23 January 2023

Stille Revolution im Schatten des künftigen Punktesystems

Der Referentenentwurf zum Fachkräfte-Einwanderungsgesetz

Nachdem die Ampelkoalition abgelehnten Asylbewerbern zum Jahresbeginn ein großzügiges Bleiberecht gewährte, rückt nun der Fachkräftemangel ins Zentrum. Viele Betriebe suchen händeringend Personal. Noch vor Weihnachten beschloss die Bundesregierung deshalb ein Eckpunktepapier, das Innen- und Arbeitsministerium zwischenzeitlich in einen ersten Referentenentwurf übersetzten, der derzeit von den anderen Ministerien kommentiert wird. Medien berichteten, und auch in Fachkreisen zirkuliert der Entwurf. Final ist dieser nicht – und bietet doch spannende Einblicke.

Im Zentrum steht ein Punktesystem, das als „Potenzialsäule“ die Einreise zur Jobsuche ermöglicht. Vor allem die FDP hatte darauf bestanden, um sichtbar etwas zu verändern. Ein Blick hinter die Kulissen des Entwurfs zeigt, dass eine zweite Neuerung mindestens ebenso wichtig ist. Versteckt in der Beschäftigungsverordnung findet sich ein neuer Zugangsweg für Menschen, die keine Uni- oder Berufsausbildung nach deutschen Standards absolvierten, aber aufgrund alternativer Kriterien dennoch als qualifiziert gelten. Diese „Erfahrungssäule“ könnte mehr Menschen anziehen als das Punktesystem und dürfte noch für manche Debatte sorgen.

„Fachkräftesäule“: Nachjustierung des Status quo

Rechtspolitisch spannend ist die Nachjustierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nicht. Wichtig aber dennoch. Völlig zu Recht weist die aktuelle Gesetzesbegründung daraufhin, dass die Große Koalition bereits „wesentliche Erleichterungen“ realisierte. Die damalige Reform trat pünktlich zum Pandemiebeginn in Kraft und konnte daher ihre volle Wirkung noch nicht entfalten. Das liegt freilich nicht nur am Coronavirus. Die Verfahren dauern ewig, weil Visastellen und Ausländerbehörden dramatisch überlastet sind. Der Beinahe-Kollaps der Frankfurter Behörde war ein Weckruf. Gewiss wird die Digitalisierung forciert, aber das dauert.

Die Ampelkoalition will das bestehende Recht nunmehr punktuell weiterentwickeln. Zur Umsetzung der reformierten EU-Hochqualifiziertenrichtlinie wird die Gehaltsschwelle für eine Blaue Karte für Akademiker auf knapp unter 50.000 € pro Jahr abgesenkt; Berufseinsteiger und Mangelberufe müssen rund 40.000 € verdienen. Doch auch Fachkräfte mit geringerem Gehalt dürfen weiterhin einwandern, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorweisen und der Lohn lokalen Gepflogenheiten entspricht. Hinzu kommt freilich eine weitere Hürde. Als „Fachkraft“ gilt bisher nur, wer im Ausland einen Hochschulabschluss erwarb oder eine berufliche Ausbildung absolvierte, die deutschen Standards genügt (§ 18 Abs. 3 AufenthG).

Akademiker überwinden diese Hürde einfacher, weil Studienabschlüsse international besser vergleichbar sind. Für anderer Jobs besteht die Option dagegen häufig nur auf dem Papier, weil es andernorts schlicht keine Berufsausbildung für viele Tätigkeiten gibt, die der deutschen dualen Ausbildung entspricht. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beruht auf einer Voraussetzung, die ausweislich der Statistik nur wenige erfüllen.

Schon die Große Koalition hatte daher auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ gesetzt. Ausländer sollen dazu animiert werden, die Ausbildung in Deutschland ganz oder teilweise nachzuholen. Hierfür gibt es weitere Liberalisierungen: die Einreise zur Nachqualifikation wird erleichtert; Studierende dürfen etwas mehr arbeiten; Pflegehilfskräfte können einreisen, obwohl sie formal keine Fachkraft nach der aktuellen Definition sind; und eine neue „Anerkennungspartnerschaft“ will Arbeitgeber und -nehmer davon überzeugen, einen Vertrag zu schließen, wie die Nachqualifikation gelingt.

