Verbraucherinteressen als Teil der öffentlichen Ordnung?
Am 28. Mai 2022 tritt ein weiterer Baustein der umfassenden Verbraucherschutzmodernisierung in Kraft. Das EGBGB erhält erstmals eine eigene Bußgeldvorschrift. Das überrascht auf den ersten Blick. Bußgelder dienen vorrangig der Wahrung der öffentlichen Sicherheit. Sie sanktionieren Verstöße gegen geschriebenes Recht. Doch die Vorschrift impliziert ein neues Verständnis des Verbrauchsgüterkaufs, das über den reinen Warenaustausch hinausgeht.
Der Regelungsinhalt des neuen Art. 246e EGBGB
Was regelt der neue Art. 246e EGBGB im Einzelnen? Der Katalog des Art. 246e § 1 Abs. 2 EGBGB ist lang. Daher beschränkt sich die Darstellung hier auf einige wenige Tatbestände.
Die einzelnen Verstöße werden in § 1 Abs. 2 aufgeführt. Eine bußgeldbegründende Verletzung der Norm liegt etwa dann vor, wenn ein Unternehmer nach ungefragter Zusendung von Waren einen nach § 241a Abs. 1 BGB nicht begründeten Zahlungsanspruch geltend macht (Nr.1). Des Weiteren, und das ist auch für Rechtsanwaltsfirmen eine brisante Neuerung, können Bußgelder verhängt werden, wenn von Unternehmen AGB empfohlen oder verwendet werden, die nach § 309 BGB unwirksam sind oder deren Empfehlung oder Verwendung dem Unternehmen durch rechtskräftiges Urteil untersagt wurden (Nr.2). Auch die Verletzung von Informations- oder Aufklärungspflichten können einen Verstoß begründen. Bis hierhin sanktioniert die Norm also Verstöße, die eindeutig feststellbar sind.
Unbestimmte Fristen
Die Regelung des Art. 246e Abs. 2 Nr. 11 EGBGB ist dagegen weniger klar. Demnach kann ein Bußgeld verhängt werden, wenn die Lieferung einer Sache bei einem Verbrauchsgüterkauf nicht innerhalb einer dem Unternehmer nach § 323 Abs. 1 BGB gesetzten angemessenen Frist erfolgt. Die Rechtsprechung kann die Frage nach der Angemessenheit einer Frist in solchen Fällen allerdings nur kasuistisch lösen. Allgemeingültige Formeln wurden bislang nicht entwickelt und werden es wohl auch nicht werden, denn die Angemessenheit einer Frist ist stets Frage des Einzelfalls. Es ist daher äußerst zweifelhaft, ob diese Bestimmung dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot genügt, welches besagt, dass dem Adressaten einer Norm vor Tatbegehung deutlich gemacht werden muss, welches Verhalten unter Strafe steht. Damit unvereinbar ist die Sanktionierung des Verstreichenlassens einer nicht näher bestimmten Frist. Im Zweifel wissen Unternehmen, Verbraucher und schlussendlich Behörden erst nach einem jahrelangen Rechtsstreit, ob die gesetzte Frist angemessen war.
Auch eine andere Vorschrift wirft Fragen auf. Nach Nr. 13 wird ein Unternehmer sanktioniert, der nach erfolgtem Rücktritt dem Verbraucher eine Leistung nach § 346 Abs. 1 BGB nicht zurückgewährt. Auch an dieser Stelle bestehen Zweifel an der Wahrung des Bestimmtheitsgebots. Wann ist der Verstoß vollendet? Mit Ablauf einer Zeitspanne, in der allgemein mit einer Rückgewähr zu rechnen ist? Muss der Verbraucher eine Frist setzen? Ist der Verstoß erst vollendet, wenn sich der Verbraucher gezwungen fühlt, Klage zu erheben? Auch hier bleibt die Umsetzung in der Praxis abzuwarten. Es wäre jedenfalls nicht verwunderlich, wenn in den kommenden Jahren der ein oder andere Bußgeldbescheid vor dem Bundesverfassungsgericht landet.
