Die Wartefrist ist abgelaufen
Der Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs
Letzte Woche schlug ein Bündnis aus 26 Verbänden und Organisationen einen Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vor („Gesetzesentwurf“). Grundlage ist der Abschlussbericht, den die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin im April 2024 vorgelegt hat („Abschlussbericht“). Nach dem Gesetzesentwurf sollen Schwangerschaftsabbrüche bis einschließlich der abgeschlossenen 22. Woche nach der Empfängnis sowie bei medizinischer Indikation bis zum Beginn der Geburt rechtmäßig sein und einkommensunabhängig von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Der Vorschlag orientiert sich an den grund- und menschenrechtlichen Maßstäben und eignet sich deshalb hervorragend als Diskussionsgrundlage für die weitere Reformdebatte, die sich politisch und gesellschaftlich in vollem Gange befindet.
Der komplizierte rechtliche Status quo
Wer gegenwärtig in Deutschland eine ungewollte Schwangerschaft beendet, sieht sich weiterhin mit Vorschriften im Strafgesetzbuch konfrontiert (§§ 218 ff. StGB). Grund sind die detaillierten Vorgaben aus der zweiten Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts („Schwangerschaftsabbruch II“), die der Gesetzgeber vor knapp dreißig Jahren übernahm. Danach muss eine ungewollt schwangere Person, die während den ersten zwölf Wochen einen Abbruch vornehmen lassen möchte, sich vorher beraten lassen und drei Tage mit dem Eingriff warten (§§ 218, 218a Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3, 219 StGB). Der Abbruch ist dann rechtswidrig, aber straffrei.
Weil es sich um eine rechtswidrige Tat handelt, haben Betroffene die Kosten (je nach Methode etwa zwischen 300 und 700 Euro) nach dieser sogenannten Beratungsregelung – also in 96 Prozent der Fälle – grundsätzlich selbst zu tragen. Menschen mit geringem Einkommen haben einen Anspruch auf Kostenübernahme (§ 19 SchKG). Anders sieht die Rechtslage bei den nach wie vor bestehenden gesetzlichen Indikationen für einen Schwangerschaftsabbruch aus, wenn also medizinische Gründe bestehen (§ 218a Abs. 2 StGB) oder die Schwangerschaft auf eine Sexualstraftat zurückgeht (§ 218a Abs. 3 StGB). In diesen (wenigen) Fällen ist der Schwangerschaftsabbruch bereits nach der geltenden Rechtslage rechtmäßig und die Kosten werden einkommensunabhängig von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Der versöhnliche Stand der Reformdebatte
Politisch gibt es derzeit – erstmals im wiedervereinigten Deutschland – ein Momentum für eine außerstrafrechtliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs: Die Justizministerinnen aus Sachsen, Hamburg und Niedersachsen haben auf der Justizministerkonferenz im Juni 2024 einen Beschlussvorschlag zur gesetzgeberischen Umsetzung der Empfehlungen der Kommission unterbreitet, der aber nicht zur Abstimmung kam. Parteipolitisch haben sich die Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie die Gruppe der Linken im Kern alle für eine Entkriminalisierung mit einem Rechtanspruch auf Beratung und einer Kostenübernahme positioniert, wobei Bündnis 90/Die Grünen eine kürzere Frist der Rechtmäßigkeit von 12 Wochen vorschlagen (S. 2). Dagegen wollen FDP und CDU/CSU an der strafrechtlichen Regelung festhalten. Die AfD tritt für eine noch restriktivere Regelung ein: Schwangerschaftsabbrüche sollen nur in Ausnahmefällen zulässig sein, etwa bei kriminologischen oder medizinischen Indikationen (S. 84).