Der Gedanke hinter diesen Reformen ist gut, allein sie dürften nicht die notwendigen Fallzahlen produzieren. Größere Programme, um Azubis anzuwerben, gibt es bisher nur im Gesundheitsbereich (hier, S. 36-41). Das liegt auch daran, dass viele Unternehmen es verpassten, rechtzeitig attraktive Programme aufzubauen. Hinzu kommt ein kommunikatives Problem. Die Regierungen Merkel öffneten den Arbeitsmarkt in einer zehnjährigen Liberalisierungskaskade scheibchenweise unterhalb des Radars der Öffentlichkeit. Auch deshalb hält sich hartnäckig die Meinung, das Recht sei restriktiv, obwohl dies nicht stimmt: für Akademiker schon länger und für die berufliche Ausbildung seit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz.

„Erfahrungssäule“: Paradigmenwechsel im Verborgenen

Punktesysteme klingen spektakulär und werden daher viel beachtet. Dabei übersieht man leicht, dass der aktuelle Referentenentwurf an anderer Stelle eine stille Revolution anstößt. Grundlage hierfür ist eine Öffnungsklausel, die die Große Koalition vor drei Jahren eingeführt hatte, um ohne Gesetzesänderung neue Zugangswege ausprobieren zu können. Konkret können die Behörden einem „Ausländer mit ausgeprägten berufspraktischen Kenntnissen eine Aufenthaltserlaubnis … erteil(en), wenn die Beschäftigungsverordnung“ dies zulässt (§ 19c Abs. 2 AufenthG).

Die Crux dieser Öffnungsklausel besteht darin, dass sie die zentrale Voraussetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes aufhebt. Die zugrunde liegende Idee ist simpel. Qualifikationen misst man nicht nur durch Zertifikate in Form von Uni- oder Ausbildungsabschlüssen. Alternativ kann man nach dem Humankapital fragen, also sonstige individuelle Fähigkeiten. Sprachkenntnisse, praktische Berufserfahrung, eine Ausbildung unterhalb deutscher Standards und inländische Kontakte können als Indizien anzeigen, ob jemand hierzulande beruflich erfolgreich sein wird.

Die Große Koalition nutzte diese Experimentierklausel für IT-Fachkräfte im aktuellen § 6 BeschV. Diese Regelung wird nun verallgemeinert und liberalisiert. Bei IT-Fachkräften wird künftig auf jegliche formale Qualifikation verzichtet; es reicht aus, dass man zwei (statt bisher drei) Jahre irgendwo auf der Welt als IT-Kraft arbeitete. Außerdem muss man einen deutschen Arbeitsvertrag vorweisen, aufgrund dessen man etwas mehr als 40.000 € verdient; bei Tarifbindung reicht ein geringerer Lohn, soweit dieser lokalen Gepflogenheiten entspricht. Es ist dies letztlich ein Punktesystem im Kleinen, wenn auch mit unflexiblen Kriterienkatalog: Kandidat/innen müssen alle Voraussetzungen erfüllen. Auf Deutschkenntnisse soll erstaunlicherweise ganz verzichtet werden; jede Sprache reicht aus, soweit der Arbeitgeber sie akzeptiert. Bisher war Deutsch B1 die Regel.

Vor allem jedoch will der Referentenentwurf diese Regelung verallgemeinern – allerdings unter einer zusätzlichen Voraussetzung. Während IT-Kräfte künftig gar keine Ausbildung mehr benötigen, brauchen alle anderen Neuzugänge zusätzlich eine formale Qualifikation in Form eines Hochschulabschlusses oder einer zweijährigen Berufsausbildung, die den Regeln des Herkunftslandes genügt. Damit ist die zentrale Hürde des Fachkräfteeinwanderungsgesetz aufgegeben, ohne dass der Wortlaut des AufenthG geändert würde: Als qualifiziertes Personal gilt künftig auch eine Person, deren Ausbildung nicht deutschen Standards genügt.

Viel Einfluss für Arbeitgeber, Herkunftsländer und Behörden

Wie weit die Regelung geht, zeigt sich daran, dass alle Berufe erfasst sind. Regelungstechnisch ist dies zulässig, wenn man § 19c Abs. 2 AufenthG so auslegt, dass der Verordnungsgeber entscheidet, wer als „qualifiziert“ gemäß § 19c Abs. 2 AufenthG gilt (hier, Rn. 10). Die Wesentlichkeitslehre wird häufig bemüht, greift aber selten. Vor dem BVerfG würde die Neuregelung im Klagefall wohl Bestand haben.

