Verfassungsunmittelbare Diskriminierungsverbote im Privatrecht? – Vorerst nicht!
Zum Nichtannahmebeschluss in Sachen Altershöchstgrenze für die Betriebsrente (1 BvR 684/14)
1. Im Verfassungsrecht gibt es Fälle, die ihre Bedeutung gerade dadurch erhalten, dass nicht über sie entschieden wurde. So bestätigt jeder Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts implizit die Entscheidungsspielräume der anderen rechtlichen und/oder politischen Akteure, seien es die Fachgerichte, der Gesetzgeber oder die Verwaltung. Mit jeder Entscheidung, eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, erlegen sich die Karlsruher Richterinnen und Richter Enthaltsamkeit bei der Entwicklung neuer und der Fortschreibung etablierter verfassungsrechtlicher Standards auf. Denn die Maßstabbildung bleibt in aller Regel den Senatsentscheidungen vorbehalten. Nichtannahmebeschlüsse erhalten daher, wenn sie nicht gerade – wie bei der Mietpreisbremse – ein tagesaktuelles Thema betreffen (und ausnahmsweise über dutzende Randnummern hinweg begründet werden), nur selten Beachtung im juristischen Fachdiskurs, der seine Aufgabe ja gerade in der dogmatischen Weiterverarbeitung judikativ erzeugter Maßstäbe gefunden zu haben scheint.
2. Doch ab und an hat ein Nichtannahmeschluss etwas mehr Aufmerksamkeit verdient. Denn in der Nichtentscheidung über eine für die Maßstabbildung eigentlich geeignete Beschwerde kann ein Statement gegen die Fortentwicklung des Verfassungsrechts liegen. Einen solchen Beschluss hat vor kurzem die 3. Kammer des Ersten Senats in Sachen Altershöchstgrenze für die Betriebsrente vorgelegt. Sie nahm die Verfassungsbeschwerde einer Arbeitnehmerin nicht zur Entscheidung an, die wegen Überschreitens der Altershöchstgrenze nicht in die betriebliche Altersversorgung aufgenommen wurde. Die Beschwerdeführerin war mit der Geburt einer Tochter zunächst aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und hatte erst im Alter von 51 Jahren und vier Monaten wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen – ihre Tochter war inzwischen 25 Jahre alt und hatte eine Ausbildung abgeschlossen. Der Leistungsplan des Arbeitgebers für die betriebliche Altersversorgung sah vor, dass nur dann ein Versorgungsanspruch begründet wird, wenn die Tätigkeit im Betrieb vor dem 50. Lebensjahr aufgenommen wurde. Die Beschwerdeführerin sah darin eine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters sowie eine mittelbare Benachteiligung von Frauen, unterlag mit diesem Vorbringen aber in allen arbeitsgerichtlichen Instanzen, zuletzt 2013 vor dem BAG.
3. Auch in Karlsruhe fand sie nunmehr sechs Jahre später kein Gehör. Jedenfalls für den vorliegenden Fall ergebe sich aus den Darlegungen nicht, dass die Arbeitsgerichte die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 GG bei der Beurteilung der Altersgrenze verkannt hätten, heißt es im knapp, aber immerhin begründeten Nichtannahmebeschluss. Zwar könne eine staatliche Regelung, die Rentenansprüche an das Alter koppelt, gegen Art. 3 Abs. 1 GG (Alter) und gegen Art. 3 Abs. 2, Abs 3 Satz 1 GG (Geschlecht) verstoßen. Ungeachtet dessen, inwieweit diese Maßstäbe in privatrechtlichen Verhältnissen Geltung beanspruchten, sei jedoch nicht erkennbar, dass sie im konkreten Fall verkannt worden wären. Denn statistisch sei belegt, dass Mütter vielfach wieder – wenn auch meist nur in Teilzeit – erwerbstätig würden, wenn ihre Kinder eine Betreuungseinrichtung besuchten, spätestens aber, wenn die Kinder das Grundschulalter erreichten. Eine Altershöchstgrenze von 50 Jahren für die Betriebsrente könne sie daher nicht mittelbar benachteiligen. Auch im konkreten Fall der Beschwerdeführerin sei angesichts von Alter und Ausbildungsstand der Tochter bei ihrem Wiedereintritt ins Erwerbsleben keine Benachteiligung erkennbar.
