18 February 2025

Transnationale Disruption

Zur staatspolitischen Bedeutung von J. D. Vance’s Rede in München

Scheinbar hat der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance bei seiner Rede am Freitagabend das Thema verfehlt. Die Münchner Sicherheitskonferenz, so die reflexartig vorgetragene Kritik, sei doch eine Plattform für den sicherheitspolitischen Austausch über Themen von internationaler Bedeutung, nicht aber ein Ort, an dem ein ranghoher Vertreter einer Regierung sich in innereuropäische Angelegenheiten einmischen oder gar europäische Staaten als undemokratisch kritisieren dürfe. Die Überraschung über eine vermeintlich „innenpolitische“ Rede übersieht aber, dass die Einlassungen des Vizepräsidenten die unter anderem für die geltende internationale Ordnung wichtige Unterscheidung zwischen Innen und Außen negieren. Es handelt sich nicht um einen diplomatischen Fauxpas, sondern um die Verkündung eines Programms an der Spitze eines transnationalen „Bewegungsstaates“. Ideologische Anleihen macht Vance bei Carl Schmitt, denkt dessen „Raumnahme“ aber im transnationalen Sinne weiter.

Revolutionäres Ordnungsdenken

Tatsächlich war das, was Vance in München vortrug, zunächst eine Liste behaupteter europäischer Verfehlungen (siehe hier): die Annullierung demokratischer Wahlen, repressive Einschränkungen der Religionsfreiheit, der faktische Ausschluss populistischer Parteien aus einem fairen Wahlkampf, gar die systematische Miss- und möglicherweise Verachtung der Bevölkerung durch den Staat. Historisch betrachtet ist dieser skeptische Blick auf Europa nicht ungewöhnlich, sondern ganz im Gegenteil, Element des amerikanischen Gründungsmythos. Bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 findet sich eine ähnliche Liste. Zunächst heißt es: „Die Geschichte des gegenwärtigen Königs von Großbritannien ist eine Geschichte wiederholter Verletzungen und Usurpationen, die alle die Errichtung einer absoluten Tyrannei über diese Staaten zum direkten Ziel hatten“ (im Original hier). Es folgt eine Auflistung, die – ähnlich wie nun bei Vance – Einschränkungen, gar gewaltige Repressionen der Bevölkerung durch europäische Regierungen zum Gegenstand hat. Etwa 50 Jahre nach der Unabhängigkeit von der europäischen Kolonialmacht, 1823, manifestiert sich diese Haltung in der Monroe-Doktrin. Zum Ausdruck kommt darin der außenpolitische Anspruch auf die „westliche Hemisphäre“, also der Ausschluss europäischer Mächte aus einer Sphäre US-amerikanischen Interesses (übrigens wurde auch Grönland im 19. Jahrhundert immer wieder in dieser Interessenssphäre verortet).

Damals wie heute ist die US-amerikanische Kritik europäischer Politik eingebettet in ein Ordnungsdenken, das über territoriale Grenzen hinausgreift. Insofern zeugt die Verwunderung über die Rede des Vizepräsidenten (hier und hier) von einem Unverständnis weltpolitischer Entwicklungen. Das Festhalten an der Unterscheidung zwischen Innen- und Außenpolitik verharrt im Denken einer zunehmend brüchigen internationalen Ordnung, die bald offen infrage gestellt und vielleicht bald, in den bevorstehenden Verhandlungen über die Ukraine, überwunden werden könnte. Was wohl dabei rauskäme, wenn Putin, der die Ukraine als Region einer „russischen Welt“ fasst, und Trump, der über die Monroe-Doktrin hinausgehend nicht nur Ansprüche auf den Panamakanal stellt, sondern sowohl Grönland als auch Kanada als Bundesstaaten anvisiert, gemeinsam und ohne europäische Beteiligung die Ordnung in Europa verhandeln?