Rechtspolitisch wird dennoch diskutiert werden. Schließlich sollen künftig private Arbeitgeber und die Herkunftslandregeln entscheiden, wer die Einwanderungsvoraussetzungen erfüllt und wer nicht. Man muss nur einmal nach „professional training two years“ und den Namen eines Landes suchen, um etwas über die Angebotsvielfalt zu lernen (z.B. Venezuela, Uganda, Kambodscha). In Schwellenländern wie Ägypten oder Brasilien studieren inzwischen sehr viele junge Menschen. Sie alle werden künftig unabhängig vom Studienfach von § 6 BeschV erfasst werden, auch wenn der Entwurf nicht so weit geht, den Arbeitsmarkt generell zu öffnen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht jeder, der im Heimatland studiert oder eine zweijährige Berufsausbildung abschließt, darf automatisch einwandern. Man braucht einen Arbeitsvertrag; es muss Tariflohn gezahlt oder, alternativ, die Mindestgehaltschwelle überschritten werden; außerdem sind zwei Jahre Berufserfahrung in einem Job obligatorisch, für den man ausgebildet ist. In Zweifelsfällen können außerdem die Behörden das Visum verweigern, denn sie entscheiden nach Ermessen.

Damit gewinnt die Behördenpraxis viel Einfluss darauf, wer künftig einwandern darf und wer nicht. Offenbar wird derzeit hinter den Kulissen darum gerungen, wer diese Aufgabe übernimmt (Visastellen, Ausländerbehörden, BAMF, etc.); die Begründung des informellen Entwurfs enthält hier eine eckige Klammer. Das ist alles andere als trivial. Hat Berufserfahrung „auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie“, wer gegen Geld Webseiten betreute? Wenn ja, braucht man künftig gar keine formale Ausbildung mehr. Reicht ein Diplom als Hotelkraft sowie eine zweijährige Tätigkeit? Wenn ja, braucht man nur noch einen hinreichend dotierten Arbeitsvertrag, nicht jedoch Deutschkenntnisse.

Angesichts dieses sehr weiten Anwendungsbereichs sollte das Arbeitsministerium bei der Begründung nachbessern. Zu den Kriterien der Ermessensbetätigung steht dort bisher nämlich gar nichts. Dürfen fehlende Sprachkenntnisse doch ein Aspekt sein? Vermutlich nein, solange die Begründung auf diese explizit verzichten will. Andererseits sollen die Erwerbsmigrationsregen nach dem künftigen § 18 Abs. 1 AufenthG „die nachhaltige Integration … in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft“ fördern. § 1 AufenthG betont ganz allgemein öffentliche Interessen.

Zur Klarstellung könnte man im Wortlaut des künftigen § 6 BeschV ergänzen, dass diese Zielsetzungen bei der Ermessensbetätigung zu berücksichtigen sind. Das gäbe den Behörden hinreichenden Spielraum, um negativen Auswüchsen zu begegnen. Alles weitere hinge maßgeblich davon ab, wer die Anträge prüft. Eine dezentrale Zuständigkeit der ohnehin überlasteten Ausländerbehörden würde absehbar zur Kritik führen, die Behördenpraxis sei uneinheitlich und schlecht vorhersehbar.

„Potenzialsäule“: Ein schlankes Punktesystem

Befürworter eines Punktesystems hatten immer das Problem, dass allein der sichtbare Name einen großen Wurf verspricht, obwohl das geltende Recht schon liberal ist. Viele der bestehenden Regeln darf man nicht abschaffen, weil sie europarechtlich vorgegeben sind – und selbst wenn man alles reformierte, müssten die Behörden ihr Personal umschulen. Das braucht Monate und blockiert die ohnehin langen Verfahren.

Aus diesem Grund war absehbar, dass das Punktesystem zwar viel Aufmerksamkeit erhält, letztlich jedoch nur ein Zugangsweg unter anderen bleibt. Dies gilt umso mehr, als der Gesetzgeber die bereits erwähnte Erfahrungssäule außerhalb des Punktesystems in § 6 BeschV realisieren möchte. Das Punktesystem selbst soll in § 20a AufenthG stehen. Wer hiernach einwandern will, muss eine doppelte Hürde überwinden.