4. Das alles ist wenig überraschend und verdient Zustimmung: Es war der Beschwerdeführerin nicht gelungen darzulegen, wie sie denn nun durch die Altershöchstgrenze wegen ihres Geschlechts konkret diskriminiert worden sein sollte. Dass solche Höchstgrenzen als Ungleichbehandlungen wegen des Alters grundsätzlich gerechtfertigt sind, weil sie die Funktionsfähigkeit des Versorgungssystems gewährleisten, leuchtet ohne Weiteres ein und findet auch im einfachen Recht eine Stütze (§ 10 Satz 3 Nr. 4 AGG). Das BAG hatte sich zudem ausführlich mit der EuGH-Rechtsprechung zur Altersdiskriminierung auseinandergesetzt, sich somit auch in diese Richtung „abgesichert“ und auch dafür ein Plazet aus Karlsruhe erhalten.
5. Bemerkenswert ist die ostentative Zurückhaltung, die die Kammer bestehend aus dem Vizepräsidenten Harbarth und den Richterinnen Baer und Ott gegenüber der Anwendung der verfassungsunmittelbaren Diskriminierungsverbote auf den arbeitsrechtlichen Fall an den Tag legt. Die Kammer stellt klar, dass der Staat an das Verbot der Benachteiligung wegen des Geschlechts (Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 GG) und wegen des Alters (Art. 3 Abs. 1 GG) gebunden ist. Die Frage, ob diese Diskriminierungsverbote auch in privatrechtlichen Verhältnissen Geltung (sic!) beanspruchen können, wird aber ausdrücklich offengelassen und im Weiteren nur im Konjunktiv II verhandelt, der mehr nach Irrealis als nach Potentialis zu klingen scheint. Die Entscheidung über die staatsgleiche Bindung privater Akteure an die gleichheitsrechtlichen Diskriminierungsverbote des Art. 3 GG, insbesondere des Verbots der Benachteiligung wegen des Geschlechts, ist damit bis auf weiteres vertagt.
6. Dass es auch ganz anders hätte kommen können, wird klar, wenn man sich den Stadionverbotsbeschluss des Ersten Senats aus dem April 2018 ins Gedächtnis ruft (vgl. die sehr unterschiedlichen Einschätzungen von Ruffert, Grünberger, Hellgardt und mir). Auch dort blieb der Beschwerdeführer letztlich erfolglos. Der Senat hatte aber seinen Fall dazu genutzt, um im rhetorischen Gewand der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung die staatsgleiche Bindung privater Akteure an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu etablieren – freilich nur in „spezifischen Konstellationen“ (was auch immer das heißen mag). Dass er solche Konstellationen nicht nur in Fußballstadien, sondern auch in sozialen Netzwerken anerkennen würde, war von Anfang an prognostiziert worden. Eine erste Bestätigung findet diese Prognose in der einstweiligen Anordnung der 2. Kammer des Ersten Senats in Sachen Der Dritte Weg/Facebook aus dem März 2019.
7. Ob die speziellen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG im Privatrecht „eventuell weitergehende Anforderungen“ stellen könnten, hatte der Senat im Stadionverbotsbeschluss explizit offengelassen (Rn. 40). Der Betriebsrenten-Fall hätte Gelegenheit dazu gegeben, die Frage erneut aufzuwerfen und – womöglich mit der Bildung neuer verfassungsrechtlicher Maßstäbe – zu beantworten. Darin, dass die 3. Kammer dies nicht getan hat, liegt die Bedeutung der Entscheidung, die im juristischen Tagesgeschäft allzu schnell unterzugehen droht. Die Message ist jedoch deutlich: Von einer nicht mediatisierten Geltung der Diskriminierungsverbote des Art. 3 GG unter Privatrechtssubjekten kann nicht ausgegangen werden – jedenfalls vorerst. Der konjunktivischen Formulierung des Beschlusses mag man sogar eine gewisse Tendenz dagegen entnehmen, doch wäre das kaum mehr als Kaffeesatzleserei.
