This article belongs to the debate » Die EU als Mitglied der Menschenrechts-Konvention
18 December 2014

Oops! We did it again – das Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt der EU

Heute hat der EuGH die Frage der Europäischen Kommission „Ist der Entwurf des Vertrags über den Beitritt der Europäischen Union zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit den Verträgen vereinbar?“ mit einem klaren „Nein“ beantwortet (Guachten 2/13). Diese Antwort ist für viele wohl überraschend, nicht zuletzt für diejenigen, die an der Verfassung des Entwurfs des Beitrittsübereinkommens (ÜE) beteiligt waren. Deren Ziel ein Übereinkommen zu hervorzubringen, das die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts mit dem EMRK-System vereinbart, wurde klar nicht erreicht. Nachdem der EuGH einen früheren Versuch eines Beitritts als mit den Verträgen unvereinbar angehesehen hatte (Gutachten 2/94), hat er es nun wieder getan. Er hat damit seinen Widerwillen bestätigt, die Unionsrechtsordnung (und insbesondere seine eigenen Urteile) einer externen Prüfung durch den EGMR zu unterwerfen. Der EuGH nahm an nahezu jedem Gesichtspunkt des ÜE, inklusive dessen Hauptbestandteilen, dem Mitbeschwerdegegnermechnismus und dem Verfahren zur Vorbefassung des Gerichtshofs, Anstoß.

Das Gutachten des Gerichtshofs hat zwei Angelpunkte: die Autonomie des EU-Rechts und die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH. Die Bedeutung der Autonomie des Unionsrechts für diese Stellungnahme kann auf Folgendes reduziert werden: einem internationalen Gericht darf nicht die Zuständigkeit für eine verbindliche Auslegung des Unionsrechts übertragen werden, insbesondere nicht über die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten (für Details zur Autonomie s. hier). Darüber hinaus hat gemäß Artikel 344 AEUV der EuGH die ausschließliche Zuständigkeit zur Auslegung des Unionsrechts. Da der Beitritt der EU zur EMRK den EGMR befugen würde, über die Vereinbarkeit von Handlungen und Unterlassungen der Union mit der EMRK zu entscheiden, ist es nicht schwer zu sehen, warum diese beiden Konzepte sowohl für die Beitrittsverhandlungen als auch für das Gutachten von zentraler Bedeutung waren.

Dieser kurze Blog-Beitrag kann der enormen Komplexität des Gutachtens selbstverständlich nicht gerecht werden (ganz zu schweigen von der Stellungnahme der Generalanwältin). Ich werde mich daher auf die wichtigsten vom EuGH festgestellten Mängel beschränken und diese kurz analysieren (wenn auch nicht in der gleichen Reihenfolge wie der EuGH). Anschließend folgen noch einige allgemeine Bemerkungen.

Die ersten drei hier angesprochenen Punkte betreffen die oben genannten Hauptbestandteile des ÜE.

Der EuGH hielt zunächst den Mitbeschwerdegegnermechnismus für nicht mit der Autonomie des Unionsrechts vereinbar. Der Mechanismus ermöglicht es, die EU als Mitbeschwerdegegner vor dem EGMR in Fällen einzubeziehen, in denen die Vereinbarkeit einer Bestimmung des EU-Rechts mit der EMRK in Frage steht (Artikel 3 (3) ÜE). Der Mechanismus soll es der Union erlauben, in Verfahren, die die Vereinbarkeit des Unionsrecht mit der EMRK betreffen, in vollem Umfang teilzuhaben. In diesem Zusammenhang kritisierte der EuGH das Verfahren für die Einbeziehung der Union auf Antrag des Mitgliedstaats. Denn der EGMR müsste laut ÜE in einem solchen Fall entscheiden, ob es „plausibel“ ist, dass die Voraussetzungen für die Einbeziehung vorliegen. Dies würde nach Ansicht des EuGH eine Prüfung der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten beinhalten, die ohne eine Verletzung der Autonomie des Unionsrechts nicht möglich wäre. Dies stellt meines Erachtens einen überaus strengen Ansatz dar, ist doch die Überprüfung der Plausibilität einer Verletzung der Konvention durch das Unionsrecht, äußerst oberflächlich. Zudem führt sie nicht zu einer bindenden Auslegung der Kompetenzverteilungsregeln.

