21 September 2018

Unter Zeitdruck – Zur anstehenden Regierungsbildung im Freistaat Bayern

Zwischen der Wahl zum Deutschen Bundestag im September 2017 und der Bildung der Bundesregierung im März 2018 verging ein halbes Jahr. Dieses war geprägt von schwierigen Sondierungsgesprächen („Jamaika“) und Koalitionsverhandlungen (Große Koalition) einschließlich Sonderparteitagen und Mitgliederbefragung. Der Zeitdruck, unter dem diese Verhandlungen standen, war ein politischer, kein rechtlicher. Denn Art. 63 GG sieht für die Wahl des Bundeskanzlers als erstem Schritt der Regierungsbildung keinen bestimmten Zeitraum und keine Frist vor. Er regelt zwar (mögliche) Konsequenzen einer gescheiterten Kanzlerwahl, gibt aber nicht vor, wann diese spätestens stattzufinden hat. Art. 69 Abs. 3 GG sorgt für Kontinuität der Regierungsgeschäfte. Das Grundgesetz lässt mithin genügend Zeit für Koalitionsbildung und begleitende innerparteiliche Legitimation.

In Bayern gehen die Uhren anders

Das ist im Freistaat Bayern, wo am 14.10.2018 ein neuer Landtag gewählt wird, grundlegend anders. Auch hier ist – allerdings erstmals – mit einer schwierigen Regierungsbildung zu rechnen, womit man in Bayern keine sonderlich große Erfahrung hat. Mit Ausnahme des Jahres 2008 (Koalition aus CSU und FDP) konnte sich die regierende Partei seit 1966 immer auf eine absolute Mehrheit der Landtagsmandate stützen. Koalitionsverhandlungen oder gar Sondierungsgespräche waren entbehrlich und auch im Jahr 2008 nicht sonderlich schwierig. Dies wird – allen demoskopischen Prognosen zufolge – nach dem 14.10. nicht mehr so sein. Die bislang allein regierende CSU wird wohl die absolute Mehrheit der Mandate nicht mehr erreichen und einen oder gar zwei Koalitionspartner zur Regierungsbildung benötigen. Eine Minderheitsregierung ist auch in Bayern keine politisch tragfähige Alternative. Schwierige und langwierige Gespräche, Sondierungen und Verhandlungen zur Koalitions- und Regierungsbildung sind daher durchaus zu erwarten. Nicht auszuschließen ist auch, dass ein für die bislang allein regierende Partei enttäuschendes Wahlergebnis parteiintern zu Konsequenzen führt – bis hin zu Forderungen nach einem personellen Neuanfang im Amt des Ministerpräsidenten, den man für das schlechte Wahlergebnis verantwortlich macht. Die CSU war in solchen Dingen in der Vergangenheit nicht zimperlich. Es könnten auch insofern zeitintensive Diskussionen bevorstehen, die die Wahl des Ministerpräsidenten und die Regierungsbildung insgesamt verzögern.

Doch räumt die Bayerische Verfassung (BV) – wie das Grundgesetz – diese Zeit ein? Nein, im Gegenteil. Sie baut vielmehr einen beachtlichen Zeitdruck auf: Nach Art. 44 Abs. 1 BV wird der Ministerpräsident von dem neu gewählten Landtag „spätestens innerhalb einer Woche nach seinem Zusammentritt“ gewählt. Der Landtag tritt spätestens am 22. Tag nach der Wahl zusammen (Art. 16 Abs. 2 BV). Das heißt konkret: Landtagswahl am 14.10., Zusammentritt des Landtags spätestens am 5.11., Wahl des Ministerpräsidenten spätestens am 12.11., wobei die Zahl der Wahlgänge nicht begrenzt ist. Das dürfte bei Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen einschließlich innerparteilicher Abstimmungen kaum zu schaffen sein. Man wird die Frist also reißen. Was dann? In diesem Fall könnte Art. 44 Abs. 5 BV zumindest etwas Luft verschaffen: „Kommt die Neuwahl innerhalb von vier Wochen nicht zustande, muss der Landtagspräsident den Landtag auflösen“. Diese Norm dürfte die Politik in Bayern nach dem 14.10. intensiv beschäftigen. Es stellt sich zunächst die Frage, ob diese (zusätzliche) Frist nur im Falle des Rücktritts und des Todes des Ministerpräsidenten gilt, die in den Absätzen zuvor (Art. 44 Abs. 3, 4 BV) geregelt sind, oder auch im Fall der Wahl des Ministerpräsidenten nach einer Landtagswahl. Bejaht man letzteres, ist sodann fraglich, woran die vierwöchige Frist anknüpft: An den Tag der Landtagswahl (14.10.)? Dann wäre nichts gewonnen, denn die Wahl des Ministerpräsidenten müsste ebenfalls spätestens am 12.11. stattfinden. An den Zusammentritt des Landtages (5.11.)? Dann müsste der Ministerpräsident spätestens am 3.12. gewählt werden. Oder an den Ablauf der Wochenfrist des Art. 44 Abs. 1 BV? Dann bestünde für die Wahl Zeit bis zum 10.12. Wortlaut und Systematik des Verfassungstextes legen nahe, dass die vierwöchige Frist an den Tag des Zusammentritts des Landtags (5.11.) anknüpft. Spätester Zeitpunkt für die Wahl des Ministerpräsidenten wäre dann (in analoger Anwendung des § 188 Abs. 2 BGB) der 3.12. Auch das wäre für den politischen Regierungsbildungsprozess mit Koalitionsverhandlungen und innerparteilichen Abstimmungen sehr knapp.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Bayerische Verfassung an die Nichteinhaltung dieser Frist zwingend die Auflösung des Landtages knüpft: Der Landtagspräsident muss den Landtag auflösen. Er hat – anders als der Bundespräsident nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG – kein politisches Ermessen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 18 Abs. 2 BV, wonach der Landtag im Fall des Art. 44 Abs. 5 BV aufgelöst werden „kann“. Das Wort „kann“ meint im Regelungskontext des Art. 18 BV, der die verschiedenen Varianten der vorzeitigen Auflösung des Landtags regelt, die Möglichkeit der Auflösung; die Pflicht dazu ergibt sich aus Art. 44 Abs. 5 BV. Das bedeutet im Klartext: Die Wahl des neuen Ministerpräsidenten muss spätestens am 3.12. über die Bühne gehen. Gelingt das nicht, sind Neuwahlen unausweichlich, die spätestens am sechsten Sonntag nach der Auflösung des Landtags stattfinden müssen (Art. 18 Abs. 4 BV). Für die Auflösungsverfügung des Landtagspräsidenten selbst hält Art. 44 Abs. 5 BV allerdings keine Frist bereit.

