26 July 2023

Sozial, aber egal?

Die Sozialwahl 2023 zwischen korporativer Demokratie und symbolischer Partizipation

Waren Sie am 31. Mai 2023 auch so gespannt auf das Ergebnis dieser bundesweiten Wahl, zu der etwa 52 Millionen Menschen stimmberechtigt waren? Nein? Dann liegt das vielleicht daran, dass die Sozialwahl nicht nur „frei, geheim und öffentlich“ ist (§ 45 Abs. 2 S. 1 SGB IV), sondern auch relativ unbekannt und unbeachtet. Zwar gab es in Städten wie Berlin große Werbeplakate mit dem roten Briefwahlumschlag, es gab eine zentrale Webseite („Für eine starke Gemeinschaft. Deine Stimme. Deine Wahl“) sowie verschiedene Aufrufe und Informationskampagnen der einzelnen Sozialversicherungsträger. In der Mitgliederzeitschrift von Deutschlands größter Krankenkasse warb der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte beispielsweise mit der Aussage, angesichts multipler Krisen sei „jede Art, neu mitentscheiden zu können, im Moment hochattraktiv“ (Die Techniker Das Magazin 4/2023, S. 15). Die Mehrzahl der gesetzlich Versicherten sowie Rentnerinnen und Rentner in Deutschland sah das allerdings nicht so. Die Wahlbeteiligung bei den einzelnen Versicherungsträgern reichte von mageren 20,12% bei der DAK bis zu bescheidenen 23,45% bei der TK.

Dabei sind die Kompetenzen der Selbstverwaltungsorgane keineswegs ohne Bedeutung. Die Sozialparlamente beschließen nicht nur „die Satzung und sonstiges autonomes Recht des Versicherungsträgers“ (§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB IV). Sie entscheiden bei den Krankenkassen etwa auch über Grundsatzfragen, die Zusammensetzung und Kontrolle des hauptamtlichen Vorstands, den Haushalt, besondere Leistungen jenseits des für alle Kassen verbindlichen Katalogs sowie die Höhe des jeweiligen Zusatzbeitrags. Außerdem ernennen die Verwaltungsräte die Mitglieder der Widerspruchsausschüsse, die bei Streitfällen zwischen Krankenkasse und Kassenmitglied über Leistungsbewilligungen entscheiden. Bei den Aktivitäten der gewählten ehrenamtlichen Sozialparlamente geht es also ganz konkret auch um den Umfang von Gesundheits- und Sozialleistungen und das Geld der gesetzlich Versicherten – bis hin zu der Frage, wieviel jeden Monat als Krankenkassenbeitrag vom Bruttolohn abgezogen wird.

Das Prinzip der Selbstverwaltung hat im deutschen Gesundheits- und Sozialsystem eine lange Tradition. Die Politik nimmt sich hier zurück, delegiert Aufgaben und gibt einen gesetzlichen Rahmen vor, den insbesondere die Sozialversicherungsträger ausfüllen. Deren Handeln wird traditionell nicht allein von hauptamtlichen Managern nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt, sondern auch von Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Versicherungsmitglieder nach demokratischen Prinzipien mitgestaltet. Aus einer Governance-Perspektive ist die Soziale Selbstverwaltung ein Modell zwischen staatlich-hierarchischer Regulierung einerseits und Steuerung primär durch Marktmechanismen andererseits. Die wichtigsten diesbezüglichen Regelungen finden sich als Verfassung der Sozialversicherungsträger im vierten Abschnitt des SGB IV.

Die Sozialwahl, die alle sechs Jahre als reine Listen- und Verhältniswahl stattfindet, kann man als drittgrößte Wahl in Deutschland nach den Bundestags- und Europawahlen bezeichnen. Die Sozialparlamente setzen sich paritätisch aus Versicherten- und Arbeitgebervertreterinnen und -vertretern zusammen, bei einigen Krankenkassen auch überwiegend aus Delegierten der Versicherten. Karl-Rudolf Korte schreibt: „Sozialpolitik und die Sozialwahlen als Teil davon stabilisieren die Qualität unserer Demokratie in Deutschland“ (ebenda). Möglicherweise ist es um diese in der Bundesrepublik seit 70 Jahren bestehende Demokratiestabilisierungsinstitution aber gar nicht mal so gut bestellt, wenn zuletzt fast 80% der Stimmberechtigten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machten.