Etwas überzeugender ist die Kritik des EuGH an den Regeln über die Haftung im Fall einer Verurteilung. Grundsätzlich sieht der ÜE eine gemeinsame Haftung vor, wobei die Union und die betroffenen Mitgliedstaaten vorbringen können, dass nur einer von ihnen haften soll. Dass hier die Autonomie des Gemeinschaftsrechts betroffen sein kann, ist nicht von der Hand zu weisen.

Zudem hielt der EuGH es für problematisch, dass der ÜE es zulassen könnte, dass ein Mitgliedstaat als Beschwerdegegner im Fall einer Einbeziehung der EU als Mitbeschwerdegegner für eine Verletzung der EMRK verantwortlich gehalten werden könnte, obwohl er bezüglich der fraglischen Verletzung einen Vorbehalt erklärt hat. Dies verstoße gegen Protokoll Nr. 8 zum Lissaboner Vertrag, wonach der ÜE die besondere Situation der Mitgliedstaaten unberührt lassen müsse. Allerdings betrifft dies einen äußerst unrealistischen Fall, da doch die Union nur dann Mitbeschwerdegegnerin sein kann, wenn ein Mitgliedstaat Beschwerdegegner ist. Dies setzt wiederum voraus, dass der Mitgliedstaat nach der Konvention verantwortlich ist, was im Fall eines Vorbehalts doch nicht der Fall wäre. Es scheint also, als ob dieses Problem schon durch das EMRK-System selbst geregelt würde, so dass das Einschreiten des EuGH hier verwundert.

Zweitens meldete der Gerichtshof Bedenken hinsichtlich der Vorabbefassung des EuGH in Mitbeschwerdegegnerfällen an. Auch nach einem Beitritt würden die meisten Verfahren den EGMR erst erreichen, nachdem das Verfahren in einem Mitgliedstaat durch sämtlichste Instanzen gegangen ist. Es allerdings keine Garantie dafür, dass der EuGH durch eine Vorlage in einem solchen Fall in das Verfahren mit einbezogen wurde und zu der angeblichen Grundrechteverletzung durch eine Unionsvorschrift Stellung nehmen konnte. Um dem subsidiären Charakter der EMRK Rechnung zu tragen, sieht der ÜE eine Vorabbefassung des EuGH in Fällen vor, in denen er Vereinbarkeit der fraglichen Bestimmung mit der EMRK noch nicht überprüft hat (Artikel 3 Abs 6 ÜE). Nach dem ÜE entscheidet der EGMR, ob die Voraussetzungen für die Vorabbefassung vorliegen. Genau das ist laut EuGH nicht zulässig, da dies „nämlich darauf hinaus [liefe], [dem EGMR] die Zuständigkeit für die Auslegung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu übertragen.“ Dies sei mit den Verträgen unvereinbar. Zudem kritisert der EuGH auch, dass die Vorabbefassung auf Fälle beschränkt sei, die die Gültigkeit von Unionsrecht zum Gegenstand haben und verlangte, dass die Vorabbefassung auch in Fällen möglich sein müsse, bei denen (nur) die Auslegung des Unionsrechts notwendig sei (Daniel Thym hatte also recht).

Drittens stand die ausschließliche Zuständigkeit auch im Mittelpunkt der Überprüfung von Artikel 5 ÜE. Dieser hat den Ausschluss von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten (bzw. zwischen der Union und den Mitgliedstaaten) vor dem EGMR zum Ziel und damit den Schutz der ausschließlichen Zuständigkeit des EuGH. Es ist vielleicht wenig überraschend, dass dem EuGH Artikel 5 ÜE nicht weit genug ging, da er ausdrücklich die Zuständigeit des EGMR nicht ausschließt. Jedoch ist zu bedenken, dass die Erläuterungen zum ÜE es klarstellen, dass die Anwendung von Artikel 344 AEUV davon nicht berührt wird, so dass auch hier eine weniger strenge Sichtweise möglich gewesen wäre.

