Ein trojanisches Pferd? Der Vorrang des Unionsrechts im Lichte des Beitrittsübereinkommens der EU zur EMRK
Debatten zum Menschenrechtsschutz prägten die Entstehung der EU-Rechtsordnung. Berühmt ist die „Entdeckung“ der ungeschriebenen Grundrechte durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), die der Anerkennung des Vorrangs durch das Bundesverfassungsgericht den Weg bereitete. Freilich beschränkte sich der EuGH zumeist auf abstrakte Aussagen und verlieh den Grundrechten in der Praxis wenig Durchschlagskraft. Erst vor kurzem änderte sich dies: Seit dem Inkrafttreten der EU-Grundrechtecharta gewinnt die Rechtsprechung an Dynamik, wenn die Richter mit spürbarer Freude die Grundrechtsaspekte der anhängigen Verfahren erkunden. Vor diesem Hintergrund kann man den anstehenden Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durchaus als Krönung eines langjährigen Prozesses beschreiben, der die EU fest in der paneuropäischen Grundrechtsarchitektur verankert. In Zukunft wird die EU, ebenso wie die Mitgliedstaaten, ganz offiziell an die EMRK gebunden und der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg unterworfen sein.
Ich befürworte den Beitritt und bin optimistisch, dass dieser die Glaubwürdigkeit und die Schlagkraft sowohl der Menschenrechtskonvention als auch der EU-Rechtsordnung stärkt. Allerdings ist der anstehende EMRK-Beitritt nicht nur ein politisches Großprojekt, sondern besitzt eine ausgeprägte technische Dimension. Dies verdeutlicht die Komplexität des voluminösen Entwurfs des Beitrittsabkommens mit zwölf Artikeln sowie einem umfangreichen, offiziellen Begleitbericht von nicht weniger als 20 Seiten. Auf dieses Gesamtpaket verständigte sich die Kommission im April diesen Jahres mit den 47 Mitgliedern des Europarats nach langwierigen und teils zähen Verhandlungen, in denen nicht zuletzt Russland und die Türkei davon überzeugt werden mussten, dass die Komplexität der EU-Rechtsordnung eine Reihe von Sonderregelungen erfordert. Aus Sicht der EU verliefen die Verhandlungen durchaus erfolgreich – und dennoch wirft der Vertragsentwurf eine Reihe von Fragen hinsichtlich des Vorrangs des Unionsrechts auf. Eben diese Fragen wird der EuGH alsbald zu beantworten haben: vor der Sommerpause verwies die EU-Kommission den Beitrittsentwurf nach Luxemburg, auf dass dieser im Gutachten 2/13 über die Vertragskonformität entscheide. Nach den EU-Verträgen dürfen völkerrechtliche Verträge, wie derjenige über den EMRK-Beitritt, nämlich nur in Kraft treten, wenn Sie mit den EU-Gründungsverträgen der vereinbar sind.
Ein Streit – zwei (mögliche) Beschwerdegegner
Die Verbundstruktur des europäischen Föderalismus war die härteste Nuss in den Verhandlungen. Bekanntlich konzentriert sich die EU auf die Rechtsangleichung im Wege der Gesetzgebung, die sodann von den Mitgliedstaaten im indirekten Vollzug umgesetzt und angewandt wird. Dies hat zur Folge, dass die meisten Bürger und Unternehmen mit dem Unionsrecht nur mittelbar konfrontiert werden, wenn dieses durch nationale Behörden und Gerichte angewandt wird. Was auf den ersten Blick als nationaler Rechtsstreit erscheint, wird vielfach durch Unionsrecht determiniert. Diese Grundstruktur stellte die Verhandlungsführer vor eine einfach anmutende Frage: Gegen wen sollen Einzelpersonen in derartigen Fällen ihre Grundrechtsbeschwerde richten?