Erstens soll zum Punktesystem nur zugelassen werden, wer einen Hochschulabschluss erwarb oder eine zweijährige Berufsausbildung absolvierte, die die Regeln des Herkunftslandes entsprechen (§ 20a Abs. 2). Damit gelten dieselben Kriterien, die mit Blick auf die Erfahrungssäule bereits erörtert wurden. Wessen Ausbildung deutsche Standards erfüllt, bekommt sofort eine Chancenkarte, ohne dass zusätzlich die Mindestpunktzahl erreicht werden muss (§ 20a Abs. 1 Nr. 1). Damit überführt der Gesetzentwurf den aktuellen § 20 Abs. 1  f. AufenthG in die Chancenkarte.

Zweitens müssen all diejenigen, deren Bildungsabschluss nicht deutschen Standards genügt, mindestens 6 Punkte vorweisen. Diese werden nach einem leicht verständlichen System vergeben, das von den Behörden vergleichsweise einfach angewandt werden kann. Nur die Berufserfahrung erfordert eine kompliziertere Prüfung, erneut wie bei § 6 BeschV.

Die Patenschaft durch Inländer ist auf den ersten Blick ungewöhnlich, macht jedoch Sinn. Die Migrationsforschung lehrt uns, dass persönliche, familiäre und ethnische Netzwerke ein zentraler Faktor für jede Einwanderung und auch für den Arbeitsmarkterfolg sind. Missbrauch soll dadurch vorgebeugt werden, dass nur natürliche Personen, die sich seit fünf Jahren rechtmäßig hierzulande aufhalten, maximal zwei Patenschaften übernehmen können. Finanzielle Verpflichtungen gehen sie hierbei nicht ein.

Die Kriterien sind bei genauer Betrachtung sorgsam austariert. Es gibt nur eine Konstellation, in der die 6-Punkte-Schwelle ohne eine mindestens zweijährige Berufserfahrung im Ausbildungsjob überschritten wird (B2 Deutsch, nicht älter als 35 Jahre, doppelter Inlandsbezug). Wir werden sogleich sehen, dass der Gesetzgeber damit sicherstellt, dass die allermeisten, die über das Punktesystem einreisen, im Inland rechtmäßig einen Job ausüben können. Das reduziert die Gefahr eines Misserfolgs.

Damit ist zugleich gesagt, dass jede Änderung des Punktekatalogs die Gefahr birgt, einen Mismatch zwischen Einreisemöglichkeiten und späterer Anschlussverwendung zu bewirken. Besonders spannend würde es, wenn es für ein Jobangebot ebenfalls Punkte gibt. In diesem Fall könnte man nämlich Zusatzpunkte vergeben, wer bereits ein Wohnungsangebot besitzt oder im ländlichen Raum arbeitet. Die für die Arbeitsmigration zuständige FDP-Abgeordnete verwies auf diese Steuerungsoptionen, die der Referentenentwurf mit seinem schlanken Modell bisher nicht nutzt.

Das Punktesystem gewönne an Bedeutung, wenn man die bereits diskutierte Erfahrungssäule statt im künftigen § 6 BeschV in das Punktesystem integrierte. Eine solcher Schritt wäre hinsichtlich der Punktejustierung zwar ungemein kompliziert, erlaubte es jedoch, den derzeit großen Einfluss der Arbeitgeber und Herkunftslandregeln durch zusätzliche Anforderungen wie zum Beispiel ein Wohnungsangebot oder Jobs im ländlichen Raum zu relativieren. Nach dem aktuellen Vorschlag ginge das bei der Erfahrungssäule allenfalls im Rahmen der Ermessensbetätigung, wozu der Verordnungsentwurf jedoch, wie dargelegt, bisher schweigt.

Chancenkarte nur zur Jobsuche

Eine „Chancenkarte“ erhält, wer das Punktesystem erfolgreich absolviert. Bereits der Name signalisiert, dass die Einreiseerlaubnis nichts darüber aussagt, ob jemand dauerhaft in Deutschland bleiben darf oder nicht. Wer die 6-Punkte-Schwelle überspringt, bekommt ein einjähriges Einreisevisum, das nicht verlängert werden kann. Während dieser Zeit darf man qualifikationsunabhängige Nebenjobs (20h/Woche) sowie zweiwöchige Probebeschäftigungen ausüben. Sinn und Zweck der Chancenkarte ist es, dass die Inhaber eine qualifizierte Beschäftigung finden.