Hier scheint sich doch noch eine Lösung des Zeitproblems anzudeuten: Könnte der Landtagspräsident, der den Landtag zwar auflösen muss, aber dafür keiner Frist unterliegt, ggf. auf Bitten der potenziellen Koalitionäre nicht warten, bis die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind, insbesondere wenn sie kurz „vor dem Durchbruch“ stehen? Ein solches Vorgehen wäre verfassungsrechtlich hoch riskant. Denn aus Art. 44 Abs. 1 und 5 BV ergibt sich die implizite Entscheidung des Verfassungsgebers, dass nach erfolglosem Ablauf der vierwöchigen Frist des Art. 44 Abs. 5 BV eine Wahl des Ministerpräsidenten nicht mehr erfolgen darf, weil der Landtagspräsident den Landtag auflösen muss.Eine gleichwohl noch erfolgende Wahl stünde unter dem Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit, die der Bayerische Verfassungsgerichtshof etwa in einem Organstreitverfahren feststellen könnte.

Sollten Koalitionsverhandlungen kurz vor Ablauf der Frist des Art. 44 Abs. 5 BV so weit gediehen sein, dass sie zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen scheinen, so könnte sich folgendes Verfahren anbieten: Die (potenziellen) Koalitionäre verständigen sich zu einer Wahl des Ministerpräsidenten noch innerhalb der Frist des Art. 44 Abs. 5 BV (also bis zum 3.12.) und setzen die Verhandlungen über den endgültigen Koalitionsvertrag nach der Wahl des Ministerpräsidenten fort. Man wird entgegnen, ein solches Vorgehen sei politisch naiv, denn dann sei ja der Einigungsdruck weg. Aber hierfür hält die Bayerische Verfassung eine Besonderheit bereit, nämlich die Rücktrittspflicht des Ministerpräsidenten nach Art. 44 Abs. 3 Satz 2 BV: Sollten die Koalitionsverhandlungen doch noch scheitern, hätte der (fristgerecht) gewählte Ministerpräsident keine Mehrheit mehr im Landtag. Er müsste daher nach Art. 44 Abs. 3 Satz 2 BV zurücktreten, weil „die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen“. Im Falle eines solchen Rücktritts, zu dem der Ministerpräsident verfassungsrechtlich verpflichtet wäre, müsste in der nächsten Sitzung des Landtags ein neuer Ministerpräsident gewählt werden (Art. 44 Abs. 4 BV). Käme diese Wahl innerhalb von vier Wochen nicht zustande, müsste der Landtagspräsident den Landtag auflösen.

Die skizzierte Verfassungsrechtslage im Freistaat Bayern, die von der des Grundgesetzes erheblich abweicht, setzt die Politik unter einen erheblichen Zeit-, Verhandlungs- und Einigungsdruck für die Bildung einer Koalitionsregierung. Ab 14.10. tickt die Uhr!

Wie lösen das andere Landesverfassungen?

