Unzulässige Entwertung des Parteitags?
Konsultative Mitgliederbefragungen als verfassungskonformer Beitrag zur innerparteilichen Entscheidungsfindung
Seit einigen Jahren zeichnet sich ein Trend zur konsultativen Mitgliederbeteiligung bei der innerparteilichen Entscheidungsfindung ab, der unter anderem bei der Bestimmung der Parlamentskandidaten und der Parteiführung zum Tragen kommt. Wie im jüngsten Beispiel der Wahl von Friedrich Merz zum CDU-Vorsitzenden findet zunächst eine schriftliche oder digitale Abstimmung an der Parteibasis statt, bevor die formal verbindliche Entscheidung auf einem Parteitag getroffen wird. Ein solches Procedere wirft rechtliche Probleme und brisante Fragen auf.
Ausgangspunkt ist dabei zunächst, dass Parteitage nach §9 I PartG den prozeduralen Mittelpunkt innerparteilicher Willensbildung und Entscheidungsfindung darstellen. Parteien- und wahlrechtlich müssen sowohl die Parteispitze (§9 IV PartG) als auch die Parlamentskandidaten (§17 BWahlG) auf einer Mitglieder- oder – aus logistischen Gründen oftmals bevorzugt – Delegiertenversammlung bestimmt werden. Als kritikwürdig erscheint nun, dass eine vorgeschaltete Befragung aller Mitglieder zu einer Entmachtung jener Parteitage und die Parteien damit an den Rande eines Rechtsbruchs führen kann.1) Wie die Vorsitzendenwahlen bei der SPD 2019 und der CDU 2022 zeigen, kommt dann zwar gegebenenfalls die Spitzfindigkeit zur Anwendung, dass die Mitglieder formal nicht die Parteispitze wählen, sondern nur über den Wahlvorschlag des Bundesvorstands abstimmen. Die genannten gesetzlichen Vorschriften könnten aber dennoch unterlaufen werden, wenn der Versammlung faktisch nur noch die Bestätigung des vorausgegangenen Mitgliedervotums verbleibt. Mit Skepsis betrachtet wird vor allem auch, wenn unterlegene Kandidaten auf dem Parteitag nicht mehr antreten (etwa als Folge einer Selbstverpflichtung) und dessen Delegierte sich nicht mehr trauen, entgegen dem Votum der Parteibasis abzustimmen. Der rechtlich intendierte Konnex von physischer Präsenz und demokratischem Diskurs droht demnach entwertet zu werden.
Die jenen scharfsichtigen Beobachtungen innewohnenden Monita lassen sich nicht ohne Weiteres von der Hand weisen. Sie sollen hier um eine politikwissenschaftliche Perspektive ergänzt werden, die auch für eine juristische Bewertung wichtige Hinweise liefert. Einen rechtlichen Anknüpfungspunkt für sowohl empirische als auch normative Argumente bietet dabei Art. 21 I GG, der den Parteien eine herausgehobene Rolle bei der Willensbildung des Volkes zuerkennt (S. 1) und die Einhaltung demokratischer Prinzipien im Inneren auferlegt (S. 3).
Art 21 I GG als Bewertungsmaßstab für normative und empirische Argumente
Der genannte Verfassungsartikel schließt zunächst die Organisationsfreiheit der Parteien ein. Diesen obliegt es zu entscheiden, wie sie ihre Willensbildung prozedural regeln wollen. Auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zeugt hier von rechtlicher Zurückhaltung. Sie betont stattdessen die freie Gestaltung der Parteisatzung (BVerfGE 104, 14, 19), in die das Instrument der Mitgliederbefragung mittlerweile nahezu überall Eingang gefunden hat (vgl. etwa §6 a Statut der CDU und §13 V Organisationstatut der SPD). Den Parteien verbleibt also ein Einschätzungsspielraum, der lediglich begrenzt wird durch gesetzliche Vorgaben sowie das konstitutionell normierte Prinzip innerparteilicher Demokratie. Daraus lässt sich schließen: Kommen die Parteien dem Versammlungsvorbehalt aus §9 IV PartG und §17 BWahlG nach, müssen vorgeschaltete Mitgliederbefragungen jedenfalls dann rechtlich zulässig sein, wenn sie den grundgesetzlich gewollten Gehalt innerparteilicher Demokratie nicht aushebeln oder darauf abzielen.
Grundsätzlich ist in Rechnung zu stellen, dass bei wichtigen Personalfragen offensichtlich ein großes Partizipationsverlangen in den Parteien existiert. Davon legt auch die Beteiligung von 248.360 (66 Prozent) bzw. 230.215 (54 Prozent) Parteimitgliedern bei der Abstimmung über den CDU- bzw. SPD-Parteivorsitz Zeugnis ab. Diesem demokratischen Verlangen müssen die Parteien im Rahmen ihrer Organisationsfähigkeit nachkommen können.