Die übrigen vier vom EuGH festgestellten Defizite des ÜE befassen sich nicht unmittelbar mit den dort niedergelegten Vorschriften, sondern sind eher allgemeiner Natur. Manche muten sogar etwas esoterisch an. Sie bestätigen jedoch nochmals die robuste Art, in der der Gerichtshof das Übereinkommen ablehnt.

Der Gerichtshof schenkte zunächst Zusatzprotokoll Nr. 16 zur EMRK, das noch nicht in Kraft ist (!) Beachtung. (hierzu schon Streinz). Das Protokoll wird es den höchsten Gerichten der Staaten, die es ratifizieren, erlauben, vom EGMR Gutachten anzufordern. Der EuGH befürchtete, dass falls ein mitgliedstaatliches Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würde, das Vorabentscheidungsverfahren umgangen werden könnte, da das Gutachten zu einer Vorabbefassung des EuGH führen könnte. Der Gerichtshof lässt es dabei völlig offen, wie es denn dazu kommen soll, da das ÜE eindeutig die Vorabbefassung des Gerichtshofs auf Mitbeschwergegnerverfahren beschränkt. Zudem lässt der EuGH hier außer acht, dass ein Gutachten nach Protokoll Nr. 16 für das nationale Gericht nicht bindend wäre und es auch nicht von seiner Vorlagepflicht nach Artikel 267 Abs. 3 AEUV entbinden würde (hierzu Marten Breuer). Dieser Teil des Gutachtens ist schwer nachzuvollziehen.

Des weiteren entschied der EuGH, dass das ÜE die Besonderheiten der Grundrechtecharta (GRC), insbesondere von Art. 53 GRC, beachten müsse. Dem liegt zugrunde, dass es Art. 53 EMRK den Konventionsparteien erlaubt, einen besseren Menschenrechtsschutz zu gewähren. Der EuGH sah darin aber die Gefahr, dass die Grenzen des Art. 53 GRC umgangen werden könnten. Einem unbefangen Leser mag dies komisch vorkommen. Schließlich scheint Art. 53 GRC mehr oder weniger dasselbe zu regeln wie Art. 53 EMRK. Jedoch darf man hierbei nicht die Melloni Entscheidung des EuGH vergessen, auf die er im Gutachten auch ausdrücklich Bezug nimmt: nur wenn der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden, kann ein Mitgliedstaat seinen eigenen (besseren) Schutzstandard anwenden. Daher verlangt der Gerichtshof, dass die beiden Art. 53 aufeinander abgestimmt werden (was auch immer das in der Praxis heißen mag), damit eine Beeinträchtigung des in der GRC vorgesehen Schutzniveaus nicht stattfindet. Dieses Argument wird nicht nur auf eine sonderbare Weise vorgetragen, sondern ist auch ein wenig irreführend. Denn letztlich geht es nicht um die Gewährleistung eines höheren Standards, sondern darum, dass sich kein Grundrechtestandard durchsetzen kann, der besser ist als der nach Unionsrecht.

Der Gerichtshof verlangte drittens, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere im Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts, unter allen Umständen gewährleistet bleibt. Dieser Grundsatz lässt es beispielsweise nicht zu, dass ein Gericht eines Mitgliedstaates die Ausführung eines europäischen Haftbefehls deswegen verweigert, weil er gegen Grundrechte verstößt. Denn das Gericht ist verpflichtet, der Rechtsordnung des Mitgliedstaates, der den Haftbefehl veranlasst hat, und dem dort bestehenden Grundrechtsschutz zu vertrauen. Der EuGH hält diesen Grundsatz für so fundamental, dass der ÜE es hätte sicherstellen müssen, dass nach einem Beitritt zur EMRK, ein mitgliedstaatliches Gericht (und damit nach Erschöpfung des Rechtswegs der EGMR) nicht in der Lage wäre, zu überprüfen, ob die Rechtsordnung des Mitgliedstaates, der die Maßnahme ausgestellt hat, die Grundrechte beachtet hat. Wenn man bedenkt, dass Maßnahmen im Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts als einer der Schwachpunkte des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes anzusehen sind, kann man diesen Abschnitt des Gutachtens als einen Versuch werten, einen der aus grundrechtlicher Sicht problematischsten Gesichtspunkte der Unionsrechtsordnung dem EGMR von vornherein zu entziehen.