Großraum

Vielleicht gibt die völkerrechtspolitische Arbeit Carl Schmitts Aufschluss über eine aus solchen Verhandlungen hervorgehende Ordnung. Unmittelbar bevor Schmitt 1933 in die NSDAP eintrat, entwickelte er in einem Aufsatz (Carl Schmitt, Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus. In Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik, 1924-1978. hrsg. v. Günther Maschke. Berlin: Duncker & Humblot, 2005, S. 349-366) unter Verweis auf die Monroe-Doktrin eine Kritik am „modernen Imperialismus“ der USA, die in der völkerrechtlichen Ordnung der Zwischenkriegszeit ihren Ausdruck finde und dabei neben militärischen auch finanzpolitische und diskursive Elemente umfasse. „Es ist“, so Schmitt, „Ausdruck echter, politischer Macht, wenn ein großes Volk von sich aus die Redeweise und sogar die Denkweise anderer Völker, das Vokabularium, der Terminologie und die Begriffe von sich aus bestimmt“ (Völkerrechtliche Formen, S. 365). Ein dementsprechend großes Volk müsse der, wie Schmitt später ergänzt, Einmischung „raumfremder Mächte“ (Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Berlin: Duncker & Humblot, 2022) widerstehen können. Der Entwurf aus den 1930er Jahren ist insofern nicht nur antiamerikanische Kritik, sondern lässt sich auch und gerade als Versuch der Aneignung eines Prinzips verstehen sowie als Rechtfertigungsfigur für den Anspruch auf einen „Lebensraum im Osten“.

Freilich bricht die Idee, nach der Großmächte ein legitimes, über ihre territorialen Grenzen hinausreichendes Interesse haben und sich derlei Interessenssphären gegenseitig zugestehen, aus heutiger rechtsdogmatischer Sicht mit dem völkerrechtlichen Prinzip souveräner Gleichheit der Staaten. Eine dementsprechende Rechtsüberzeugung setzt Russland in der Ukraine durch die Praxis eines Angriffskrieges bereits um. Doch auch Präsident Trump offenbart durch seinen Blick auf den Panamakanal sowie auf Grönland ein solches Großraumdenken. Bei Schmitt heißt es: „Caesar dominus et supra grammaticam: der Kaiser ist Herr auch über die Grammatik“ (Völkerrechtliche Formen, S. 365). Mit der Umbenennung des Golfs von Mexiko in einen „Golf von Amerika“ unternehmen die USA bereits den Versuch, vielleicht noch nicht die Grammatik, aber doch das Vokabular der internationalen Geographie einseitig neu zu bestimmen.

Wo Vance über Schmitt hinausgeht

Doch interessanter als die mutmaßlichen historischen Parallelen sind die Unterschiede zwischen Schmitts Großraumtheorie und der gegenwärtigen Konstellation inter-, vielleicht besser noch transnationaler Politik. Denn Schmitts Vorstellung der internationalen Raumteilung fußte in der Annahme gegenseitig sich fremder und folglich nicht nur gegnerischer, sondern feindlicher Ideologien. In Zeiten transnational organisierter neurechter Netzwerke, immer häufiger mit direktem Zugriff auf Regierungen, ist der Neusprech eines die Arbeiten Schmitts lesenden J. D. Vance nicht Ausdruck eines fremden Gesellschaftsentwurfs, nicht „seinsmäßige Verneinung“ (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Berlin: Dunker & Humblot, 2018), sondern Beitrag zu einem Diskurs, der (in) Europa längst spricht.

In seiner Rede machte Vance sich zum Sprecher dieses Diskurses und damit des Volkes, das von der Regierung nicht gehört und ja, mitunter bereits offen drangsaliert werde. Dass es ihm sehr wohl um Sicherheitspolitik ging, machte er deutlich, indem er die Bedrohungen und damit die maßgeblichen sicherheitspolitischen Herausforderungen im Inneren Europas verortete. Diese bestünden in den staatlichen Institutionen, die sich gegen die demokratischen Werte des Volkes richteten. Demokratische Werte zu leben, werde durch permanente Einschränkungen der Meinungsfreiheit verhindert. Aber Sicherheit könne es nicht geben, wo die Angst vor den Stimmen vorherrsche, die das eigene Volk leiteten.

Hierin setzt sich das fort, was zuletzt in Elon Musks offenem Engagement für die AfD deutlich geworden ist: ein immer dichter werdendes, transnationales Netzwerk neurechter Agitation. Freilich wurden derlei Beziehungen bereits während Trumps erster Präsidentschaft aufgebaut und gepflegt, etwa durch Steve Bannon. Doch geht das, was in München demonstriert wurde, über bisherige metapolitische Versuche einer neurechten, mitunter faschistischen Internationale insofern hinaus, als nun mit der Autorität des Amtes des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten die offene Parteinahme mit den europäischen Sektionen einer solchen transnationalen Bewegung erfolgt. Die an die Rede sich anschließende Unterredung mit Alice Weidel ist in diesem Lichte also nur konsequent.