Die maßgebliche Frage ist jedoch, ob eine konsultative Mitgliederbeteiligung nicht den gesetzlich geforderten Präsenzparteitag über Gebühr entwertet. Dies kann durchaus der Fall sein, wenn eine Auswahlmöglichkeit für die auf der Versammlung Stimmberechtigten ebenso entfällt wie der damit in der Regel einhergehende demokratische Meinungsstreit. Letzteres ist aber eine Frage der Perspektive. Schaut man in solchen Fällen nur auf das Parteitagsgeschehen, findet dort vor allem vom Auswahlzwang entlastete, nach außen gerichtete Ergebniskommunikation statt, in der das Gebot innerparteilicher Demokratie kaum Gestalt annimmt. Eine andere Bewertung ergibt sich jedoch, wenn man die kommunikative Praxis der Entscheidungsfindung als Gesamtverfahren in den Blick nimmt. Bei der SPD gab es 2019 beispielsweise knapp zwei Dutzend Regionalkonferenzen, auf denen die Kandidatenduos für den Vorsitz für sich warben und der vielstimmigen Basis Rede und Antwort standen. Das jüngste Auswahlverfahren für die CDU-Spitze musste (pandemiebedingt) ohne regionale Zusammenkünfte auskommen, beinhaltete aber das funktionale Äquivalent digitaler Formate. Dass hier jeweils weniger kommunikativer Wettstreit stattfand als auf einem (reinen) Delegiertenparteitag, wird man kaum behaupten können. Allein der Blick auf das Kommunikationsvolumen legt eher das Gegenteil nahe.
Nicht anders stellt sich dies bei der Kandidatenaufstellung für den Bundestag dar. Um ein Beispiel zu nennen: Vor dem wahlrechtlich geforderten Parteitag führte die SPD im Berliner Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf 2017 eine Mitgliederbefragung durch, der jeweils mehrstündige Vorstellungsrunden in allen lokalen Gliederungen sowie bei einigen thematischen Arbeitsgemeinschaften vorausgegangen waren. Ein Nebeneffekt der vielfältigen Dialogmöglichkeiten ist vermutlich auch eine höhere Abstimmungsbeteiligung. In diesem Fall wurde das Teilnahmequorum von 20 Prozent jedenfalls deutlich übertroffen (knapp 800 von 2100 Parteimitgliedern wirkten an der Kandidatenauswahl mit). Generell gilt wohl, dass der Rückgriff auf ein Votum der Basis nicht ohne Begleitkommunikation auskommt, die der Mitgliedschaft weitere Beteiligungsrechte einräumt und Willensbildung als Prozess – nicht nur als Kreuz auf dem Stimmzettel oder Klick im digitalen Parteiraum – ermöglicht. In dieser breiten Perspektive waren die aufgeführten empirischen Beispiele unverkennbar mehr als ein stiller Mehrheitsentscheid.
Fällt das Ergebnis recht eindeutig aus, fühlen sich manche Delegierte bei der Stimmabgabe fraglos an das Votum der Mitglieder gebunden. Dies zu beanstanden, ist allerdings normativ widersprüchlich. Erstens verfügen die auf der Versammlung Stimmberechtigten rechtlich über kein freies Mandat (im Sinne von Art. 38 I S. 2 GG). Zweitens ist es demokratietheoretisch unbedenklich, wenn sie sich responsiv gegenüber der sie entsendenden Parteibasis verhalten. Drittens schützt der Mechanismus der geheimen Wahl davor, einem vielleicht gefühlten Zwang willfährig nachgeben zu müssen. Auch bei vielen anderen Abstimmungen in den Parteien berücksichtigen Parteitagsdelegierte im Übrigen das Meinungsbild ihrer Basis (Kreisverbände). Es handelt sich hier um ein empirisch verbreitetes und bewährtes Prinzip, das auch theoretisch keinen durchgreifenden Bedenken begegnet – mithin um einen demokratischen Normalfall.