Viertens verlangte der EuGH, dass der EGMR keine Zuständigkeit über Maßnahmen der GASP erhält. Über manche dieser Maßnahmen hat auch der EuGH selbst derzeit keine Zuständigkeit (zB Verteidigungsmaßnahmen, s. Art. 40 EUV und 275 AEUV). Insofern es um solche Maßnahmen geht, hält es der EuGH für unvereinbar mit dem Unionsrecht, die Rechtsprechung darüber einem unionsexternen Organ anzuvertrauen. In gewisser Weise ist das sonderbar, denn in vielen Mitgliedstaaten ist die Außen- und Sicherheitspolitik weitgehend der Zuständigkeit der Gerichte entzogen. Trotzdem sind diese Mitgliedstaaten Parteien der EMRK und damit der Zuständigkeit des EGMR unterworfen. Zudem kommt der Verdacht auf, dass der EuGH hier durch die Hintertür seine eigene ausschließliche Zuständigkeit paradoxerweise auf Bereiche ausgedehnt hat, für die er keine Zuständigkeit besitzt.

Nachdem hier kurz auf die nach Ansicht des EuGH bestehenden Hauptprobleme des ÜE eingegangen wurde, folgen nun ein paar kurze allgemeine Bemerkungen. Es erscheint erstens so als ob der EuGH Sand ins Getriebe des EMRK Beitritts streuen wollte. Er bringt seine Kritik nicht nur punktuell an, sondern erstreckt sie auf alle Bereiche des ÜE. Das könnte gut dazu führen, dass der Beitritt praktisch unmöglich wird. Es gibt beispielsweise keinen Grund warum die der EMRK unterworfenen nicht-Mitgliedstaaten politisch den weitreichenden vom EuGH geforderten Ausschlüssen (des Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts; der GASP; von Art. 53 GRC) zustimmen sollten. Zweitens wird die kompromisslose Haltung des EuGH dadurch unterstrichen, dass er mehrfach eine wasserdichte Lösung im ÜE selbst verlangt. Jedoch könnten viele der vom EuGH identifizierten Probleme EU-intern gelöst werden, z.B. durch die Vereinbarung von intern verbindlichen Regeln oder durch Anwendung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit. Das wäre sicherlich möglich, was Zusatzprotokoll Nr. 16 anbelangt, aber auch im Hinblick auf Art. 5 ÜE und den Mitbeschwerdegegnermechanismus. Diese Externalisierung von intern lösbaren Problemen scheint mir eine neue und bedenkliche Entwicklung zu sein, da sie die EU zu einem noch schwierigeren internationalen Partner macht. Drittens liegt dem Gutachten eine gewisse Ironie zugrunde: ganz am Anfang seiner Ausführungen stellt der EuGH klar, dass die EU kein Staat nach internationalem Recht sei, was nach herkömmlicher Lesart bedeuten würde, dass sie offener für eine internationale Integration sein sollte als Staaten. Jedoch lassen die kompromisslose Haltung des EuGH und sein Bestehen auf der Erhaltung der autonomen Rechtsordnung nur den gegenteiligen Schluss zu.

Was nun? Es ist klar, dass die Verhandlungen zum ÜE wieder aufgenommen werden müssen. Während manche Probleme durch ein Nachbessern am Text des ÜE relativ leicht beseitigt werden können, dürfte es bei anderen schwieriger werden (hier bedarf das Gutachten einer strengeren Analyse), vor allem auch was deren politische Durchsetzung betrifft. Es lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, dass der Gerichtshof den EMRK Beitritt vielleicht nicht unmöglich, aber wohl sehr schwierig gestalten wollte. Das ist insbesondere überraschend, weil er sich sehr aktiv in die Verhandlungen eingeschaltet hatte, indem er ein Reflexionspapier sowie die gemeinsame Erklärung der beiden Gerichtspräsidenten herausgab, und am Ende bekam, was er gefordert hatte.