Der „Bewegungsstaat“

Nun lässt sich darüber streiten, ob die Rede vom Faschismus, und folglich von einer „Faschistischen Internationale“ analytisch und politisch sinnvoll sei. Im Blick auf die USA hat etwa der Historiker Robert Paxton zunächst eine solche Begriffsverwendung zurückgewiesen, dann aber angesichts des Sturms auf das Kapitol vom 06. Januar 2021 seine Meinung geändert. Ausschlaggebend hierfür war für Paxton die mutmaßliche Verwicklung Trumps in den Kapitolsturm. Die jüngsten Begnadigungen gleich zu Beginn Trumps zweiter Präsidentschaft unterstreichen dies und erlauben die Annahme einer gar noch sich verdichtenden Verbindung der Administration mit einer revolutionär sich gerierenden Bewegung.

Auch in der Münchner Rede kommt dieser Bewegungscharakter der neuen US-Administration zum Ausdruck. Die gleiche Wut des Volkes, die sich im Kapitolsturms Bahn gebrochen habe, nun aber durch die bewegungshafte Regierung in neue Bahnen gelenkt wird, bestimme auch die europäischen Gesellschaften, werde aber durch europäische Regierungen sowie die Europäische Kommission unterdrückt. Gezeichnet wird das Bild entrechteter Gesellschaften sowie einer neuen Regierung, die den Zustand der Entrechtung – zunächst in den USA – beendet und die zu Unrecht Inhaftierten in die Freiheit entlässt. Das von Vance in Europa weiterhin erkannte Spannungsverhältnis zwischen Bürger*innen und Staat wurde in den USA dadurch aufgehoben, dass sich der Staat in die Bewegung des Volkes einreihte. Indem aber der Staat auf diese Weise selbst einen Bewegungscharakter erfährt, macht er sich zum organisationalen Zentrum der Bewegung. Volk und Staat heben sich wechselseitig in einem „Bewegungsstaat“ auf, der nach innen, mitunter repressiv, „im Namen des Volkes“ und nach außen als Teil einer nun transnationalen Bewegung auftritt.

Transnationale Disruption

Denn es ist dieser Bewegungscharakter, der an den territorialen Grenzen des US-amerikanischen politischen Systems nicht Halt macht. Das mag nicht dem diplomatischen Protokoll entsprechen und „nicht akzeptabel“ sein (Pistorius). In einer Kritik, die sich im Kern darauf richtet, dass die Münchner Sicherheitskonferenz schlichtweg nicht der richtige Ort und die Rede somit in diesem engen Sinne deplatziert gewesen sei, ist aber gerade nicht erfasst, was die weltpolitischen Prozesse der kommenden Monate bestimmen dürfte.

Der Bewegungsstaat, zumal wo er transnational ausgreift, tendiert dazu, die tradierte Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen sicherheitspolitischen Ausführungen und der Nichteinmischung in Innenpolitik, aufzuheben. Er ist international zurückhaltend, insofern er sich aus internationalen Institutionen zurückzieht und gar noch den Eindruck des Isolationismus erweckt, aber als Fürsprecher demokratisch verstandener Werte transnational interventionistisch.

Die Infragestellung der geltenden – mitunter als liberal bezeichneten – internationalen Ordnung weist Parallelen zu Schmitts Großraumtheorie also nur insofern auf, als das territoriale Prinzip staatlicher Souveränität aufgegeben, mindestens aber deutlich relativiert wird. Der Blick auf transnationale Politiknetzwerke und politische Programme ebenso wie auf die disruptive Stilistik, mitunter gar die Ästhetik des Politischen, offenbart aber ein Moment, das über ein internationales „Recht der Stärkeren“ hinausgeht. Es setzt sich der Anspruch des Staates, an der Spitze der Bewegung zu stehen und autoritativ für diese zu sprechen, transnational fort. Die mutmaßlich „äußere“ Einmischung ins Innere – mit Schmitt: ein Eindringen in den Raum – lässt sich dann nicht mehr denken. Denn wo die Bewegung eine transnationale ist, und dies ist im Blick auf neurechte Netzwerke zweifellos der Fall, setzt sich der Bewegungsstaat, in der Logik des jetzigen internationalen Systems noch „äußerlich“, in einem diskursiven Akt an die Spitze auch der Teile der Bewegung, die jenseits seines Territoriums operieren. Staat und Bewegung verschwimmen schließlich auch transnational. Während Schmitt noch auf das „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ schaute, ist diese internationale Zurückhaltung dem Bewegungsstaat, der sich einem transnationalen Projekt verschreibt, notwendig fremd.


SUGGESTED CITATION  Liste, Philip: Transnationale Disruption: Zur staatspolitischen Bedeutung von J. D. Vance’s Rede in München, VerfBlog, 2025/2/18, https://verfassungsblog.de/transnationale-disruption/, DOI: 10.59704/cef47c7c1751c92b.

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