21 April 2017

Türkei-Referendum vor dem EGMR: Warum der Gang nach Straßburg diesmal wohl nicht helfen wird

Nachdem die türkische Wahlkommission den Antrag einiger Oppositionsparteien auf Annullierung des Verfassungsreferendums vom 16. April verworfen hat, erwägt die oppositionelle CHP Medienberichten zufolge den Gang nach Straßburg. Dem halten türkische Spitzenpolitiker entgegen, der EGMR sei hierfür nicht zuständig. Was ist hiervon zu halten?

Zunächst einmal haben wir uns schon daran gewöhnt, dass politische Auseinandersetzungen aus der Türkei schlussendlich in Straßburg ausgetragen werden. Die Liste der Parteiverbotsverfahren, die auf den Prüfstand des EGMR gestellt wurden, ist lang – zumeist mit Ausgang zugunsten der Beschwerde führenden Parteien. (Nicht zuletzt diese Straßburger Rechtsprechung hat im Übrigen das deutsche Bundesverfassungsgericht dazu bewogen, im neuerlichen NPD-Verbotsverfahren nachzusteuern!) Doch geht es hier nicht um ein Parteiverbot, sondern um die Teilnahme an einem nationalen Referendum.

Die Tatsache, dass das Referendum Bestimmungen aus der Verfassung zum Gegenstand hatte, ist aus Sicht der EMRK irrelevant. Es gibt keinen „Verfassungsvorbehalt“ in der EMRK, insoweit ganz völkerrechtlicher Sichtweise entsprechend. In der Vergangenheit hat es durchaus schon Fälle gegeben, in denen der EGMR eine Verfassungsbestimmung beanstandet hat – der Fall Anchugov und Gladkov über den Ausschluss Strafgefangener vom Wahlrecht in Russland ist hierfür nur ein besonders prominentes Beispiel. Dass ferner bei dem Referendum der Souverän, das Volk, zu Worte kam, steht einer konventionsrechtlichen Kontrolle gleichfalls nicht entgegen. Man denke hier nur an das Schweizer Minarettverbot, das zwar vom EGMR (noch?) nicht beanstandet worden ist, dessen Vereinbarkeit mit der EMRK aber erheblichen Zweifeln unterliegt.

Was also macht die türkische Seite so sicher, dass die CHP mit einer Beschwerde in Straßburg keinen Erfolg haben wird? Und das, obwohl die Liste der Beanstandungen durch die OSZE-Beobachtermission lang ist?  Die Frage, auf die letztlich alles zusteuert, ist die nach der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Denn auf welches Recht sollte sich die CHP berufen können? Als erstes fällt einem hierzu Artikel 3 des Ersten Zusatzprotokolls ein. Dort ist in der Tat die Rede von der „freien Äußerung der Meinung des Volkes“, und  daran kann man nach allem, was den Medien zu entnehmen war (massive Einschüchterungen im Wahlkampf; Zulassung auch ungestempelter Stimmzettel usw.), ernsthafte Zweifel haben. Nur: Art. 3 ZP-EMRK gilt eben nicht für alles und jedes, sondern nur bei der „Wahl der gesetzgebenden Körperschaften“. Darunter versteht der EGMR die Legislative – nicht notwendigerweise das gesamtstaatliche Parlament, erfasst sind beispielsweise auch Wahlen zu den Landesparlamenten. Zudem hat der EGMR im Matthews-Fall entgegen früherer Straßburger Spruchpraxis das Europaparlament unter den Begriff des Legislativorgans gefasst. Ausdrücklich abgelehnt hat er aber bislang, Referenden unter den Begriff der Wahl zu einer gesetzgebenden Körperschaft zu fassen (Fall Hilbe gegen Liechtenstein). An diese Rechtsprechung ist er zwar nicht streng gebunden – es bedürfte aber schon einiger Phantasie, um das türkische Verfassungsreferendum zu einer „Wahl der gesetzgebenden Körperschaft“ umzumünzen. Jedenfalls wäre zu erwarten, dass eine derart weitreichende Korrektur von der Großen Kammer vorgenommen wird. Die CHP kann das probieren – für wahrscheinlich halte ich eine Rechtsprechungsänderung nicht.