Während der Jobsuche muss man vom Ersparten leben. Beim Antrag auf ein Einreisevisum ist nämlich darzulegen, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. In der Praxis erfolgt das häufig über den Nachweis von Geldmitteln auf einem Sperrkonto. Wer ohne Deutschkenntnisse bereits auf sechs Punkte kommt, muss außerdem mindestens das Niveau A2 vorweisen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Jobsuche erfolgreich verläuft. Englische Sprachkenntnisse sind nach dem derzeitigen Entwurf irrelevant.

Soweit das Punktesystem vor allem von denjenigen genutzt werden wird, die keinen Uni- oder Berufsabschluss nach deutschen Standards haben, würde der dauerhafte Verbleib in vielen Fällen über die geplante Neufassung von § 6 BeschV erfolgen. Die „Erfahrungssäule“ verlangt nämlich eine Berufserfahrung in einen Job, der einem Uni- oder Ausbildungsabschluss nach Herkunftsstaatsstandards entspricht, ohne den man in der Regel auch die Maximalpunktzahl nicht erreicht.

Wenn man nach der Einreise aufgrund des Punktesystems keinen deutschen Job findet, der dem künftigen § 6 BeschV genügt oder einen solchen nicht anstrebt, kann man eine Stelle als Azubi oder zur Nachqualifikation antreten. Unqualifizierte Jobs auf Helferniveau reichen für den dauerhaften Verbleibt nicht auf. Wenn die Jobsuche scheitert, muss man ausreisen. Hartz IV-Leistungen gibt es aufgrund von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. b SGB II nicht. Es bleibt zu hoffen, dass dies allenfalls in Einzelfällen zu Schwierigkeiten führt, die das Punktesystem zu diskreditieren drohten.

Punktesystem: ein Scheinriese?

Nicht alles, was am grünen Tisch theoretisch entworfen wird, funktioniert in der Praxis auch. So besteht durchaus die Gefahr, dass die Nachfrage nach dem Punktesystem gering bleibt. Schon heute gibt es bereits Suchtitel für berufliche und akademische Fachkräfte nach deutschen Standards in § 20 Abs. 1 f. AufenthG, die jedoch im Jahr 2021 von gerade einmal 196 Personen genutzt wurden, die neu nach Deutschland einreisten (hier, S. 14). Deutlich höher sind die Zahlen für diejenigen, die zuvor in Deutschland ein Studium abschlossen oder eine Ausbildung machten und danach zum „Statuswechsel“ über den Suchtitel einen Job finden.

International ist das verbreitet. So wird das kanadische Punktesystem überwiegend von Menschen genutzt, die bereits in Kanada wohnen (hier, S. 26). Meistens sind dies Absolventen kanadischer Unis. Auch in Deutschland soll das Punktesystem all denjenigen offenstehen, die bereits zur Ausbildung oder Arbeit in Deutschland leben (§ 20a Abs. 2 S. 2). Dadurch stellt man sicher, dass mehr Personen eine Chancenkarte erhalten, gewinnt in der Sache jedoch nichts. Die Suchoption besteht ja bereits.

Doch auch das umgekehrte Phänomen ist denkbar. Das Punktesystem könnte mit einer wahrhaftigen Antragsflut konfrontiert werden. Die 6-Punkte-Schwelle überwindet jeder, der eine ausländische Uni- oder Berufsausbildung absolvierte, zwei Jahre Berufserfahrung im Ausbildungsjob hat, nicht älter als 35 ist und B1-Deutschkenntnisse besitzt. Wenn die Familie zusammenlegt, dürften auch die Lebensunterhaltssicherung gelingen. Angesichts der großen Zahl an Uniabsolventen im globalen Süden könnten schnell hohe Antragszahlen zusammenkommen.

Für diesen Fall sieht der Gesetzentwurf eine doppelte Korrekturoption vor: zum einen entscheiden die Behörden nach Ermessen; zum anderen sollen Innen- und Arbeitsministerium mit dem Auswärtigen Amt jederzeit zahlenmäßige Kontingente einführen können (§ 20a Abs. 9). In der Begründung heißt es etwas verklausuliert, dass die Kontingente auch einzelne Berufsgruppen oder Herkunftsländer betreffen können.

