Verbot politischer Fernsehwerbung: Straßburg will keinen Ärger mit Westminster
Airtime für politische Forderungen ist auch weiterhin nichts, was man kaufen kann. Dafür sorgt mit einer einzigen Stimme Mehrheit die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das Verbot politischer Fernsehwerbung, das es in Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern gibt, verletzt demnach nicht das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK).
Das war knapp.
Geklagt hatte eine britische Tierschutzorganisation, die diesen Spot hier im Fernsehen verbreiten wollte, aber nach britischem Recht nicht durfte:
Das Verbot politischer Werbung in Fernsehen und Radio ist gesetzlich geregelt in Großbritannien. Es soll verhindern, dass sich wirtschaftlich potente Interessen mehr öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen können als solche, hinter denen nicht so viel Geld steht.
Was aber, wenn das Verbot nicht einen mächtigen Industrieverband trifft, sondern eine kleine Tierschutz-NGO? Vor mehr als zehn Jahren hatte der EGMR in einem ganz ähnlichen, in der Schweiz angesiedelten Fall geurteilt, dass das nicht sein könne: Gerade bei politischen Äußerungen seien Verbote nur möglich, wenn dafür eine besonders dringliche soziale Notwendigkeit bestehe. Und dass es dringend notwendig sei, Tierschutzorganisationen an der freien Meinungsäußerung zu hindern, konnte der Gerichtshof nicht erkennen.
Von dieser angelsächsisch inspirierten Free-Speech-Perspektive scheint sich die Mehrheit in Straßburg jetzt zu verabschieden (wobei es einer genaueren Analyse wert wäre, wie sie an dem Schweizer Präzedenzfall genau vorbeikommt). Diesmal steht nicht die Meinungsfreiheit des Klägers im Mittelpunkt, sondern die Staatsaufgabe, eine pluralistische und chancengleiche politische Debatte zu gewährleisten. Dieser habe sich der britische Gesetzgeber sehr gewissenhaft gestellt, und an dem Ergebnis findet der Gerichtshof nichts auszusetzen.
Acht der siebzehn Richter, nicht zufällig überwiegend solche aus Osteuropa, wollen bei dieser geradezu karlsruhesk staatstragenden Abwägerei nicht mitmachen. Genau genommen sind es sogar neun, denn der britische Richter Nicholas Bratza hat eine Concurring Opinion geschrieben, der man das Unbehagen an der Argumentation der Mehrheit deutlich anmerkt, wenngleich er das Ergebnis mitträgt.
In sum, the prohibition applied to the most protected form of expression (public interest speech), by one of the most important actors in the democratic process (an NGO) and on one of the most influential media (broadcasting),
heißt es in einem der Minderheitsvoten mit beißender Schärfe. Und gerade da soll ein generelles Verbot zulässig sein und überall woanders nicht?
The fact that a general measure was enacted in a fair and careful manner by Parliament does not alter the duty incumbent upon the Court to apply the established standards that serve for the protection of fundamental human rights.
Der Gerichtshof dürfe Eingriffe per Gesetzgebung nicht anders gewichten als solche durch Urteil oder Verwaltungsakt.
Taken to its extreme such an approach risks limiting the commitment of State authorities to secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms guaranteed by the Convention. Where the determination of the public interest and its best pursuit are left solely and exclusively to the national legislator, this may have the effect of sweeping away the commitments of High Contracting Parties under Article 1 of the Convention read in conjunction with Article 19, and of re-asserting the absolute sovereignty of Parliament in the best pre-Convention traditions of Bagehot and Dicey.
Sovereignty of Parliament, Bagehot, Dicey: Da scheint auf, was wohl der unausgesprochene tatsächliche Beweggrund gewesen sein dürfte, der die Richtermehrheit zu seinem sonderbaren Votum bewogen hat: Das ist ein britischer Fall.
Die britische Boulevardpresse stand schon in den Startlöchern, loszuzetern über den unglaublichen Übergriff, den sich Straßburg da wieder geleistet hat. In Großbritannien steht der Rückzug aus der Menschenrechtskonvention auf der politischen Agenda. Da schien es der Mehrheit der Richter in Straßburg wohl angezeigt, diplomatisches Feingefühl über jurisprudenzielle Konsistenz zu stellen.