Bestehen bleibt auch das freie Vorschlagsrecht auf der verbindlich entscheidenden Versammlung (das bei der Kandidatenaufstellung § 21 III BWahlG garantiert). Üblicherweise wird davon zwar kaum Gebrauch gemacht und auch die im vorangehenden Verfahren Unterlegenen werfen ihren Hut nicht erneut in den Ring. Beides ist angesichts der geringen Erfolgsaussichten in der Regel aber ein Gebot politischer Klugheit (das freiwillige Selbstverpflichtungen insofern verzichtbar macht) und weniger Ausweis für einen Mangel an Demokratie. Das (Vorschlags-)Recht kann an dieser Stelle keine empirischen Konsequenzen erzwingen, sondern nur Möglichkeiten eröffnen bzw. offenhalten. Historisch betrachtet gilt ohnehin: Auch vor Entdeckung des Instruments der Mitgliederbefragung waren Parteitage, auf denen nur eine Person konkurrenzlos für den Parteivorsitz oder eine Bundestagsnominierung antrat, ein ebenso gewohntes wie als zulässig erachtetes Schauspiel. Man sollte hier nicht der Gefahr einer demokratischen Glorifizierung von Präsenzparteitagen anheimfallen.
Das Beste beider Welten? Auswahlentscheidungen durch den Parteitag als bedenkenswerte Alternative
Kein Zweifel besteht aber daran, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob die verbindlich Stimmberechtigten selbst (noch) eine Auswahl treffen können oder nicht. Bei den Vorsitzendenwahlen von CDU und SPD ist jene Möglichkeit entfallen, da das Verfahren bei beiden Parteien eine Stichwahl zwischen den Bestplatzierten vorsah, falls niemand eine absolute Mehrheit erreichte. Zu einem solchen zweiten Votum der Basis kam es tatsächlich bei den Sozialdemokraten, die dann zwischen den Kandidatenduos Klara Geywitz/Olaf Scholz und Saskia Esken/Norbert Walter-Borjans zu entscheiden hatten. In solchen Fällen wäre es jedoch bedenkenswert, die Auswahl zwischen den beiden Bestplatzierten der nachfolgenden Parteiversammlung zu überlassen. Empirische Beispiele dafür liefert erneut die Kandidatenaufstellung: Bei der erwähnten SPD-Nominierung im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf fiel die Entscheidung auf einem dreieinhalbstündigen Delegiertenparteitag, da in der Mitgliederbefragung keiner der fünf Antretenden eine absolute Mehrheit erhalten hatte. Ein solches Verfahren bringt die Vorzüge mit sich, dass die Mitglieder an der Entscheidungsfindung beteiligt sind und zugleich eine Auswahlmöglichkeit auf der rechtlich vorgesehenen Wahlversammlung besteht. Auf beiden Stufen sichern offene Kommunikationsstrukturen zudem einen reichhaltigen parteiöffentlichen Diskurs.
Da Wahlversammlungen in der Regel als Delegiertenparteitage stattfinden, entstehen weitere Vorteile gerade für die Parteielite. Die empirische Forschung zeigt jedenfalls, dass die Parteiführung Delegiertenversammlungen besser steuern kann und Delegierte bei ihren Entscheidungen auch eher das Gesamtinteresse der Partei im Blick haben.2) Ob eine solche mehrstufige Auswahl tatsächlich das Beste beider Welten bedeutet, ist gewiss auch von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig (etwa dem Grad innerparteilicher Polarisierung). Ein doppelter Demokratiegewinn entstünde aber allemal, wenn der Beschluss, die Basis zu befragen, zu einem größeren Bewerberfeld führt (auch dafür gibt es empirische Indizien)3) und im Lichte des gestiegenen Wettbewerbs eine Auswahlentscheidung zwischen den Bestplatzierten für den Parteitag bleibt.
Warum auch das politische System insgesamt ins Blickfeld gerät
Diese Ausführungen verweisen darauf, dass der Blick nicht nur über den Parteitag hinaus, sondern auf das politische System insgesamt gerichtet werden kann.
Vor allem zwei Argumente fallen bei der normativen Einschätzung von konsultativen Mitgliederbefragungen ins Gewicht: Erstens gehört es mit Ernst Fraenkel zu den Gelingensbedingungen einer repräsentativen Demokratie, dass die ihr innewohnenden plebiszitären Kräfte einen hinreichenden Spielraum in den Parteien finden. Mitwirkungsrechte der Basis, die sowohl symbolisch als auch substanziell bedeuten, dass die Stimme der Parteimitglieder berücksichtigt wird, stärken in dieser Sichtweise die Repräsenativverfassung der Bundesrepublik.4) In einer Zeit, in der das Prinzip parlamentarisch-demokratischer Repräsentation hierzulande und weltweit unter Druck zu geraten scheint, sind sie insofern ein (leicht verfügbares) demokratiepolitisches Instrument, um dem Ruf nach staatlich organisierten Plebisziten Einhalt zu gebieten. Zu letzteren mag man stehen, wie man will. Formen direkter Demokratie sind aber keineswegs „demokratischer“ als das parlamentarische Verfahren, das nicht nur die öffentliche Diskussion institutionalisiert, sondern zugleich eine Ausfallbürgschaft für eine nicht garantierte egalitäre Partizipation darstellt.