Entsprechende Verstöße können nach Art. 246e § 2 Abs. 2 EGBGB immerhin mit bis zu 50.000 Euro geahndet werden. Erzielt ein Unternehmen mehr als 1,25 Mio. Euro Jahresumsatz, so darf das Bußgeld höchstens vier Prozent des Jahresumsatzes betragen. Ist eine Umsatzschätzung nicht möglich, beträgt die Höchststrafe stolze 2 Mio. Euro.
Der Sinn und Zweck von Bußgeldern und Strafen
Unabhängig davon bleibt das Erstaunen über den Einzug der Bußgeldvorschrift in das Privatrechtsverhältnis. Bußgelder sind Strafen und Strafen dienen nicht der Durchsetzung von Individualinteressen, denn das Ordnungsrecht verfolgt primär spezial- und generalpräventive Zwecke. Das bedeutet, dass sowohl der Täter selbst als auch potenzielle Nachahmer von der Begehung vergleichbarer Taten abgehalten werden sollen. Der Allgemeinheit am geläufigsten ist wohl § 24 des Straßenverkehrsgesetzes, der die Sanktionierung von Verstößen unter anderem gegen die Straßenverkehrsordnung ermöglicht. Kennzeichnend ist hier aber, dass der Empfänger eines Bußgeldbescheids gegen eine Vorschrift verstößt, die das öffentliche Leben regelt. Wer zu schnell fährt, hat per se niemanden geschädigt. Dennoch wird ein Bußgeld verhängt, um die Allgemeinheit zu schützen. Denn würden alle rasen, gäbe es bald wohl unzählige Verkehrstote. Bußgelder betreffen das öffentliche Leben und damit die öffentliche Sicherheit, die durch diese Sanktionen aufrechterhalten werden soll. Auch im Strafrecht steht der Verstoß des Einzelnen gegen die Rechtsordnung im Vordergrund. Nicht umsonst hat das Opfer einer Straftat im Strafprozess in aller Regel keine herausgehobene Stellung. Strafen bezwecken die Einwirkung auf die Täter und auf die Allgemeinheit, die erst gar nicht zu Verstößen eingeladen werden soll. Schutzgut ist dabei die öffentliche Sicherheit, nicht die Beziehung von privaten Individuen zueinander oder gar das Interesse des Einzelnen an der Leistungserfüllung durch den anderen Teil. Im Zivilprozess dagegen werden die Fragen der Pflichterfüllung von Verträgen ausschließlich zwischen den Parteien geklärt. Bislang gilt auch für den Verbrauchsgüterkauf nichts anderes. Liefert ein Unternehmer etwa nicht innerhalb einer angemessenen Frist, kann der Verbraucher seine Interessen eigenverantwortlich durchsetzen. Ein staatliches Eingreifen in dieses Verhältnis war daher aus Sicht des Gesetzgebers bislang nicht nötig und ist mit dem Sinn und Zweck von Strafen auch schwer vereinbar. Der Schaden, der durch die wiederholte Missachtung von Fristen entsteht, ist langfristig beim Unternehmer zu finden. Erweist sich ein Unternehmen als unzuverlässig, wird es seine Kunden verlieren. Ein staatliches Eingreifen ist mit Blick auf die Privatautonomie nicht erforderlich. Die öffentliche Sicherheit im Sinne des Gefahrenabwehrrechts bleibt davon gänzlich unberührt, sodass sich auch mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm aufdrängen.
Vorbild Datenschutz?
