicht abgeschafft, sondern nur sein Namen zu „Kammer der Regionen“ geändert. Allerdings stand zum Zeitpunkt der Namensänderung noch nicht fest, welche Kompetenzen diese Kammer haben würde, da die vorgeschlagenen Kompetenzen in der Vollversammlung abgelehnt wurden. Ohne Informationen über die zukünftigen Kompetenzen dieser Institution war die Debatte jedoch oberflächlich und verkürzt. In der öffentlichen Wahrnehmung blieb vor allem die „Abschaffung“ des Senats hängen.

Ein weiteres Beispiel für den Einfluss der gescheiterten Kommunikation auf die inhaltlichen Debatten ist der gleich zu Beginn des verfassungsgebenden Prozesses geäußerte Vorschlag, nationale Symbole, wie Hymne, Flagge und Wappen, abzuschaffen. Dieser Vorschlag stieß bei einem Großteil der Bevölkerung auf Ablehnung. Die Medien griffen die Debatte auf, um zu zeigen, dass nun die Grundsäulen des Staates und des Landes im Allgemeinen angegriffen werden würden. Die Verfassunggebende Versammlung tat lange nichts, um darauf zu reagieren. Im April wurde die Diskussion damit beendet, dass die bisherigen Symbole auch in der neuen Verfassung festgeschrieben wurden.

Diese Themen zeigen beispielhaft wie die Medien gewisse Schlagwörter aufgreifen, um damit ihre eigene Agenda zu verfolgen und den verfassunggebenden Prozess zu untergraben und wie die Verfassunggebende Versammlung es nicht schafft, ihr inhaltliches Programm in der breiten Öffentlichkeit sichtbar zu machen und Themen zu setzen. Dadurch bleibt der öffentliche Diskurs über die Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung oberflächlich und fehlgeleitet.

Ausblick

Der Ausgang des Referendums über die neue Verfassung im September ist weiterhin offen. Die Kommunikation ist ein entscheidender Faktor dafür, ob die Verfassung trotz der aktuell negativen Prognosen noch angenommen wird. Die Verfassunggebende Versammlung sollte sich ihrer Bedeutung als Vermittlerin der einzelnen Normen bewusst werden, damit beim Referendum am 4. September gut informiert abgestimmt werden kann.


SUGGESTED CITATION  Bonnecke, Svenja: Schlechte Umfragewerte für Chiles Verfassung: Die Kommunikationsschwierigkeiten der Verfassunggebenden Versammlung, VerfBlog, 2022/5/25, https://verfassungsblog.de/schlechte-umfragewerte-fur-chiles-verfassung/, DOI: 10.17176/20220525-182417-0.

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