19 April 2022

Unberechenbare Autokratien – verunsicherte Demokratien

Zwei Erscheinungsformen postmoderner Staatlichkeit

1     Die Camouflage der Autokraten – Putins postmoderne Technologie der Macht

Putins Herrschaft über Russland ist eine der neuen Varianten postmoderner autokratischer populistischer Herrschaftsformen ebenso wie die Xi Jinpings über China, Lukaschenkos über Belarus, Erdogans über die Türkei oder Chavez‘/Maduros über Venezuela.1) Trotz der  scheinbaren Heterogenität der so zusammengefassten Erscheinungen autokratischer Herrschaft gibt es eine Gemeinsamkeit: Die neuen Autokratien haben im Grunde keine Ideologie, jedenfalls keine homogene Ideologie wie die untergegangene Sowjetunion, die nach außen wie nach innen eine konsistente Selbstdarstellung zur Geltung gebracht hat. Sie haben ihre Gemeinsamkeit eher in einer Technologie der Macht2) und der Machterhaltung. Das verleiht Autokratien eine hohe Flexibilität und die Fähigkeit zu einen zynischen, skrupellosen Machtgebrauch.

Die enge Verknüpfung von wirtschaftlicher und politischer Macht verschafft ihnen die Möglichkeit, eine mafiaähnliche Wirtschaftsstruktur zu entwickeln, die koexistiert mit anders organisierten Segmenten der Wirtschaft, die zwischen Formen des Öffentlichen und des Privaten changieren. Putin hat selbst ein großes Vermögen angehäuft, dessen Höhe im Einzelnen nicht bekannt ist. Das ständige Oszillieren zwischen Privatem und Öffentlichem, das keine neue institutionelle Form findet, hat es Russland erlaubt, eine Reihe von westlichen ehemaligen prominenten Politikern (nicht nur aus Deutschland) in die Organe des privaten Wirtschaftsnetzwerks zu integrieren – besonders deutlich wird dies im Fall des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Schröder.

Teil dieser Camouflage ist auch die Schaffung wirtschaftlicher Abhängigkeiten – im Falle Russlands die Abhängigkeit von russischem Gas. Die politische Seite autokratischer Strategien zielt auf eine situative Anwendung von offener oder versteckter Gewalt und die Destabilisierung des politischen Systems anderer Länder. So hat Putin im Frühjahr 2021 Marin Le Pen empfangen oder der russische Außenminister Lawrow den AfD-Vorsitzenden Chrupalla. Dies zielt auf „Wandel neben Handel“: Seit einigen Jahren werden Strategien zur Beeinflussung der Wahlen in westlichen Ländern entwickelt, deren Urheber ebenso wie die der Cyberattacken auf Infrastrukturen nach außen „uneindeutig“ erscheinen. Ähnliches gilt für kriegerische und kriegsähnliche Gewalt, die zwischen offenem Krieg (Ukraine, Annexion der Krim, früher Georgien), der kaum verschleierten Förderung von „Separatisten“ (Ostukraine), dem Einsatz von Privatarmeen („Wagner“-Truppe z. B. in Mali, wohl auch in Syrien), der Unterwanderung von Institutionen (früher Ukraine) wechselt. Zur Flexibilität der Gewaltanwendung gehört, dass außerhalb der unmittelbaren Interessensphäre des Westens Einsätze mit äußerster Brutalität (Tschetschenien, Syrien) durchgeführt werden. Putin ging es in Europa vor allem darum, Uneinigkeit in der EU hervorzurufen. Zu dieser Politik gehört auch die Verschleierung der eigenen imperialen Absichten hinter dem  Gefühl der Bedrohung durch die Expansion der NATO. Dies hat den Nebeneffekt der  Resonanz in der Innenpolitik der europäischen Staaten („Putinversteher“).

