30 May 2024

Verfassungsfeindlicher Protest und Versammlungsrecht

Politische Äußerungen in Versammlungen sind gegenwärtig Gegenstand intensiver öffentlicher Diskussionen. Insbesondere Positionen und Parolen, die auf eine Verneinung des Existenzrechts des Staates Israel gerichtet sind, werden zum Anlass für administrative Interventionen durch „Auflagen“ (sc. Beschränkungen) in Bezug auf Inhalt und Äußerungen im Rahmen von Versammlungen oder gar deren Auflösung genommen. Auch wenn viele Äußerungen, die gegenwärtig auf Versammlungen fallen, politisch ohne Zweifel zu missbilligen sind, gerät der Grundsatz, dass der Inhalt einer Versammlung und im Rahmen einer Versammlung erfolgte Meinungsbekundungen grundsätzlich „staatsfrei“ zu bleiben haben und nur bei Überschreitung äußerster Grenzen reglementiert werden können, zusehends in Gefahr. Der aktuelle Umgang mit Versammlungen gibt daher völlig unabhängig von einer inhaltlichen Würdigung Anlass zu kritischen Anmerkungen.

Was die Meinungsfreiheit schützt

Vor etwas mehr als drei Jahren haben die Innenverwaltungen mehrerer Bundesländer im Kontext rechtsgerichteter Demonstrationen das Zeigen sog. „Reichskriegsflaggen“ (ohne NS-Symbolik) im Erlasswege (siehe z.B. hier) dahingehend geregelt, dass das Verwenden dieser Flaggen unterbunden und die jeweilige Flagge sichergestellt werden könne. Der Erlass stützte sich dabei auf die öffentliche Ordnung als Grenze auch der Versammlungsfreiheit. Die Innenverwaltungen sahen in dem Zeigen der Flaggen mithin einen Verstoß gegen ungeschriebene Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes Zusammenleben angesehen wird – so die gängige Definition der „öffentlichen Ordnung“ (dazu ausführl. Koch, Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, 2023, § 4 Rn. 33 ff, 42 ff.).

Diesen Verboten sind die Verwaltungsgerichte mit dem schlichten Hinweis entgegengetreten, dass der Inhalt einer Versammlung und damit in diesem Kontext geäußerte Meinungen einer Bewertung durch den Staat als Grundlage versammlungsbezogener Maßnahmen entzogen sind. Insbesondere könne die Meinungsfreiheit grundsätzlich nicht unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung stehen, weil eine Anwendung dieses Maßstabs auf die Beschränkungsmöglichkeiten der Meinungsfreiheit es rechtfertigen würde, geäußerte Meinungsinhalte an den herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen zu messen. Die Meinungsfreiheit als auf die Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess gerichtetes Grundrecht schütze aber gerade auch diejenigen, die nicht die herrschenden Auffassungen teilen, selbst wenn die geäußerten Auffassungen sich gegen elementare Werte der Verfassung richten (vgl. OVG Bremen, Beschluss v. 16.10.2020 – 1 B 323/20, Rn. 8, unter Bezugnahme auf BVerfG, NJW 2001, 2069; s. ferner Nds. OVG, B. v. 13.11.2020 – 11 ME 293/20, Rn. 37).

Damit angesprochen und bestätigt wird ein Grundsatz, den schon das Preußische Oberverwaltungsgericht ebenfalls mit Blick auf das Mitführen von Fahnen in Versammlungen vor gut einhundert Jahren – im Januar 1923 – formuliert hat:   Es könne „grundsätzlich in der Mitführung von Fahnen … in einem Aufzug eine unzulässige Maßnahme auch dann nicht gefunden werden, wenn damit eine politische Gesinnung bekundet wird, die nicht auf dem Boden der verfassungsmäßigen Staatsform steht“ (PrOVGE 78, 261 (265)).

Unter dem Grundgesetz können in einer Versammlung geäußerte Meinungen erst recht kein Gegenstand versammlungsbezogener Maßnahmen sein. Da es sich bei der Meinungsfreiheit um „ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten handelt“ (BVerfGE 111, 147 [156]; BVerfG NVwZ 2008, 671 [673]) und der Staat sich einer Bewertung von Meinungen als Grundlage versammlungsbezogener Maßnahmen grundsätzlich zu enthalten hat, sind Einschränkungen der Meinungsfreiheit sowie auf den Inhalt von Versammlungen bezogene Beeinträchtigungen der Versammlungsfreiheit grundsätzlich ausgeschlossen. Das Bundesverwaltungsgericht hat dies soeben nochmals bestätigt:

„Eine Bewertung des Inhalts des mit einer Veranstaltung verfolgten kommunikativen Anliegens bzw. der Eignung oder Sinnhaftigkeit einer Veranstaltung sowie der in ihrem Rahmen geplanten Aktionen und Ausdrucksformen im Hinblick auf den jeweils bezweckten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung steht den grundrechtsgebundenen staatlichen Stellen nicht zu“ (Urt. v. 27.03.2024 – B 6 C 1/22, Rn. 41, unter Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR1190/90 u. a. = BVerfGE 104, 92 (109 ff.), sowie Kammerbeschluss vom 21. September 2020 – 1 BvR 2152/20 = NVwZ 2020, 1505 Rn. 17).