Im Entwurf des Beitrittsübereinkommens findet sich eine klare Antwort: Wenn nationale Behörden oder Gerichte Unionsrecht anwenden, fungieren im ersten Zugriff die Mitgliedstaaten als Klagegegner (Artikel 1). Diese Zurechnungsregel erstreckt sich sogar auf Situationen, in denen die Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsspielraum besitzen, etwa bei der Beschlagnahme eines Flugzeugs durch irische Behörden aufgrund eines obligatorischen EU-Sanktionsregimes – ein Fall, in dem der EGMR bislang seine Zuständigkeit verneinte, weil der betroffene Mitgliedstaat „nichts anderes mache als die Pflichten aus der EU-Mitgliedschaft durchzuführen.“ In Zukunft soll dies anders sein. Das Unionsrecht mag für die Beschlagnahme die rechtliche Verantwortung tragen, aber dennoch soll der handelnde Mitgliedstaat als primärer Klagegegner dienen.
Um der EU dennoch die Möglichkeit zu geben, ihre Rechtsregeln vor dem EGMR zu verteidigen, schlägt der Vertragsentwurf die Einführung eines „Beteiligungsmechanismus“ vor, aufgrund dessen die EU-Organe jeder Beschwerde gegen einen Mitgliedstaat beitreten können sollen. In diesem Fall ist die EU ein vollwertiger Beschwerdegegner (und nicht nur Drittintervenient) mit gleichen Regeln bis hin zur regelmäßig gemeinsamen Verantwortung zur Umsetzung eines jeden Urteils (Artikel 3). Soweit der Beteiligungsmechanismus in der Praxis gut funktioniert, mag er eine pragmatische Zwischenlösung darstellen, auch wenn Verfechter der supranationalen Gemeinschaftsmethode in Reinform hinterfragen werden, warum der Mitgliedstaat und die Union regelmäßig für eine Vertragsverletzung „gemeinschaftlich verantwortlich“ sein sollen, wenn die EU – wie bei der Beschlagnahme des Flugzeugs – die alleinige rechtliche Verantwortung trägt. Dies ist jedoch nicht das einzige Problem. Der Vertragsentwurf berücksichtigt einige Besonderheiten der EU-Rechtsordnung und umschifft dennoch nicht alle Klippen.
Fallstricke des freiwilligen Beteiligungsmechanismus
Den meisten Lesern dieses Blogs dürfte bekannt sein, dass die Berufung auf Grundrechte vor dem EuGH – nicht anders als vor dem BVerfG – nur selten zur Nichtigkeit einer Regelung führt (der aktuelle Streit um die Grundrechtskonformität der Vorratsdatenspeicherung könnte solch ein Fall sein). Zumeist ist die Wechselwirkung zwischen Gesetzen und Grundrechten indirekter, wenn der EuGH (ebenso wie das BVerfG) eine gesetzliche Regelung im Lichte der Grundrechtecharta auslegt und hierbei die Grundrechte im Wege der Konformauslegung schützt. Eben dieses indirekte Vorgehen kennzeichnet die Präsenz der Charta in der neueren Judikatur des EuGH, wenn die Grundrechte integraler Bestandteil der regulären juristischen Auslegungsmethoden werden.
Im Gegensatz hierzu konzentriert sich der Entwurf des Beitrittsübereinkommens auf Gültigkeitsfragen, wenn als Anwendungsschwelle für den Beteiligungsmechanismus auf Streitigkeiten verwiesen wird, die „die Vereinbarkeit von Unionsrecht mit der Konvention infrage stellen“ – und zwar „insbesondere in Situationen, wenn ein Mitgliedstaat eine Verletzung der Konvention nur durch die Nichtbeachtung von Unionsrecht vermeiden hätte können.“ Derartige Streitfälle mögen die spannendsten sein, aber die Luxemburger Richter wissen ganz genau, dass derartige Foto Frost-Konstellationen nicht das Alltagsgeschäft der Rechtsprechung darstellen. Nach meiner Überzeugung wurde die Anwendungsschwelle für den Beteiligungsmechanismus zu eng konzipiert. Die EU sollte nicht vorrangig beteiligt werden, wenn die Gültigkeit von Unionsrecht auf dem Spiel steht.