Zweitens ist zu bedenken, dass die Parteien unverzichtbare Scharniere zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre darstellen, als solche aber mit eigenen Herausforderungen konfrontiert sind. Ihre Hinwendung zu mehr Basisbeteiligung lässt sich am ehesten als strategische Antwort auf sinkende Mitgliederzahlen, gestiegene Partizipationsansprüche und die verbreitete Wahrnehmung der Parteien als reine Eliten- oder Funktionärsorganisationen begreifen. Gerade jenem Bild in der Öffentlichkeit (und bei potentiell an einem Parteibeitritt Interessierten) lässt sich durch eine verstärkte Mitgliederbeteiligung etwas entgegensetzen. Mit der Integrationsfähigkeit der Parteien steht und fällt letztlich auch die Integrationsfähigkeit der parlamentarischen Parteiendemokratie insgesamt.
Fazit: Innerparteiliche Entscheidungsfindung als Prozess
Aus dem Blickwinkel verfassungsrechtlich-normativer Ansätze begegnen konsultative Mitgliederbefragungen bei der innerparteilichen Entscheidungsfindung großen Vorbehalten. Auf die Gefahr einer Entwertung der Parteiversammlung wird grundsätzlich auch zu Recht aufmerksam gemacht, denn es handelt sich um demokratiesensible Bereiche, die der kritischen Betrachtung durch Öffentlichkeit und Wissenschaft bedürfen. Ein breiter, über die Wahlversammlung hinausgehender Fokus korrigiert allerdings in mancher Hinsicht das Bild, wonach die formal vorgesehenen Entscheidungsverfahren in rechtlich nicht zulässiger Weise unterlaufen werden.
Wichtig ist, dass man hier selbst auf die Verfassung rekurrieren kann, die als strengster Maßstab für die normative Bewertung fungiert. Betrachtet man das gesamte Verfahren der Parteivorsitzenden- und Parlamentsbewerberauswahl, zeigt sich nun aber, dass dem Parteitag vorausgehende Mitgliederbefragungen nicht dazu dienen (sollen), den demokratischen Charakter der Entscheidungsfindung zu verfälschen. Sie tragen vielmehr dem Verfassungsgebot innerparteilicher Demokratie Rechnung. Weiterführend lässt sich hier argumentieren: Die vorgängige Willensbildung ersetzt zwar keinesfalls den Akt der Wahlversammlung. Die demokratiesichernde Rolle, die §9 PartG dem Parteitag zuschreibt, kann aber auch dem gesamten Auswahlverfahren zugemutet werden.
Hinzu kommt: Wie die Parteien jene grundgesetzlichen Anforderungen innerparteilicher Demokratie konkret erfüllen, müssen sie im Rahmen eines internen Abwägungsprozesses selbst entscheiden. Auch weil davon die Integrationsfähigkeit und Legitimität der Parteiendemokratie insgesamt berührt ist, kann eine Hinwendung zu mehr Partizipation, die an Quoren gebunden und über den Versammlungsvorbehalt abgesichert ist, den Parteien schwerlich zum Vorwurf gemacht werden. Ob es sinnvoll ist, die Basis dauerhaft bei allen Personalentscheidungen zu beteiligen, steht auf einem anderen Blatt. Mitgliederbefragungen sind kein Allheilmittel und bei der Bestimmung ganzer Landeslisten oder des gesamten Parteivorstands aufgrund der hier möglichen Wahldynamik ohnehin nicht angezeigt (wenn keine komplexen Abstimmungsverfahren mit Präferenzreihenfolge eingeführt werden sollen). Bei Einpersonenwahlen müssen sie aber möglich sein, auch wenn die Bedeutung von Parteitagen in einer Gesamtbetrachtung relativiert wird. Die Grenzlinie zu rechtlich bedenklichen Mustern der Verfahrensorganisation besteht dort, wo der demokratische Wettstreit strukturell ausgehebelt werden soll, wenn auch nur schleichend. Eine Bewegung in diese Richtung ist jedenfalls bislang nicht erkennbar.
References
↑1 | Sophie Schönberger, Potemkinsche Parteitage, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.2021, S. 13. |
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↑2 | Danny Schindler, More free-floating, less outward-looking: How more inclusive candidate selection procedures (could) matter, in: Party Politics, 27. Jg., H. 6, S. 1120-1131. |
↑3 | Ofer Kenig, 2009, Democratization of party leadership selection: Do wider selectorates produce more competitive contests?, in: Electoral Studies, 28. Jg., H. 2, S. 240–247. |
↑4 | Ernst Fraenkel, 1991, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 203. |