Problempunkte des Sozialwahlsystems

Der Gesetzgeber hat sich vor der Sozialwahl um einige mehr oder weniger innovative Wahlrechtsregelungen bemüht. So konnte dieses Jahr zumindest teilweise erstmals nicht nur per Briefwahl, sondern auch elektronisch gewählt werden. Bei der TK beispielsweise stimmten ungefähr zehn Prozent der Wählenden auf diese Weise ab. Vorschlagslisten für die Wahl der Krankenkassenverwaltungsräte mussten jeweils mindestens 40% weibliche und männliche Kandidierende enthalten (hinsichtlich der Renten- und Unfallversicherungsträger konnte man sich allerdings nur zu einer Soll-Bestimmung durchringen). Aktiv wahlberechtigt sind Versicherungsmitglieder schon ab 16 Jahren.

Zwar gibt es sozialwahlrechtliche Aspekte, die nicht so recht überzeugen, etwa die Fünf-Prozent-Sperrklausel (hier muss ja keine Regierungsstabilität gefördert werden) oder eine gewisse Begünstigung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bei der Zulassung von Vorschlagslisten. Die Hauptprobleme für die offensichtliche Unattraktivität der Sozialwahl liegen aber vermutlich nicht im rechtlichen Bereich.

Viele Menschen in Deutschland wissen wohl schlicht nicht, was die Sozialparlamente der Versicherungsträger eigentlich machen und wie sie ihr Leben tangieren können. Zudem wurde in den Medien kaum über die Sozialwahl berichtet. Außerdem fand kein ansprechender oder aktivierender inhaltlicher Wettbewerb zwischen den verschiedenen Listenvorschlägen statt; die Kurzfassungen der Wahlprogramme der beispielsweise bei der TK angetretenen vier Listen wirkten programmatisch ziemlich identisch oder austauschbar. Einen personenorientierten Wettbewerb gab es auch nicht, denn die ehrenamtlichen Kandidierenden kennt außerhalb ihrer jeweiligen Gruppierungen praktisch niemand.

Bei der Deutschen Rentenversicherung Bund konnte man zwischen 13 Listen wählen, und die Wählenden verteilten ihre Stimmen auch mehr oder weniger breit. Anders sah es bei den Krankenkassen aus: Hier war das Wahlangebot an unterschiedlichen Listen nicht so üppig, und abgesehen von der Barmer gewann jeweils nicht zum ersten Mal eine Stammliste der jeweiligen Versichertengemeinschaft mit absoluter Mehrheit der abgegebenen Stimmen, im Fall der KKH die KKH-Versichertengemeinschaft e. V. mit sagenhaften 81,93%. Kompetitive Demokratie stellt man sich irgendwie anders vor.

Wahl ohne Wahlhandlung?

Fragwürdig erscheint auch, dass manche Versicherte bei der Sozialwahl einmal wählen durften, einige zweimal und wieder andere gar nicht – abhängig von ihrer Rentenversicherung und ihrer Krankenversicherung. In der gesetzlichen Rentenversicherung gab es nur bei der DRV Bund eine echte Wahl, nicht aber bei den regionalen Rentenversicherungsträgern. Unter den Krankenkassen konnten lediglich die Mitglieder der Ersatzkassen Barmer, DAK, HKK, KKH und TK an einer Urwahl teilnehmen. Bei allen anderen Sozialversicherungsträgern gab es „Friedenswahlen“ bzw. „Wahlen ohne Wahlhandlung“. Wenn die Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppen jeweils nur so viele Kandidierende benennen, wie Sitze in den betreffenden Sozialparlamenten zu vergeben sind, findet keine Wahl im eigentlichen Sinne statt; mit Ablauf des 31. Mai 2023 galten diese Bewerberinnen und Bewerber als gewählt.

Diese Praxis ist sozialrechtlich abgesichert (§ 46 Abs. 2 SGB IV), erscheint demokratietheoretisch aber wenig befriedigend. Eine einzige Vorschlagsliste oder ein abgestimmter Vorschlag, bei dem verschiedene Gruppierungen die Mandate vorab unter sich aufteilen: Das weckt ungute Erinnerungen an Einheits- oder Blocklisten bei den Pseudowahlen vergangener politischer Systeme auf deutschem Boden, und von dem eingangs zitierten sozialgesetzlichen Ziel freier und öffentlicher Wahlen bleibt dann auch wenig übrig.

Andererseits lässt sich natürlich fragen, ob sich der organisatorische und finanzielle Aufwand einer bundesweiten Sozialwahl bei den sechs genannten Sozialversicherungsträgern noch lohnt, wenn die Wahl der Sozialparlamente bei einer so deutlichen Mehrheit der betreffenden Versicherungsmitglieder auf Desinteresse stößt. Würde man hier ebenfalls „Friedenswahlen“ einführen, könnte man immerhin wenigstens Geld der Versicherten sparen. Doch so technokratisch-effizienzorientiert soll hier nicht argumentiert werden. Vielmehr ist dem Gesundheitswissenschaftler Bernard Braun beizupflichten, „dass Betroffenenbeteiligung an Bedeutung gewinnt, die Selbstverwaltungsorgane sollten daher weiter belebt und gestärkt werden“ (Pressemitteilung des vdek vom 18.1.2023).