Über die Kriterien für die Ermessensbetätigung oder die Priorisierung innerhalb des Kontingents erfahren wir nichts. In der Praxis wäre beides ungemein wichtig. Wonach richtet es sich, welche Personen mit sechs Punkten ausgewählt werden, wenn sich mehr Leute bewarben als das Kontingent hergibt? Im Zweifel würden darüber die Gerichte entscheiden, denn Ermessen heißt bekanntlich keine rechtliche Vogelfreiheit.

„Vierte Säule“: Koppelung mit der Asylmigration

Man kann darüber diskutieren, ob Personen, die eine Ausbildung nach Herkunftslandstandards besitzen, automatisch auch in Deutschland als „Fachkraft“ bzw. „qualifiziertes“ Personal gelten. Doch selbst wenn man dies mit der Bundesregierung tut, verbleibt ein Segment geringqualifizierter Tätigkeit in Helferjobs, für die die Unternehmen ebenfalls Personal suchen. Es gelingt offenbar nicht, diese offenen Stellen durch inländische Potenziale zu besetzen. Darunter sind übrigens viele Flüchtlinge und ausreisepflichtige Personen mit Duldung, die statistisch meistens keinen Berufs- oder Uniabschluss haben und länger brauchen, bis sie einen Job finden, der noch dazu häufig im Helfersektor angesiedelt ist (hier, S. 4, 8 f.).

Es ist verständlich, dass die Bundesregierung hier keine Kehrtwende vollzieht. Der Entwurf will „nur“ das Kontingent für die Westbalkanstaaten auf 50.000 Personen pro Jahr verdoppeln. Außerdem soll die Bundesagentur für Arbeit künftig Kontingente für eine kurzfristige Beschäftigung aufsetzen können, um qualifikationsunabhängig sechs Monate pro Jahr hier zu arbeiten, wenn der Arbeitgeber die Reisekosten zur Hälfte trägt (§ 15d BeschV). Das ist eine sinnvolle Neuerung, die freilich nur für benachbarte Länder in Betracht kommt, weil sonst die Reisekosten für eine kurzfristige und unqualifizierte Beschäftigung schlicht zu hoch sind.

Hier wären weitere Innovationen notwendig, um die Migrationspolitik insgesamt zu stärken. Der Koalitionsvertrag verspricht nämlich Abkommen mit wichtigen Asylherkunftsländer, die unter anderem legale Zugangswege dafür erhalten sollen, abgelehnte Asylbewerber effektiv zurückzunehmen (hier, S. 112). Bei den Westbalkanstaaten funktioniert das bereits gut (hier, S. 5-7). Auch Spanien nutzt legale Zugangswege als Anreiz, um mit Marokko zusammenzuarbeiten, US-Präsident Biden vereinbarte mit Mexiko jüngst Ähnliches und selbst Italien verhandelt mit Tunesien.

Die Bundesregierung behandelte die geplanten Migrationsabkommen bisher stiefmütterlich, ebenso wie die angekündigte „Rückführungsoffensive“. Zwar gibt es eine erste Vereinbarung mit Indien, die dem Vernehmen nach inhaltlich jedoch unspektakulär ist. Wenn der neue Migrationsbeauftragte Joachim Stamp erfolgreicher sein will, muss er auf weitere Innovationen drängen. Die kontingentierte Kurzzeitarbeit ist für entfernte Herkunftsländer wegen der hohen Reisekosten uninteressant. Gleiches gilt für die Westbalkanregelung, die einen Arbeitsvertrag voraussetzt, den Menschen mit weniger Kontakten nach Deutschland seltener erhalten. Stamp könnte daher auf länderspezifische Kontingente drängen, um bei den Verhandlungen über einen passenden Instrumentenkasten zu verfügen.


SUGGESTED CITATION  Thym, Daniel: Stille Revolution im Schatten des künftigen Punktesystems: Der Referentenentwurf zum Fachkräfte-Einwanderungsgesetz, VerfBlog, 2023/1/23, https://verfassungsblog.de/stille-revolution-im-schatten-des-kunftigen-punktesystems/, DOI: 10.17176/20230123-215932-0.

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