Hilft also Art. 3 ZP-EMRK nicht weiter, wäre noch an Art. 13 EMRK zu denken. Wiederum nach Auskunft der türkischen Regierung kann die Entscheidung der Wahlkommission nicht gerichtlich angefochten werden. Das könnte auf eine Verletzung des Art. 13 EMRK hindeuten – im Ergebnis hätte eine Beschwerde meines Erachtens aber ebenfalls keine Aussicht auf Erfolg. Denn zum einen verlangt Art. 13 EMRK nicht zwingend einen gerichtlichen Rechtsbehelf, sondern spricht allein von einer „wirksamen Beschwerde“. Darunter fällt prima facie auch das Verfahren vor der Wahlkommission. Ob dieses den Titel „wirksam“ verdient, vermag ich mangels Einblicken in die türkische Rechtswirklichkeit nicht zu beurteilen. Aber selbst wenn hier Defizite bestehen sollten, so spricht gegen eine Verletzung des Art. 13 EMRK zudem dessen akzessorischer Charakter. Garantiert wird eine wirksame Beschwerde (lediglich) wegen behaupteter Verletzung eines Konventionsrechts (Verletzungen der Zusatzprotokolle stehen dem gleich). Und hier beißt sich die Katze gewissermaßen in den Schwanz: Da Art. 3 ZP-EMRK von seinem Schutzbereich her nicht eröffnet ist, läuft auch Art. 13 EMRK insoweit leer.

Allerdings gibt es noch eine weitere Bestimmung in der EMRK, die – im Unterschied zu Art. 13 – einen gerichtlichen Rechtsbehelf verlangt, nämlich Art. 6 Abs. 1 EMRK. Doch ist der Schutzbereich dieser Vorschrift wiederum eingeengt: Sie kommt nur zum Zuge bei Streitigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche“ oder „strafrechtliche Anklagen“. Bei aller konventionsautonomen Interpretation dieser Begriffe – es fällt mir schwer, die Teilnahme am Verfassungsreferendum unter eine dieser beiden Alternativen zu fassen.

Nicht ausschließen kann ich, dass im Zuge des Verfassungsreferendums begangene Konventionsverletzung mit Erfolg in Straßburg gerügt werden, etwa Verstöße gegen die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit (Art. 10, 11 EMRK). Doch dürfte es sich dabei um Vorfälle handeln, die zwar mit dem Referendum in Zusammenhang stehen, aber nicht die Gültigkeit des Referendums als solche betreffen.

Wie man es auch dreht und wendet: Es fällt schwer, das Verfassungsreferendum in der Türkei in den Anwendungsbereich der EMRK zu bringen. Auch wenn die EMRK nach ihrer Präambel auf die Etablierung einer „wahrhaft demokratische[n] politische[n] Ordnung“ ausgerichtet ist, so führen doch selbst massive Verstöße gegen etablierte Standards nicht automatisch dazu, dass die Zuständigkeit des EGMR eröffnet wäre. Der Generalsekretär des Europararates Jagland wird in den Medien mit den Worten zitiert, es gebe keine internationale Instanz, die Referenden in irgendeinem Land annullieren könne – das deckt sich mit dem hier gewonnenen Ergebnis.

Ist der Europarat also zur Tatenlosigkeit verdammt? Nicht ganz. Schon im Vorfeld des Verfassungsreferendums hat sich die Venedig-Kommission des Europarates kritisch zu Wort gemeldet (Opinion No. 875/2017). Im Unterschied zum EGMR ist die Venedig-Kommission kein Gericht, sondern ein mit hochangesehenen Verfassungsexperten besetztes Beratungsgremium. Ursprünglich lag der Fokus der Kommission ganz auf den Staaten Mittel- und Osteuropas, heute wird sie ganz allgemein zu Zwecken des „constitutional engineering“ eingesetzt. Die Mittel der Venedig-Kommission sind ohne Zweifel begrenzt, sie ist wesentlich auf die Befolgung durch den jeweils betroffenen Staat angewiesen. Dass die Türkei unter Präsident Erdogan hierzu nicht bereit sein wird, steht zu erwarten. Doch ist die Venedig-Kommission einer der Kanäle, um (im Verbund mit Europäischer Union und OSZE) den politischen Druck auf die Türkei zu erhöhen. Das ist wenig genug, gewiss, aber mehr gibt die Rechtslage momentan nicht her.


SUGGESTED CITATION  Breuer, Marten: Türkei-Referendum vor dem EGMR: Warum der Gang nach Straßburg diesmal wohl nicht helfen wird, VerfBlog, 2017/4/21, https://verfassungsblog.de/tuerkei-referendum-vor-dem-egmr-warum-der-gang-nach-strassburg-diesmal-wohl-nicht-helfen-wird/, DOI: 10.17176/20170421-150617.