Die vielgestaltigen destruktiven Formen der russischen Politik, insbesondere der Gewalt und ihrer Ziele, stellen – jedenfalls vor dem Ukrainekrieg – für Europa gerade wegen ihrer Uneindeutigkeit eine Herausforderung dar, weil immer wieder die Illusion erzeugt wird, die wirtschaftlichen Bindungen seien eine Garantie für die politische Selbstbegrenzung Russlands. Dies ist die Grundlage für die Suche nach „diplomatischen Lösungen“. Dabei wurde auf fatale Weise verkannt, dass die wirtschaftliche Entwicklung Russlands eher einer kleinen Schicht von Oligarchen und einer ebenfalls schmalen Mittelschicht diente, aber nicht der wirtschaftlichen Entwicklung im Dienste der Masse der Bevölkerung: Diese ist so arm, dass Russland, wenn es zur EU gehörte, Bulgarien als ärmstes Mitgliedstaat ablösen würde. Dem abzuhelfen ist nicht Putins Interesse. Auch das ist eine der Erscheinungsformen des postmodernen Autokratismus. (China ist ein besonderer Fall, auf den hier nicht eingegangen werden kann.)

Politik ist für die Autokraten wichtiger als Wirtschaft! Deshalb hat Putin immer die Reaktionen des Westens auf seine unterschiedlichen Formen der Gewalt genau beobachtet oder antizipiert. Das gilt insbesondere für den Ukrainekrieg: Er hat allerdings nicht damit gerechnet, dass der Westen relativ scharfe Sanktionen verhängen werde, die für Russland schmerzhaft sein werden. Den Westen trifft eine Mitschuld am Krieg gegen die Ukraine, weil durch sein Verhalten der Eindruck entstehen konnte, seine Reaktion werde schon nicht so dramatisch werden. Hier hat sich Putin verkalkuliert. Allein der Verlust mehr als 100.000 jungen russischen Bürgern, die den Krieg zur Flucht genutzt haben, wird die ohnehin schwache Wirtschaft in eine Krise führen.

2     Die postmoderne kulturelle Fragmentierung der russischen Gesellschaft

Große Hoffnungen auf ein Russland ohne Putin wären allerdings unangebracht: Es spricht einiges dafür, dass – wie meistens – die politische Form der Herrschaft den gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen entspricht.

U. K. Preuß hat mit Recht auf die innere Seite der russischen Gewalt(bereitschaft) aufmerksam gemacht. Eine der Folgen der politischen Indolenz gegenüber Putin besteht m.E. darin, dass etwa Schriften wie das Buch von Swetlana Alexijewitsch3) über die kulturelle Situation in Russland, die Desillusionierung, Hoffnungslosigkeit, den Zynismus, auch die Selbst- und Fremdaggression, die antiwestlichen Stimmungen (die sich auch im Rechtssystem niedergeschlagen haben) zwar im Westen gelesen, aber nicht ernsthaft diskutiert worden sind.

Sehr interessant ist auch ein Artikel von Ilya Prizel zur Pop-Kultur in Russland,4) der schon 2000 erschienen ist, dem Jahr von Putins Machtantritt, und eine beunruhigende Mixtur aus xenophobischer antiwestlicher Aggressivität und Wut (Heavy Metal), Sowjet-Pop neben Bewunderung des Kampfes der „Weißen“ gegen die „Roten“ in der russischen Revolution beobachtet. Nach Umfragen waren damals 2/3 der Russen „ashamed of their country“, 84% der Befragten haben in einer Umfrage den Zusammenbruch der Sowjetunion bedauert. Zugleich gibt es (oder gab es) in Moskau eine eindrucksvolle lebendige Kunstszene. Diese Heterogenität zeigt, dass der populistische Autoritarismus etwas anderes als der Faschismus ist.

Ein irritierendes Phänomen der Uneindeutigkeit ist  der Social-Media-Dienst Telegram, der immer mehr zu einer Konkurrenz für Facebook wird. Er wird von jungen russischen IT-Experten betrieben, die inzwischen in Dubai ihren Sitz haben. Deren führender Kopf ist ein Computerwissenschaftler, Pavel Durov, wie man ihn eher im Silicon-Valley erwarten würde. Er erklärt, dass der Dienst unabhängig sei, aber es ist schon irritierend, dass es oft sehr lange dauert, bis illegale, vor allem rechtsextremistische Inhalte gesperrt werden.  Jedenfalls ist es tatsächlich „the perfect platform for plotting insurrection“.5)