Gesellschaftlich zeigte eine im Frühjahr 2024 durchgeführte repräsentative Umfrage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dass sich eine deutliche Mehrheit der Befragten, nämlich 75 Prozent – und zwar weitestgehend geschlechter- und konfessionsübergreifend, nicht klassisch an der eigenen Wahlabsicht oder der regionalen Herkunft orientiert – für eine Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs in den frühen Wochen außerhalb des Strafgesetzbuchs ausspricht. Die Tatsache, dass sich 26 Verbände und Organisationen mit doch unterschiedlicher Ausrichtung (u.a. Amnesty International Deutschland, Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Juristinnenbund, Evangelische Frauen in Deutschland, pro familia, UN Women Deutschland, Sozialdienst muslimischer Frauen, ver.di, etc.) auf einen gemeinsamen Gesetzesentwurf verständigen konnten, deutet ebenfalls auf einen in der Zivilgesellschaft stark verbreiteten Reformwillen hin.
Der verfassungs- und menschenrechtliche Rahmen
In Einklang mit Schwangerschaftsabbruch II steht die Freiheit, eine Schwangerschaft zu beenden, unter dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der ungewollt Schwangeren (Art. 2. Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), genauer als Teil deren reproduktiven Selbstbestimmung, deren Recht auf Leben auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1) und deren Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2) (Rn. 165; Abschlussbericht, S. 194 f.; dazu Klein, Reproduktive Freiheiten, S. 371 f., 414 f. m.w.N.). Eine sehr restriktive Regulierung der Schwangerschaftsabbruchs berührt unter Umständen auch die Menschenwürde (dazu Gesetzesentwurf, S. 1 m.w.N.). Folgt man dem UN-Frauenrechtsausschuss (Nr. 18), stellt zudem eine Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs sowie die Verweigerung oder Verzögerung eines sicheren Schwangerschaftsabbruchs eine Form geschlechtsspezifischer Gewalt dar, weil von einer solchen Regelung ganz überwiegend Frauen betroffen sind. Die gegenwärtigen strafrechtlichen Regelungen ließen sich daher auch als Verstoß gegen das Gleichberechtigungsgebot (Art. 3 Abs. 2 GG) und Geschlechtsdiskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG) diskutieren (Klein, Reproduktive Freiheiten, S. 415 m.w.N. in Fn. 231).
Zu den Grundrechtspositionen des Embryos bzw. Fetus gibt es einen über Jahrzehnte gewachsenen verfassungsrechtlichen Streitstand (vgl. dazu Abschlussbericht, S. 177-190). Anders als die Senatsmehrheit des Bundesverfassungsgerichts in Schwangerschaftsabbruch II (Rn. 158) greift die Kommission den bereits im Sondervotum von Rupp-von Brünneck und Simon zur Schwangerschaftsabbruch I-Entscheidung aus dem Jahr 1975 angedachten (Rn. 243) und dann im Sondervotum von Mahrenholz und Sommer zu Schwangerschaftsabbruch II (Rn. 394 f.) weiterentwickelten pränatal gestuften bzw. kontinuierlich anwachsenden Lebensschutz auf (Abschlussbericht, S. 192-194 m.w.N.). Die Kommission lässt dann im Ergebnis offen, ob für den Zeitraum zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus entweder ein gleichbleibend geringes Schutzniveau oder ein Konzept des pränatal kontinuierlich anwachsenden Lebensrechts, dessen Schutz sich am jeweiligen Entwicklungsstadium des Embryos/Fetus orientiert, gelten soll (Abschlussbericht, S. 26 f., 199 f.). Den Grundrechten der Schwangeren kommt nach dieser Konzeption im Rahmen der Abwägung mit dem Lebensrecht des nasciturus zu Beginn der Schwangerschaft jedenfalls starkes Gewicht und mit Fortschreiten des Entwicklungsstadiums geringeres Gewicht zu (Abschlussbericht, S. 197-200). Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus, also Überlebensfähigkeit außerhalb des Körpers der Schwangeren, komme dem Lebensrecht des Fetus jedenfalls grundsätzlich Vorrang vor den Grundrechten der Schwangeren zu (S. 208 f.).