6 Comments

  1. Dominic Schelling Sat 22 Apr 2017 at 18:03 - Reply

    Ich bin der Auffassung, dass grundlegende Änderungen der politischen Ordnung durch eine Volksabstimmung durch den EGMR auf keinen Fall gerichtlich beurteilt werden sollte. Es ist eine Willensäusserung über das politische System als ganzes. Natürlich verurteile ich das was Erdogan und seine Clique da veranstaltet haben, denn dies hat mit Demokratie nichts zu tun. Europa muss eine politische Antwort finden. Sollte hier im Verfassungsblog nicht darüber diskutiert werden, ob die Türkei überhaupt noch Mitglied des
    Europarates sein kann? Was sind die Voraussetzungen an ein politisches System eines Landes und deren Verfassungsordung, um Mitglied zu sein und es auch bleiben zu können? Diese Fragestellungen betreffen ja nicht nur die Türkei, sondern auch Russland und vielleicht sogar Ungarn. Kann es ein autoritäres Regime geben, dass sich an Urteile des EGMR hält? Wäre dann die Mitgliedschaft sogar einer Diktatur angebracht, um die Menschen dort schützen zu können?

  2. Maximilian Steinbeis Sat 22 Apr 2017 at 19:00 - Reply

    Das ist ein bisschen offtopic, aber ich wäre ehrlich gesagt sehr dagegen, die Türkei aus dem Europarat zu werfen – im Gegenteil, solche völkerrechtlichen Bindungen sind doch das letzte, was die demokratischen Kräfte dort noch haben. EGMR, Venedig-Kommission, Menschenrechtskommissar, das sind Institutionen, die das Recht und die Pflicht haben, sich einzumischen; die kann Erdogan nicht einfach als Ausländer wegschnipsen, die das alles nichts angeht. Er kann sie zwar ignorieren, aber setzt sich damit ins Unrecht, und das ist eine Menge wert. Das von Seiten des Europarats preis zu geben nach dem Motto: ihr seid bäh, ihr dürft nicht mehr mitmachen, wäre regelrecht töricht.

  3. Bernd Sun 23 Apr 2017 at 08:39 - Reply

    @Schelling: Ihre Frage beantwortet sich durch einen Blick in Art. 8 der Satzung des Europarates.

  4. Dominic Schelling Sun 23 Apr 2017 at 13:25 - Reply

    @Bernd und Steinbeis: Ich habe die Satzung nochmals gelesen. Ich gebe Ihnen recht Herr Steinbeis, dass ein Ausschluss töricht wäre. Oftopic ist es aber nicht. Der Artikel von Herrn Breuer zeigt klar auf, dass es von seitens des EGMR keine direkte Handhabe gibt, dafür aber politische Instrumente wie die Empfehlungen der Venedig-Kommission. Postuliert aber nicht die Satzung des Europarates, dass alle Mitglieder sich der Förderung eines rechtlichen Rahmens verpflichten, der vereinfacht gesagt, einen rechtlichen “Grundschutz” für alle Einwohner der Mitgliedsländer ermöglicht. Wie Herr Bremer ausführt, kann zwar eine solche Abstimmung nur schwer durch den EGMR beanstandet werden aber die Türkei verletzt in eklatanter Weise die Bestimmungen der Satzung, in dem sie sich von der gemeinsamen Förderung einer Menschenrechtskonformen Rechtsordnung klar verabschiedet. Somit postuliert doch die Satzung eine politische/rechtliche Handhabung die ergriffen werden sollte. Wie sollen wir Schweizer ein EGMR-Urteil zum Minarett-Verbot akzeptieren, wenn da zu wenig unternommen wird. Dann kann man sagen: Was kümmert uns Straßburg, es bleibt ja folgenlos. Ich warne eindringlich davor!

  5. Maximilian Steinbeis Sun 23 Apr 2017 at 15:08 - Reply

    Politisch würde ich es eher umgekehrt sehen: Türkei und Russland sind seit Jahren die Outlier, sowohl bei der Fallzahl als auch bei der Nichtumsetzung von EGMR-Urteilen (hab ich jetzt nicht überprüft, aber so in Erinnerung). Die westeuropäischen Verfassungsstaaten sind, ganz abgesehen von ihrer rechtlichen Bindung, auch politisch in einer besonderen Verantwortung, auf ihre eigene Compliance gegenüber ihren völkerrechtlichen Bindungen zu achten, damit der Druck auf die Türkei und Russland (und Moldavien und Aserbaidschan und you name it) effektiv bleibt. Die Schwei