Zur Bandbreite der Machtausübung gehört eine kriminelle Komponente, die ganz auf öffentliche Formen verzichtet: Feinde werden umgebracht, der Verdacht des staatlichen Hintergrunds wird unzulänglich zerstreut: gerade so, dass die Feinde genau wissen, was sie erwartet, während man gegenüber den Repräsentanten anderer Länder darauf besteht, dass nichts bewiesen ist. Seit Putins Machtantritt ist der kalte Krieg wieder aufgenommen worden. Er ist nur undurchsichtiger als der alte, weil es keine geographisch getrennten Blöcke mehr gibt, sondern die Konflikte ein diffuses überlappendes Netzwerk innerhalb des gleichen Raumes durchziehen. Die Konflikte werden bleiben, ja, sie werden sich verschärfen, weil längst ein neuer Player entstanden ist: China, das seit Xi Jinpings Machtantritt eine Russland ähnliche destruktive, aber weitaus machtvollere Strategie entwickelt hat.

Die russische Gesellschaft hat schon vor dem Krieg Erscheinungsformen einer neuen fragmentierten politischen Öffentlichkeit hervorgebracht, die sich deutlich von der faschistischen Massenöffentlichkeit vor allem durch die Gleichzeitigkeit von ganz unterschiedlichen kulturellen Phänomen unterscheidet, die nur durch ihren destruktiven Charakter zusammengehalten wird. Einen Beleg z. B. für die Indolenz der Macht gegenüber neuen sadistisch-perversen Äußerungsformen bieten jüngste Äußerungen eines Journalisten der staatlichen Medien auf seinem eigenen Kanal – natürlich auf telegram: Dort wird ganz offen darüber phantasiert, dass man die Ukrainer „wie die Maulwürfe ausräuchern“ müsse6) – womit wohl? Auf Telegram findet man Blogs der Influencerin Veronika Stepanowa,7) die Putin (lobend) eine antisoziale Persönlichkeit attestiert, die ihn in die Lage versetze,  das Gewissen auszuschalten und Gesetze zu brechen. Dies ist sicher nicht an die breite Öffentlichkeit adressiert, aber doch an einen offenbar als empfänglich angesehenen Teil des jugendlichen Publikums, das soziale Medien nutzt.

In China würde man sicher andere, aber gleichfalls von den idealistischen Projektionen einer „Weltöffentlichkeit“ abweichende Phänomene des Politischen entdecken. Ähnliches gilt für den Nahen und Mittleren Osten, wo in der Wahrnehmung der Öffentlichkeiten (vor dem Krieg) die Orientierung an Russland und China ausgeprägter ist als die an westlichen Ländern.

3     Das Völkerrecht in der neuen Weltunordnung

Warum ist das für Juristen wichtig? In diesem kurzen und – das muss ich mir wegen der Kürze erlauben – dann auch polemischen Beitrag möchte u.a. dafür plädieren, die mehreren Öffentlichkeiten in einzelnen Weltregionen  genauer in der Blick zu nehmen, bevor man von einer „world public opinion“ spricht, die die Legitimation der „international public authority“ einfordere.8) Das Problem des darin zum Ausdruck kommenden Normativismus ist nicht nur, dass er die Eigenständigkeit der Normen und ihrer Bewegungskraft überschätzt, sondern dass er vor allem – das ist immer schon ein Problem der „juristischen Weltanschauung“ gewesen – das Inkonsistente, das Widersprüchliche, das Unerträgliche in der globalen Unordnung der Rechtsverhältnisse nicht genauer beobachtet, sondern darauf vertraut, dass es schon werden wird, wie es „das Recht“ verlangt – notfalls eben, indem es Putin vor ein Gericht stellt! Das Gericht würde wohl eher ein Moot Court in Heidelberg sein…

Gerade als Wissenschaftler sollte man sich  hüten, jetzt antirussische Ressentiments zu schüren. Das ist auch nicht meine Absicht. Davor hat mich nicht zuletzt das Buch von Alexijewitsch bewahrt. So ähnlich wie in Russland wird auch die deutsche Öffentlichkeit zwischen den Weltkriegen gewesen sein. Als Deutsche haben wir keinen Grund zur Überheblichkeit.