Nun trifft es zu, dass der Vertragsentwurf den EGMR zur großzügigen Deutung der Anwendungsschwelle anhält, wenn die Richter in Straßburg einzig die „Plausibilität“ beurteilen sollen, ob „offenbar“ die Anwendungsvoraussetzungen erfüllt sind. Dies ändert aber nichts daran, dass der EGMR das Recht besitzt, die EU-Beteiligung zurückzuweisen. Für die Praxis weitaus relevanter ist zudem die Risikoverteilung. Die Verantwortung für die proaktive Identifikation der entscheidenden Verfahren überträgt der Vertragsentwurf der EU. Wenn die Kommission unter den 21.189 Beschwerden, die im vergangenen Jahr gegen alle 28 EU-Mitgliedstaaten in Straßburg eingereicht wurden, einzelne wichtige Verfahren übersieht und den Beteiligungsmechanismus nicht aktiviert, bleibt die Europäische Union ausgeschlossen. Die Mitgliedstaaten tragen dieses Risiko nicht.
Schutz der Autonomie des Unionsrechts …
Ein Hauptgrund für die Verständigung auf den Beteiligungsmechanismus waren Sorgen um die Autonomie der Unionsrechtsordnung, weil der EuGH den ursprünglichen Entwurf des Übereinkommens für den Europäischen Wirtschaftsraum als vertragswidrig eingestuft hatte, weil dieser dem seinerzeit geplanten EWR-Gerichtshof die Befugnis zur Abgrenzung nationaler und europäischer Zuständigkeiten bei der Identifikation des richtigen Klagegegners übertragen hatte. Eben diese Untiefe umschifft der aktuelle Entwurf des EMRK-Beitrittsübereinkommens erfolgreich. Freilich hat dieser Schutz der Autonomie der Unionsrechtsordnung einen hohen Preis, falls das Beitrittsübereinkommen die effektive Anwendung des Unionsrechts unterminieren sollte.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe keinerlei Einwände gegen eine Aufsicht des EGMR über das Unionsrecht. Im Gegenteil. Die umfassende und bedingungslose Unterwerfung des Unionsrechts unter das Konventionssystem ist überfällig. Meine Vorbehalte betreffen einzig die (unbeabsichtigten) Nebenwirkungen des Beteiligungsmechanismus für die praktische Wirksamkeit und einheitliche Auslegung des Unionsrechts durch nationale Gerichte. Die Gefahr ist nicht die Kontrolle des EuGH durch den EGMR sondern eine EGMR-Aufsicht anstelle des EuGH.
… zu Lasten der effektiven Wirksamkeit
In der Praxis funktioniert der indirekte Vollzug des Unionsrechts überaus gut, weil der EuGH eine Reihe von Schutzmechanismen entwickelte, welche die praktische Wirksamkeit und die einheitliche Auslegung des Unionsrechts durch nationale Gerichte sichern. Prozedurales Rückgrat dieses Systems ist das Vorabentscheidungsverfahren, das der EuGH überaus sorgsam schützt, indem er eine Staatshaftung bei Nichtvorlage androht, die obligatorische vorrangige Einschaltung nationaler Verfassungsgerichte verbietet oder auch eine außervertragliche europäische Patentgerichtsbarkeit verhindert und damit Hürden für einen wirksamen Dialog mit den nationalen Richtern aus dem Weg räumt.
Wenn der EuGH den Entwurf des Beitrittsübereinkommens zur EMRK durchwinkt, ergibt sich für nationale Gerichte ein Anreiz, auf eine eigene Vorlage nach Luxemburg zu verzichten. Sie könnten nämlich darauf verweisen, dass der EuGH ganz gewiss später eingeschaltet würde, wenn sich die Europäische Union aufgrund des Beteiligungsmechanismus an einer Grundrechtsbeschwerde in Straßburg beteiligt. Tatsächlich statuiert der Vertragsentwurf explizit die Möglichkeit, den EuGH im Rahmen des Beteiligungsmechanismus vor dem EGMR anzurufen, soweit Luxemburg bislang nicht über die einschlägigen Rechtsfragen entschieden hat (Artikel 3 Absatz 6). Eben diese EuGH-Anrufung ist jedoch an die Aktivierung des Beteiligungsmechanismus geknüpft. Wenn die Kommission dies nicht beantragt oder, was theoretisch denkbar wäre, der EGMR die Beteiligung mit Blick auf die hohe Anwendungsschwelle verbietet, wird Luxemburg nicht gehört werden.