Administrative Interventionen gegen Versammlungen sind danach erst möglich, wenn gegen Strafgesetze verstoßen wird, weil etwa Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet werden (§ 86a StGB) oder der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) erfüllt ist. Denn: Bei Versammlungen handelt es sich um einen „Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung“ (BVerfGE 69, 315 [343] – „Brokdorf“). Sie können ihren Zweck nicht erfüllen, wenn ihre Zulässigkeit davon abhängig gemacht wird, ob eine wie auch immer definierte Mehrheit es für vertretbar hält, die jeweiligen Positionen und Inhalte zu äußern.

Auch Äußerungen von Amtsträger:innen mit Bezug zu Versammlungen stoßen daher an verfassungsrechtliche Grenzen, denn der Staat ist gerade mit Blick auf Versammlungen und die dabei verfolgten Ziele gehalten, im Interesse der Offenheit kommunikativer Prozesse im Grundsatz „inhaltsneutral“ zu bleiben (BVerfGE 104, 92 [110]). Zwar sind auch Amtsträger:innen befugt, sich am politischen Diskurs zu beteiligen, was (sachliche) Kritik an dem mit einer Versammlung jeweils verfolgten Anliegen einschließt. Im Übrigen muss sich der Prozess politischer Meinungsbildung aber frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich losgelöst von staatlicher Beeinflussung vollziehen können (BVerwG, NVwZ 2018, 433 [435 in Rn. 28]). Amtsträger:innen ist daher jedenfalls verwehrt, Vertreter:innen anderer Meinungen auszugrenzen oder zu diskreditieren, solange deren Positionen die durch die Strafgesetze gezogenen rechtlichen Grenzen nicht überschreiten (BVerwG a.a.O., Rn. 29). Auch hierin kommt zum Ausdruck, dass in einer Versammlung geäußerte Auffassungen vorbehaltlich eines Verstoßes gegen (verfassungsgemäßes) Strafrecht keinen Anlass für versammlungsbezogene Maßnahmen geben können, selbst wenn geäußerte Meinungen herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen widersprechen (vgl. BVerfG NVwZ 2008, 671 [673]; s. ferner BVerfGE 111, 147 [155 f.]; 124, 300 [334]).

Fragwürdige Inhalte begründen keine Interventionsbefugnis

Vor diesem Hintergrund irritieren Maßnahmen, mit denen in letzter Zeit versucht wurde, bei Versammlungen auf deren Inhalt oder die Art und Weise der Bekundung von Meinungen einzuwirken. Beispielhaft genannt sei das in Hamburg erlassene Verbot, im Rahmen einer Demonstration die Einführung eines „Kalifats“ zu fordern. An der Verfassungswidrigkeit dieser Zielsetzung besteht zwar kein Zweifel. Es dürfte daher auch möglich sein, eine auf dieses Ziel gerichtete Bewegung nach Maßgabe des Vereinsgesetzes zu verbieten. Solange das nicht der Fall ist, bleibt die Forderung nach einer anderen Staats- und Gesellschaftsordnung im Rahmen einer Versammlung aber möglich und zulässig. Da zudem nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, dass durch die in Rede stehende Parole („Das Kalifat ist die Lösung“) strafrechtliche Grenzen überschritten werden, irritiert die Selbstverständlichkeit, mit der Verwaltungsbehörden in Hamburg eine solche Beschränkung ins Werk gesetzt haben.

Ebenfalls auf Bedenken stoßen Statements, mit denen Amts- und Mandatsträger:innen auf einen offenen Brief reagiert haben, mit dem Kritik am Vorgehen gegen eine propalästinensische Demonstration auf dem Gelände einer Berliner Universität geübt wurde. Man muss diese Kritik, die sich unter mehreren Aspekten ebenfalls kritisieren lässt, nicht teilen. So lässt sich mit guten Gründen bezweifeln, dass es sich bei einem Campus-Gelände um ein „öffentliches Forum“ (dazu BVerfGE 128, 226 [253 f.]) handelt, auf dem beliebige Versammlungen oder gar längerdauernde „Protestcamps“ ermöglicht oder zumindest geduldet werden müssten. Ebenso wenig sind Sachbeschädigungen oder volksverhetzende Parolen hinzunehmen. Dass die Bundesministerin für Bildung und Forschung sich angesichts von Kritik am Umgang mit den Demonstrierenden mit Blick auch auf das von diesen verfolgte Anliegen „fassungslos“ zeigt, muss gleichwohl verwundern: Die inhaltliche Ausrichtung der Versammlung begründet für sich genommen keine Interventionsbefugnis.

Auf Einhaltung der genannten Grundsätze ist zu insistieren, auch wenn dies zum Anlass genommen wird, Kritiker:innen des polizeilichen Handelns als nicht auf dem „Boden des Grundgesetzes“ stehend (Stark-Watzinger a.a.O.) zu adressieren. Dabei geht es nicht darum, sich vor fragwürdige und offensichtlich abwegige Meinungen zu stellen. Vielmehr ist denen entgegenzutreten, die das Recht in Abrede stellen, fragwürdige und offensichtlich abwegige Meinungen zu vertreten. Denn das allein ist im Sinne des Grundgesetzes.


SUGGESTED CITATION  Koch, Thorsten: Verfassungsfeindlicher Protest und Versammlungsrecht, VerfBlog, 2024/5/30, https://verfassungsblog.de/verfassungsfeindlicher-protest-und-versammlungsrecht/, DOI: 10.59704/31dac6873abe4dcd.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Art. 8 GG, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Versammlungsrecht


Other posts about this region:
Deutschland