8. Der Gesetzgeber hat mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ohnehin schon in großem Umfang Diskriminierungsverbote im Privatrecht vorgesehen. Doch sind diese eben, was sie sind: einfaches Recht (mit europarechtlichem Hintergrund, versteht sich), das noch dazu nur in bestimmten Fällen Anwendung findet (vgl. § 2 AGG) – der arbeitsrechtliche Fall der Beschwerdeführerin gehörte natürlich dazu. Wer noch weiter reichende Diskriminierungsverbote unter Privaten fordert, wird in dem Nichtannahmebeschluss eine verpasste Chance sehen, die Art. 3 Abs. 2 und 3 GG durch unmittelbare Geltung auch im Privatrechtsverkehr „scharf zu stellen“. Wer jedoch der immer weiter voranschreitenden Konstitutionalisierung privatautonom gestalteter Rechtsverhältnisse nicht nur Positives abzugewinnen vermag und die Entscheidung darüber, welche Ungleichbehandlungen unter Privaten hingenommen und welche verboten werden sollen, dem demokratischen Prozess vorbehalten möchte, wird der 3. Kammer des Ersten Senats in Anlehnung an Boethius anerkennend zurufen: „Weil du geschwiegen hast, bist du Philosophin geblieben!“
Es ist nicht Aufgabe der drei Verfassungsrichterinnen (Männer sind natürlich immer mit gemeint) rechtsphilosophische Entscheidungen zu treffen.
Die unmittelbare Drittwirkung des Art. 3 GG wird auch von mir entgegen sich seit meiner Tätigkeit an der Univetsität zu Köln hartnäckig (heute Wirtschaftsanwälte) haltenden Gerüchten auch von mir nicht vertreten.
Diese ist auch keine rechtsphilosophischen Überlegung.
Der EuGH folgt rechtsdogmatisch vielmehr in seiner Rechtssprechung zur Europäischen Grundrechte Charta einem Konzept des französischen Rechts.
Dem Kommentar von Frau Dr. Ende entnehme ich, dass der EuGH von einer unmittelbaren Wirkung der europ. Grundrechte auch im Privatrecht ausgeht? Welche Möglichkeiten hätte das BVerfG dann noch, die allenfalls nur mittelbare Drittwirkung insbes. in seiner bevorstehenden Entscheidung zum III. Weg noch zu retten? Das ganze wird immer bedrohlicher…
Ich würde die Haltung des EuGH nicht ganz so pauschal beschreiben. In vielen Fällen ähnelt sein Ansatz stark der sog. mittelbaren Drittwirkung, die ja letztlich nichts anderes ist als eine Chiffre für die Pflicht des Richters/der Richterin, einen angemessenen Ausgleich zwischen den kollidierenden grundrechtlich geschützten Interessen herzustellen, soweit dies bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts möglich ist (so schon eine häufig übersehene Passage in Lüth). Dasselbe fordert der EuGH z. B. in seiner Judikatur zum Schutz des Urheberrechts (Art. 17 GRC vs. Art. 11 GRC usw.).
Bei den Grundrechten des Arbeitslebens (Art. 27 ff. GRC) ist die Rechtsprechung sehr differenziert und m. E. stark beeinflusst von den jeweiligen Vorbehalten. Wo das Grundrecht erst gesetzlich konkretisiert werden muss, nimmt der EuGH gerade keine Grundrechtsbindung Privater an (so in der Rs. AMS zu Art. 27 GRC). Wo jedoch schon die Charta keine Mediatisierung durch den Gesetzgeber verlangt, wendet er das arbeitsrechtliche Grundrecht auch direkt gegen den Arbeitgeber (so die jüngere Rspr. zu Art. 31 Abs. 2 GRC). Die deutsche Grundrechtsdogmatik kann m. E. damit schon deswegen nicht umgehen, weil ihr mangels entsprechender Gewährleistungen im Grundgesetz ein passendes Deutungsschema fehlt. Auch deswegen wurden von vielen Kommentatoren die Art. 27 ff. GRC in der Frühzeit der Charta zu Grundrechtne „zweiter Klasse“ oder zu bloßen Grundsätzen im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC degradiert. Vielleicht setzt sich inzwischen die Einsicht durch, dass diese Grundrechte nicht irgendwie „schlechter“, sondern einfach anders sind als die Grundrechte des Grundgesetzes. Alles andere wäre übrigens auch sehr überraschend – der deutsche Einfluss auf die Charta war nicht so groß, wie gelegentlich behauptet wird: R. Herzog war im Konvent krankheitsbedingt fast durchgehend abwesend, die maßgeblichen Entscheidungen wurden von Franzosen vorbereitet, allen voran G. Braibant, und sind im Übrige Ergebnis eines Kompromisses zwischen den politischen Lagern (vgl. die Parallelität von Art. 16 und 28 GRC).