Hinzu kommt, dass nationale Höchstgerichte in der Zukunft einen weiteren Anreiz besitzen werden, um Grundrechtsstreitigkeiten ungeachtet ihrer Verpflichtungen aus dem EU-Recht nicht dem EuGH vorzulegen. Nationale Höchstgerichte werden nämlich aufgrund des Protokolls Nr. 16 zur EMRK, das im Oktober diesen Jahres unterschrieben werden wird, eine neuartige Möglichkeit für einen Gutachtenantrag in Straßburg besitzen. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass nationale Höchstgerichte in Fällen mit EU-Bezug zuerst den EuGH anrufen, nur um später einen weiteren Gutachtenantrag an den EGMR zu senden (oder umgekehrt). Dies mag in Sonderkonstellationen der Fall sein. In Alltagskonstellationen jedoch, in denen EU-Recht in Einzelaspekten grundrechtskonform ausgelegt wird, werden nationale Höchstgerichte einer langwierigen Doppelvorlage ausweichen.
Weiteres Vorgehen
Vor 40 Jahren war der EuGH mit der Frage befasst, ob das Unionsrecht den Mitgliedstaaten den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags über einen Sachgegenstand erlaube, der Gegenstand einer EU-Rechtsharmonisierung war. Die Antwort aus Luxemburg war klar und mutig: Die Mitgliedstaaten dürfen „keine [völkerrechtlichen] Verpflichtungen eingehen, welche [EU-Recht] beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können.“ Die Logik dieser Rechtsansicht überzeugt bis heute. Es soll eine Situation vermieden werden, in der ein nationales Gericht zwischen der Anwendung von Unionsrecht und einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten über denselben Sachgegenstand auswählt, indem den EU-Organen der völkerrechtliche Vertragsschluss überantwortet wird. Aus diesem Grund verhandelt die Kommission im Namen der EU in der WTO oder über den Abschluss von Luftverkehrsabkommen – und zwar auch in Bezug auf Sachverhalte, in denen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht durchführen.
Freilich folgen die Zurechnungsregeln im Entwurf des Beitrittsübereinkommens einer anderen Logik. Sie weisen den handelnden Mitgliedstaat als primären Beschwerdegegner bei der Durchführung von Unionsrecht aus. Dies mag die Auslegungshoheit des EuGH für die unionsinterne Zuständigkeitsabgrenzung in Fortfolge des ersten EWR-Gutachtens schützen, unterminiert jedoch die praktische Wirksamkeit sowie die einheitliche Auslegung und damit letztlich den Vorrang des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Auf diese Gefahr möchte ich mit diesem Blogbeitrag hinweisen. Kritiker werden ganz Gewiss einwenden, dass die Unionsrechtsordnung stabil genug sei, um derartige Herausforderung an den Vorrang in der Rechtspraxis auszuhalten. Dies mag zutreffen, ändert jedoch nichts an ihrer Existenz und an der Notwendigkeit einer offenen Diskussion.
Was soll Luxemburg im Gutachten 2/13 entscheiden? Eine mutige Lösung würde die Rückkehr zum Verhandlungstisch anordnen, um die Zurechnungsregeln und die Anwendungsschwelle für den Beteiligungsmechanismus unionsrechtskonform auszugestalten. Dies wäre keine Katastrophe, weil die Verhandlungen schnell durchgeführt werden könnten, wenn Luxemburg klare Anweisungen erteilte (ein Inkrafttreten des Beitrittsübereinkommens setzt ohnehin die Ratifikation durch die EU sowie alle 47 Mitglieder des Europarats voraus, was Jahre beanspruchen dürfte). Alternativ könnten die Richter technische Verbesserungen auf der Durchführungsebene anordnen, etwa ein wirkungsvolles Screening aller Beschwerden gegen die Mitgliedstaaten durch die Kommission sowie eine quasi-automatische Aktivierung des Beteiligungsmechanismus anstelle einer förmlichen Ratsentscheidung nach Artikel 218 Absatz 6 AEUV. Das Ziel des Gerichtshof jedenfalls steht fest: unterstütze eine wirkungsvolle Kontrolle des Unionsrechts durch den EGMR und verhindere dennoch, dass dieser an die Stelle des EuGH tritt.