Es käme aber darauf an, den Wandel der rechtlichen Welt(un)ordnung, der sicher auch die vor allem in Deutschland immer stark akzentuierten Züge der Integration trägt, genauer auf seine Kehrseite hin, die ebenfalls zunehmenden Züge der Desintegration, zu beobachten – und vor allem nicht immer die altbewährten Rezepte zu propagieren: noch mehr Recht.

Was wir brauchen, ist mehr Wissen für die Entwicklung eines (Völker)Rechts der Uneindeutigkeit. Der Ukraine-Krieg ist kein Unfall, aus dem das Völkerrecht gestärkt hervorgehen wird. Er ist ein Alarmsignal der Dominanz der Unordnung, gegen die es kein schnell verfügbares Mittel geben wird.

Die gegenwärtige, und mehr noch die künftige „Welt(un)ordnung“ wird mehr vom Konflikt als vom Interessenausgleich bestimmt sein. Das heißt nicht, um es zu wiederholen, dass es nicht auch das Letztere gibt und dass man sich nicht dafür einsetzen sollte. Die Postmoderne ist von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bestimmt.

Wir sollten mehr wissen darüber, wie z. B. chinesische Wissenschaftler über das Recht und die Politik denken (erst recht natürlich russische). Das heißt nicht, dass andere Regionen ohne Bedeutung wären, aber die Weltordnung der Zukunft wird vor allem von China bestimmt werden, und zwar eher im Sinn einer neuen Konfliktordnung als einer „world public opinion“.  Man wird zu befürchten haben, dass China noch konfliktbereiter sein wird, als Russland es offenbar ist.

Verbreitet war in den letzten Jahren die Vorstellung, dass die „liberal international order“ letztlich die Welt bestimmen wird – ein wenig sozialer mit Konzessionen an den „transformative constitutionalism“ des „global south“, dessen unscharfe  Konturen von westlichen Juristen ausgemalt werden. Auch hier gilt: Das Recht erlaubt uns, nicht so genau hinschauen…! Das Recht wird auf neue Art selbstreferentiell und stabilisiert die normativen Erwartungen … seiner theoretischen Beobachter.

Dabei ist nicht zu vergessen, dass wir in den westlichen Ländern ebenfalls beunruhigende neue Erscheinungsformen einer politischen (Un-)Ordnungsbildung haben, die nicht so schnell verschwinden werden. Die Unmittelbarkeit der An- oder Aberkennung der Identität des Einzelnen, die Schwächung der liberalen Institutionen der Repräsentation, der widersprüchliche Modus des Oszillierens zwischen privaten und öffentlichen Formen (oder Formlosigkeiten) der Inszenierung des Politischen, der für jede Inkonsistenz offen ist, sind in den USA von Trump kultiviert worden. Die Unterstützung Trumps trotz seiner zur Schau gestellten Amoralität („er ist eben wie wir!“) durch die moralisch rigiden Evangelikalen ist dafür ein Symptom. Die politische Öffentlichkeit auch des Westens wird ebenfalls fragmentiert, zugleich widerspruchstoleranter – und ihrerseits offen für den „Wandel durch Handel“ – im eigenen Herrschaftsbereich.

Da wir vor nichts weniger als einem grundlegenden Paradigmenwechsel stehen, wäre es erforderlich, eine Enquêtekommission des Bundestages einzusetzen, die diesen Wandel auch im Hinblick auf Konsequenzen für die praktische Politik  untersuchen sollte. Erst recht ist dies eine Herausforderung für die Rechtswissenschaft…

References

References
1 Vgl. Anne Applebaum, The Autocrats Are Winning The Atlantic Dec/2021, 42.
2 Moisés Naím, The Dictator’s New Playbook: Why Democracy is Losing the Fight, Foreign Affairs März/April 2022, 144, 145.
3 Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, 3. Aufl., 2015.
4 In: Sorin Antohi, Vladimir Tismaneanou (Hrsg.), Between Past and Future, 2000, 332.
5 Darren Loucaides, How telegram Became the Anti-Facebook, WIRED März/2022, 40.
6 FAZ, v. 13.4.2022, 3.
7 FAZ, v. 13.4.2022, 9.
8 Armin v. Bogdandy/Matthias Goldmann/Ingo Venzke, From Public International to International Public Law: Translating World Public Opinion into International Public Authority, EJIL 2