Die Kommission hat dann weiter die grund- und menschenrechtliche Notwendigkeit einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs für die frühe Phase der Schwangerschaft (S. 27; 205-207) wissenschaftlich fundiert dargelegt (S. 177-212; 279-281) und dabei die medizinischen (S. 41-51) wie auch die gesellschaftlichen und psychosozialen (S. 83-89) Aspekte berücksichtigt. Für die mittlere Phase der Schwangerschaft, also zwischen dem Ende der frühen Schwangerschaftswochen und der Lebensfähigkeit des Fetus ex utero, stehe dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zu, wie er den grundrechtlichen Güterkonflikt auflöst und bis zu welchem Zeitpunkt er den Schwangerschaftsabbruch als rechtmäßig ansieht (S. 28 f.; 210). Soweit der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase oder danach rechtmäßig stellt, dürfe er – so die Kommission – weiterhin eine Beratungspflicht für die ungewollt Schwangere mit oder ohne Wartezeit vorsehen, müsse das aber nicht tun (S. 25 f.; 29).
Der gesetzgeberische Spielraum, den die Kommission der Politik mit Blick auf die Wartefrist und -pflicht eröffnet, entspricht der deutschen Verfassungsrechtstradition, weicht aber insofern von der völker- und europarechtlichen Kritik an einer strafrechtlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs ab. Denn nach dem UN-Frauenrechtsausschuss (Nr. 39 c) sowie dort Nr. 18), dem UN-Sozialausschuss (Nr. 41, 43), den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (S. 22 ff., 41 f.) sowie nach dem Kommissar für Menschenrechte des Europarates (S. 59, 60) sollten Schwangerschaftsabbrüche vollständig entkriminalisiert und auch die verpflichtende Beratung und die dreitägige Wartefrist vor einem Schwangerschaftsabbruch abgeschafft werden. Daneben sollen die Krankenversicherungen die Kosten aller Schwangerschaftsabbrüche übernehmen. Zudem schlagen der UN-Frauenrechtsausschuss bereits seit dem Jahr 1999 (Nr. 11) und die anderen genannten Menschenrechtsgremien vor, Maßnahmen zu treffen, die medizinisches Personal bei einer Verweigerung des Abbruchs aus Gewissensgründen dazu verpflichtet, für Ersatz zu sorgen.
Nicht nur die völkerrechtliche Entwicklung von reproduktiven Rechten ermöglicht es, den Schwangerschaftsabbruch außerstrafrechtlich neu zu regeln. Es sind auch die Ausführungen aus Schwangerschaftsabbruch II selbst, die eine verfassungsrechtliche Neubewertung notwendig machen. Denn das Bundesverfassungsgericht missachtete in der Entscheidung nicht nur die sozialwissenschaftlich erforschten Interessen- und Konfliktlagen einer ungewollt schwangeren Person (vgl. Abschlussbericht, S. 83-89), sondern leistete mit seinem embryozentrierten und paternalistischen Ansatz und aufgrund der moralischen Hintergrundannahmen einen wesentlichen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Tabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs und Stigmatisierung von ungewollt Schwangereren und der Ärzteschaft (Rn. 250 f., 254 f., 263, 266, 323, 332, siehe auch Klein, Reproduktive Freiheiten, S. 213-223 oder zum Nachhören).
Daneben eröffnet auch die Weiterentwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht die Möglichkeit einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die Äußerungen der UN-Fachausschüsse, die bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind (dazu Klein, S. 366 f.). Wichtige Impulse liefert zudem der internationale Vergleich von unterschiedlichen Regelungsmodellen des Schwangerschaftsabbruchs (Abschlussbericht, S. 289-315).
Der Gesetzesentwurf des Bündnisses
Auf Grundlage des Abschlussberichts der Kommission und (fast) in Einklang dieser menschenrech