Wiederbelebung der Sozialwahl

Wer in der deutschen Sozialverfassung mit ihren partizipatorischen Elementen der korporativen Selbstverwaltung nicht nur ein originelles Relikt sieht, sondern ein potenziell zukunftsfähiges Element politikfeldspezifischer Demokratie, sollte sie bekannter machen und sich vermehrt für ihre Wiederbelebung und Reform einsetzen. Impulse gegen den Bedeutungsverlust der Sozialwahl können und sollten von verschiedenen Ebenen und Akteuren ausgehen. Auf der Makroebene sollte die Bundespolitik den Handlungsspielraum der Sozialparlamente nicht schmälern, sondern eher vergrößern. Die fünf Krankenkassen, die Urwahlen abhalten, könnten noch breiter dafür werben. In der regulatorisch gewollten Konkurrenz der Krankenkassen wäre es für sie möglich, die Abhaltung echter Selbstverwaltungswahlen auch als Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Kassen herauszustellen.

Die Mitglieder der Sozialparlamente könnten ihre jeweilige Basis noch wesentlich umfangreicher und proaktiv über ihre Kompetenzen und ihre praktische Arbeit informieren. Es liegt auch maßgeblich an ihnen, die Sozialwahl attraktiver zu gestalten: Die verschiedenen Listen müssten Wahlvorschläge präsentieren, die sich inhaltlich und vielleicht auch personell deutlich stärker voneinander unterscheiden als bisher, damit für die Wahlberechtigten besser erkennbar ist, weshalb erstens die Teilnahme an der Sozialwahl und zweitens die Wahl einer bestimmten Liste für sie sinnvoll sein könnte.

Eine wesentliche Rolle kommt wohl den Medien zu. Würden sie verstärkt über die Sozialwahl berichten, könnte dies zu mehr Wissen in der Bevölkerung über die Soziale Selbstverwaltung führen und eine höhere Wahlbeteiligung zur Folge haben. Allerdings erscheint die Sozialwahl medienökonomisch kaum relevant: Wettbewerb zwischen vertrauten Parteien, Konflikte zwischen Regierungsmehrheit und Opposition oder Skandale um bekanntes Politikpersonal – all das gibt es hier nicht. So bleiben die Sozialparlamente wohl auch in Zukunft eher im Schatten der Medienaufmerksamkeit.

Schließlich liegt nicht nur bei den haupt- und ehrenamtlichen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern, sondern auch bei den Versicherten sowie Rentnerinnen und Rentnern selbst eine gewisse Verantwortung. Diesbezüglich formulierte der TK-Vorstandsvorsitzende Jens Bas im Vorfeld der Sozialwahl schlicht und treffend: „Demokratie funktioniert nur, wenn wir unser Mitbestimmungsrecht auch nutzen“ (Die Techniker Das Magazin 4/2023, S. 2).


SUGGESTED CITATION  Wolf, Sebastian: Sozial, aber egal?: Die Sozialwahl 2023 zwischen korporativer Demokratie und symbolischer Partizipation, VerfBlog, 2023/7/26, https://verfassungsblog.de/sozial-aber-egal/, DOI: 10.17176/20230726-132130-0.

2 Comments

  1. Bernd Lauert Thu 27 Jul 2023 at 17:48 - Reply

    Interessant fand ich folgendes: An meine Adresse wurden für fünf Personen Wahlunterlagen zugestellt, die hier bereits lange nicht mehr gemeldet sind und die nie deutsche Staatsbürger waren, sondern sich hier allein im Rahmen eines Studiums aufhielten.
    Würde mich nicht wundern, wenn das bundesweit ähnliche geschehen ist.
    So erklärt sich dann auch die nur geringe Wahlbeteiligung.

    Abgesehen davon muss ich dem Autoren beipflichten. Mir erschienen weite Teile der wählbaren Vereinigungen völlig nichtssagend, teilweise redundant.
    Welche Ziele sie teilweise verfolgen, erschloss sich mir ebenfalls nicht.

    • cornelia gliem Fri 28 Jul 2023 at 13:21 - Reply

      ging mir ähnlich. allerdings: muss man für die Sozialwahl deutscher Staatsbürger sein? reicht nicht die Mitgliedschaft zur jeweiligen Krankenkasse?

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