Möglicherweise hat sich der Gesetzgeber eine bestehende Vorschrift zum Vorbild genommen, die unter anderem auch das Verhältnis von Privatpersonen zu Unternehmen betrifft. An einem 28. Mai ist schon einmal eine neue Bußgeldvorschrift eingeführt worden. Allerdings im Jahr 2018. Das Inkrafttreten der DSG-VO brachte eine datenschutzrechtliche „Revolution“ mit sich und eine neue Bußgeldvorschrift. Art. 83 Abs. 1 DSG-VO betrifft wie Art. 246e EGBGB auch Verstöße von Unternehmen gegen Rechte von Privatpersonen. Der gravierende Unterschied besteht allerdings in der Herleitung dieser Rechte. Während das Recht auf Datenschutz unmittelbare Folge des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ist, wird der Verbraucher im Falle der Nichterfüllung seines Vertrags in keinem Grundrecht verletzt, denn Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat und strahlen nur in begründeten Ausnahmefällen in privatrechtliche Verhältnisse zwischen natürlichen Personen und Unternehmen aus. Eine solche mittelbare Drittwirkung von Grundrechten kann sich vor allem aus der Schutzwirkung von Grundrechten ergeben. Voraussetzung dafür ist, dass das Grundrecht selbst einen entsprechenden Schutz vorsieht. So etwa Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat in die Pflicht nimmt, die Würde des Menschen zu schützen. Unter der Voraussetzung, dass sich aus dem betroffenen Grundrecht ein staatlicher Schutzauftrag ableiten lässt, können auch privatwirtschaftliche Unternehmen oder Privatpersonen verpflichtet werden, diesen Schutz zu gewährleisten. Verstöße gegen die DSG-VO können also mit Bußgeldern sanktioniert werden, weil der Staat mit dem Datenschutzrecht seiner verfassungsrechtlich auferlegten Schutzverpflichtung nachkommt, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu gewährleisten. Dies ist vor allem deshalb nötig, weil zwischen demjenigen, der Daten erhebt und den Betroffenen aufgrund der technologischen Überlegenheit von internationalen Unternehmen oft ein massives Ungleichgewicht besteht. Gegen WhatsApp und Co. hat jeder Nutzer schlechte Karten, weshalb er besonders schutzbedürftig ist. Auch das Verbraucherrecht geht davon aus, dass der geschäftserfahrene Unternehmer eine überlegene Position innehat. Im Zweifel kann der Verbraucher das Ungleichgewicht aber selbst beseitigen und seine Interessen notfalls gerichtlich durchsetzen. Kommt die Ware verspätet oder gar nicht, so ist das für den Verbraucher ohne Weiteres erkennbar. Allenfalls ist die allgemeine Handlungsfreiheit des Verbrauchers betroffen. Diese schützt aber nur vor Eingriffen des Staates. Besondere Gründe, die dem Staat eine Schutzverpflichtung zugunsten von Verbrauchern auferlegen, lassen sich daraus nicht ableiten.
Die praktische Durchsetzung als Anhaltspunkt?
Damit bleibt festzuhalten, dass weder der Sinn und Zweck von Strafen noch eine mögliche grundrechtlich vorausgesetzte Schutzverpflichtung des Staates die Einführung des Art. 246e EGBGB und damit die Einführung einer Bußgeldvorschrift ins Privatrechtsverhältnis begründen können. Licht ins Dunkel bringt allerdings die gesetzlich vorgeschriebene Umsetzung der Bußgeldverhängung. Denn nach Art. 246e § 2 Abs. 3 EGBGB kann die Ordnungswidrigkeit nur im Rahmen einer koordinierten Durchsetzungsmaßnahme nach Art. 21 der Verordnung (EU) 2017/2394 geahndet werden. Die Verordnung ist nach Art. 2 Abs. 1 auf Verstöße innerhalb der Union anwendbar. Art. 3 Nr. 2 der Verordnung bestimmt, dass ein solcher Verstoß dann vorliegt, wenn Verbraucherinteressen oder das Kollektiv der Verbraucher geschädigt werden oder werden können, die außerhalb des Mitgliedsstaates liegen, in dem die Handlung oder die Unterlassung ihren Ursprung hatte oder stattfand (lit. a), in dem das verantwortliche Unternehmen seine Niederlassung hat (lit. b) oder in dem Beweismittel oder Vermögensgegenstände eines Unternehmens vorhanden sind, die einen Zusammenhang mit der Handlung oder der Unterlassung aufweisen (lit. c). Durch die Bezugnahme auf die EU-Verordnung werden Verbraucherinteressen damit zum Allgemeingut erhoben. Dies folgt insbesondere daraus, dass ein Einschreiten der Behörden nach der gewählten Durchsetzungsmethode nur möglich sein soll, wenn eine grenzüberschreitende Beeinträchtigung kollektiver Verbraucherinteressen festgestellt wird. Damit erübrigt sich wohl auch der Konflikt mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Begreift der Gesetzgeber Verbraucherinteressen in begründeten Fällen als Teil der öffentlichen Ordnung, so verfolgt die Bestrafung durchaus ein legitimes Ziel. Dabei ist der Begriff der öffentlichen Ordnung nicht im Sinne des Gefahrenabwehrrechts zu verstehen, sondern im Sinne des europarechtlich geprägten Begriffs des „ordre public“. So erhält der Verbrauchsgüterkauf eine neue Dimension. Der Schutz von Verbraucherinteressen ist mit dieser Regelung nicht mehr nur auf das Verhältnis zwischen Individuen des Privatrechts beschränkt. Das erfordert allein der „effet utile“ des Art. 4 EUV, der die Mitgliedsstaaten zur effektiven Rechtsdurchsetzung verpflichtet. Verbraucherinteressen als Teil der öffentlichen Ordnung werden öffentlich-rechtliches Schutzgut. Daraus ergibt sich der grenzüberschreitende Auftrag an die Unionsstaaten Verstöße gegen fundamentale Verbraucherinteressen zu sanktionieren.