Es liegt die Frage nahe: Wie lösen das andere Landesverfassungen? Ganz unterschiedlich, aber typisierbar. Es lassen sich insofern drei Gruppen bilden:

(1) Da sind zunächst die Landesverfassungen, die – wie das Grundgesetz und anders als die Bayerische Verfassung – keine Frist für die Wahl des Regierungschefs und damit die Regierungsbildung insgesamt festlegen: Es handelt sich um die Verfassungen von Berlin (Art. 56), Bremen (Art. 107), Hamburg (Art. 34), Hessen (Art. 101), Nordrhein-Westfalen (Art. 52), Rheinland-Pfalz (Art. 98), Schleswig-Holstein (Art. 33) und Thüringen (Art. 70). Mit dem Fehlen einer Frist für die Regierungsbildung fehlt es auch an einer an das Nichteinhalten der Frist anknüpfenden Parlamentsauflösung. Allerdings kennen alle der genannten Landesverfassungen – anders als das Grundgesetz – die Möglichkeit der Selbstauflösung des Parlaments, mit der auf das Scheitern einer Regierungsbildung reagiert werden kann: Berlin (Art. 54 Abs. 2), Bremen (Art. 76 Abs. 1 lit. a), Hamburg (Art. 11), Hessen (Art. 80), Nordrhein-Westfalen (Art. 35 Abs. 1), Rheinland-Pfalz (Art. 84), Schleswig-Holstein (Art. 19 Abs. 2), Thüringen (Art. 50 Abs. 2).

(2) Eine zweite Gruppe von Landesverfassungen sieht Fristen für die Wahl des Regierungschefs vor und knüpft an deren Nichteinhaltung die Möglichkeit oder Pflicht zu einer Parlamentsauflösung. Hierzu zählen neben Bayern (Art. 18 Abs. 2, 44 Abs. 5 BV) Mecklenburg-Vorpommern (Art. 42 Abs. 2: 4 Wochen, dann Beschlussfassung über Selbstauflösung), Niedersachsen (Art. 30 Abs. 1: 21 Tage, dann Beschlussfassung über Selbstauflösung) und Sachsen-Anhalt (Art. 65 Abs. 2: 21 Tage, dann Beschlussfassung über Selbstauflösung).

(3) Die dritte Gruppe kennt ebenfalls Fristen für die Regierungsbildung, knüpft an deren Nichteinhaltung indes eine noch schärfere „Sanktion“, nämlich die Fiktion der Parlamentsauflösung. Nach Art. 47 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg ist die Regierung innerhalb von drei Monaten nach dem Zusammentritt des Landtags zu bilden. Gelingt dies nicht, „ist der Landtag aufgelöst“. Eine ähnliche Regelung gilt in Brandenburg (Art. 83 Abs. 3: nach drei Monaten „gilt der Landtag als aufgelöst), im Saarland (Art. 87 Abs. 4: nach drei Monaten „ist der Landtag aufgelöst“) und in Sachsen (Art. 60 Abs. 3: nach vier Monaten „ist der Landtag aufgelöst“).

Der Blick in die Verfassungen der deutschen Länder zeigt ein heterogenes Bild an zeitlichen Vorgaben für die Regierungsbildung, die vor allem im Hinblick auf die Möglichkeiten zur (vorzeitigen) Parlamentsauflösung in erheblicher Weise von der Regelung im Grundgesetz abweichen. Diese Vielfalt ist Ausdruck der Verfassungsautonomie der Länder, in der sich ihre Staatlichkeit manifestiert. Freilich müssen sich die Landesverfassungen nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG („Homogenitätsklausel“) an die Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes halten. Man wird nun schlechterdings nicht sagen können, dass in Art. 63 GG und dem Fehlen einer Frist zur Regierungsbildung demokratische und rechtsstaatliche essentialiazum Ausdruck kämen, an die die Länder bei der landesverfassungsrechtlichen Ausgestaltung ihres Staatsorganisationsrecht gebunden wären. Das Grundgesetz fordert keine Fristen zur Regierungsbildung in den Ländern und steht ihnen auch nicht entgegen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Fristen nicht so kurz bemessen sind, dass eine Regierungsbildung faktisch unmöglich würde. Davon aber kann auch bei Art. 44 BV keine Rede sein. Der durch die Bayerische Verfassung erzeugte Zeitdruck zwingt zwar zu konzentrierten Koalitionsverhandlungen, macht eine Regierungsbildung aber nicht faktisch unmöglich. So oder so steht dem Freistaat Bayern politisch ein „heißer Herbst“ bevor.


SUGGESTED CITATION  Lindner, Josef Franz: Unter Zeitdruck – Zur anstehenden Regierungsbildung im Freistaat Bayern, VerfBlog, 2018/9/21, https://verfassungsblog.de/unter-zeitdruck-zur-anstehenden-regierungsbildung-im-freistaat-bayern/, DOI: 10.17176/20180921-134804-0.

2 Comments

  1. mq86mq Fri 21 Sep 2018 at 16:12 - Reply

    Zur Wahl des Ministerpräsidenten ist aber in Bayern keine besondere Mehrheit nötig. Nach derzeitiger Geschäftsordnung gibts gegebenenfalls eine Stichwahl; der Erfolg ist also bis dahin ziemlich garantiert. Alle restlichen Fragen lassen sich auch später klären, zumal eben auch die Wahl des Ministerpräsidenten nicht endgültig ist.

  2. Feli Tue 27 Nov 2018 at 02:01 - Reply

    Ich erinnere mich noch zu gut an die Verhandlungen, was ein Trauerspiel das doch war…

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