Die Rechtsprechung des EuGH zum Diskriminierungsverbot nach Art. 21 GRC ist wiederum sehr diffizil. Ich habe jedoch den Eindruck, dass der Gerichtshof hier vor allem um eine Auslegung des einschlägigen Sekundärrechts im Lichte des Art. 21 GRC bemüht ist. Das ist etwas anderes als eine unmittelbare Bindung der Privaten an das Diskriminierungsverbot. Aber hier ist gewiss das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Bedrohlich finde ich das alles nicht. Man muss sich eben nur von der Vorstellung lösen, die Unionsgrundrechte seinen nichts anderes als eine Reformulierung der Grundrechte des Grundgesetzes. Diese Ansicht war schon immer falsch: Wer die Unterlagen des Grundrechtekonvents aufmerksam studiert, wird feststellen, wie häufig deutsche Initiativen auf Unverständnis der anderen Beteiligten gestoßen und letztlich „versandet“ sind.
Mein Credo lautet, die Unionsgrundrechte als selbständige Gewährleistungen ernst zu nehmen, sich mit ihrer Entstehung im Grundrechte- und Verfassungskonvent sowie dem sekundärrechtlichen Kontext intensiv zu beschäftigen und die EuGH-Rechtsprechung ggf. im Lichte dieser Erkenntnisquellen zu kritisieren – für Kritik gibt es Anlass genug. Die Grundrechtsdogmatik des Grundgesetzes kann hingegen kein Maßstab sein, an dem sich der EuGH messen lassen müsste.
Vielen Dank, Herr Michel, für Ihre sachkundigen Erläuterungen.
Sicher ist der EuGH nicht an die Grundrechtsdogmatik des Grundgesetzes gebunden, wie Sie resümieren. Umgekehrt dürfte das dann aber auch gelten, d.h. das BVerfG dürfte auch nicht ohne weiteres an die Rechtsprechung des EuGH gebunden sein. Darüber wird aber eher leichtfüßig hinweggegangen. Auch anderswo hier im Blog wird schlicht (unter Hinweis auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1964) “ein Anwendungsvorrang von Unionsrecht vor nationalem Recht – einschließlich des Verfassungsrechts” angenommen und etwa ein im Privatrechtsverkehr vom EuGH gebilligtes Kopftuchverbot ohne weiteres als präjudiziell für entsprechende Verbote in Schulen und Behörden behandelt (https://verfassungsblog.de/freiheit-oder-gleichheit-kopftuchverbote-im-spannungsfeld-von-unionsrecht-und-grundgesetz/).
Ich frage mich, wie das alles mit der “Solange-Rechtsprechung” des BVerfG und dem eigentlich doch recht beschränkten Anwendungsbereich der GRC (Art.51) zu vereinbaren ist.
Liebe Frau Kaufhold,
natürlich gilt das nicht umgekehrt. Im Gegenteil hielte ich nicht viel davon, wenn das BVerfG ohne Not die Grundrechte des Grundgesetzes mit denen des Unionsrechts parallelisierte. Manche deuten den Stadionverbots-Beschluss ja in diese Richtung, vielleicht nicht zu Unrecht. Zum Schwur käme es erst, wenn EuGH und BVerfG in ein und derselben Sache miteinander unvereinbare grundrechtliche Maßstäbe aufstellten, die auch im konkreten Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Doch das ist mit Blick auf die Urteilstechnik des EuGH, der den nationalen Gerichten meist die Einzelfallabwägung überlässt (und aufgrund der Konstruktion des Vorabentscheidungsverfahren auch im Regelfall überlassen muss), eher unwahrscheinlich. Und dass der EuGH, wenn es wirklich hart auf hart kommt, auch mal nachgeben kann, hat er ja gegenüber der Corte costituzionale in M.A.S. („Taricco II“) bereits bewiesen.
Ich stimme Ihnen auch darin zu, dass man Entscheidungen des EuGH – wie in den Kopftuchfällen – nicht vorschnell generalisieren sollte, denn immerhin hängt auch im Vorabentscheidungsverfahren viel vom konkreten Fall und seiner Aufbereitung durch das nationale Gericht ab. Wie sehr die Vorlagefrage selbst die (grund-)rechtlichen Maßstäbe prägt, kann man z. B. in der Rechtsprechung zu den Etikettierungsvorschriften beobachten, die – je nach „Auskunftsbegehren“ des nationalen Gerichts – mal an Art. 15 und 16 GRC, mal nur an Art. 16 GRC und mal an Art. 16 und Art. 11 GRC gemessen werden.
Mit „Solange“ sehe ich übrigens keine Probleme, denn dass der Grundrechtsschutz in der Union auch bei der ein oder anderen Divergenz mit „dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist“, wird man unter der Charta kaum bezweifeln können.
Beste Grüße
FM
BVerfG diskriminierungsverbot im Privatrecht