Das neue Verständnis vom Verbrauchsgüterkauf
Die Einführung dieser Vorschrift wird betroffenen Verbrauchern kaum bei der Rechtsdurchsetzung behilflich sein. Doch das ist angesichts der gewählten Durchsetzungsmethode auch gar nicht Ziel der Vorschrift. Die Vorschrift will kollektive Verbraucherinteressen schützen und stellt damit neue Maßstäbe für das Verständnis vom Verbrauchsgüterkauf auf. Dieser erhält durch die Regelung eine öffentlich-rechtliche Komponente. Ob die gewünschte Langzeitwirkung, also ein erhöhtes Verbraucherschutzniveau so erreicht wird, bleibt abzuwarten. Zumal die Zweifel an der Bestimmtheit der Norm bestehen bleiben und auch nicht ohne Weiteres auszuräumen sind. Eine äußerst spannende Entwicklung, deren Verfassungsmäßigkeit im Einzelnen das Bundesverfassungsgericht zu beurteilen haben wird.
Vielen Dank für den Hinweis auf diese spannende Entwicklung!
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass Art. 246e EGBGB nicht die erste Ordnungswidrigkeitenvorschrift ist, die zwingende vertragliche Ansprüche von Verbrauchern durchsetzen will: § 147b GewO iVm § 651t BGB droht für den Abschluss eines Pauschalreisevertrages ohne Sicherstellung der Insolvenzabsicherung ein Bußgeld an. Auch die Insolvenzsicherung ist in erster Linie ein vertraglicher Anspruch des Verbrauchers (§ 651r BGB).
Das öffentliche Interesse an der Durchsetzung ist hier sicherlich leichter zu konstruieren und das Defizit der effektiven Durchsetzung durch Verbraucherklagen evident (wenn es dem Verbraucher auffällt – im Insolvenzfall -, ist es zu spät), aber die Grundstruktur entspricht den neuen Tatbeständen.
Vielen Dank für diesen Beitrag, Herr Wolf. Das europäische Verbraucherschutzrecht wird immer verworrener und unergründlicher, auch für spezialisierte Anwälte. Vor allem KMU können sich das ganze bald nicht mehr leisten.
Vielen Dank für den Hinweis auf diese Entwicklung, die in der Tat auf den ersten Blick erstaunlich scheint. Aber eben auch nur auf den ersten. Ihre Schlussfolgerung, die neue Bußgeldvorschrift sei Symptom eines “neuen Verständnisses” des Verbrauchsgüterkaufs lässt mE den unionsrechtlichen Hintergrund außer Acht. Die neue Bußgeldnorm war ja keine deutsche Idee, sondern dient der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/2161, die die Bußgeldnormen verpflichtend vorschreibt. Hilfreich ist insoweit auch ein Blick in ErwGr 3 der Verordnung (EU) 2017/2394 (auf die Sie ja auch hinweisen), der die Regelungsmotivation darlegt:
“[Die Flucht gesetzeswidrig agierender Unternehmer in durchsetzungsschwache Mitgliedsstaaten] führt zu einer Wettbewerbsverzerrung für gesetzestreue Unternehmer, die im