13 April 2020

Verhältnis­mäßigkeit mit der Holz­hammer­methode

Ausgangsbeschränkungen in Bayern

Seit Wochen nun beobachten wir, wie Menschen auf sehr unterschiedliche Weise auf die COVID-19-Pandemie reagieren. Die unmittelbare Gefahrenursache ist zwar für das bloße Auge nicht sichtbar. Sichtbar hingegen sind die von der Weltgesundheitsorganisation, der Johns Hopkins Universität oder dem Robert-Koch-Institut veröffentlichten Daten. Täglich steigende Zahlen von Infizierten, täglich steigende Zahlen von Toten. Vielleicht ist es nachvollziehbar, dass „in diesen Zeiten“ Regelungsmaßnahmen „mit heißer Nadel gestrickt“ (noch so eine Phrase) sind. Selbst wenn in der Theorie Krisenszenarien vielleicht irgendwann einmal durchgespielt worden sind (siehe BT Drs. 17/12051, S. 57 ff.), lässt sich nicht jede Variante einer Krise antizipieren – genauso wenig wie der tatsächliche Stressmodus, in dem andere und man selbst sich befinden werden. In diesem Modus sind nun Entscheidungen getroffen worden. Entscheidungen, deren Konsequenzen ohne jegliche Übertreibung als der „massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik“ bezeichnet werden können.

Für viele ist dieser Grundrechtseingriff ebenfalls nachvollziehbar angesichts der Vorstellung von Masseninfektionen in Pflege- oder Rehaeinrichtungen, von zu Triage gezwungenen Ärzt*innen und einem komplett überforderten Gesundheitssystems. Beeindruckt davon zeigen sich offenkundig auch die Gerichte, die einen Eilantrag nach dem anderen ablehnen unter Verweis auf legitime Zielsetzungen, die diesbezügliche Einschätzungsprärogative staatlicher Akteure und vor allem auf die Folgenabschätzung im Wege der Doppelhypothese, die bisher stets zu Ungunsten der Antragsteller*innen ausfiel.

Exemplarisch sei hier die Situation in Bayern herausgegriffen: Hier gelten seit dem 20.03.2020 Ausgangsbeschränkungen in einer im Vergleich zur Mehrzahl anderer Bundesländer deutlich strengeren Variante. Abgesehen beispielsweise vom Weg zur Arbeit, zum Arzt oder zum Einkaufen ist es Personen nur alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes erlaubt, sich zu Sport oder einem Spaziergang (neuerdings inklusive einer Pause auf der Parkbank) nach draußen zu begeben. Auf den Weg gebracht wurden diese Ausgangsbeschränkungen zunächst auf der fragwürdigen Basis einer Allgemeinverfügung. Ab dem 24.03.2020 wurde diese Allgemeinverfügung – man muss wohl sagen – überlagert durch die Bayerische Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie, die mit Wirkung zum 31.03.2020 durch die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ersetzt wurde (konsolidierte Fassung hier).

Dabei hatten zwei Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Allgemeinverfügung zumindest punktuell Erfolg (Beschl. v. 24.03.2020, Az. 26 S 20.1252 und M 26 S 20.1255, siehe hier). Dies jedoch unter Verweis auf die formelle Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Fragen der materiellen Rechtmäßigkeit, dabei insbesondere die Frage der Verhältnismäßigkeit ließ das VG München – anders als in der Pressemitteilung verlautbart – ausdrücklich offen. Nach den ablehnenden Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (BayVerfGH) (Ent. v. 26.03.2020 Az. Vf. 6-VII-20), des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) (Beschl. v. 30.3.2020, Az. 20 NE 20.632) sowie jüngst des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) (Beschl. v. 07.04.2020, Az. 1 BvR 755/20 und Beschl. v. 09.04.2020, Az: 1 BvR 802/20) über Eilanträge gegen die Verordnung vom 24.03.2020 dürfte jedoch sehr zweifelhaft sein, ob im Wege des Eilrechtsschutzes etwas gegen die Ausgangsbeschränkungen erreicht werden kann. 

Aus der Zusammenschau der genannten Entscheidungen ergibt sich folgendes gemeinsames Narrativ: Zwar werden schwerwiegende, teils sogar als irreversibel erkannte – aber eben auch nur bedingt näher definierte – Grundrechtseingriffe für eine Vielzahl von Menschen durchaus gesehen. Dennoch seien diese hinzunehmen angesichts der „Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach derzeitigen Erkenntnissen“ (BVerfG, Beschl. v. 07.04.2020, Az. 1 BvR 755/20, Rn. 10). Dazu der BayVerfGH (a.a.O., Rn. 18): „Selbst wenn man insoweit von einer geringen Wahrscheinlichkeit ausgeht […], überwiegen angesichts der überragenden Bedeutung von Leben und Gesundheit der möglicherweise Gefährdeten die Gründe gegen das Außerkraftsetzen der angegriffenen Verordnung.“ Und noch einmal das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 07.04.2020, Az. 1 BvR 755/20, Rn. 11): „Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wiegen die Einschränkungen der persönlichen Freiheit weniger schwer.“

Diese Argumentation ist vermutlich für viele Menschen in Bayern plausibel und mag sie – für einen individuell unterschiedlichen Zeitraum – mit den gravierenden Einschränkungen befrieden. Dennoch ist sie kein Freifahrtschein für die Exekutive, auch nicht bei zeitlich begrenzten Maßnahmen. Dazu äußert sich der BayVGH sehr deutlich (a.a.O, Rn. 69) – dies noch zur Verordnung vom 24.03.2020, die zunächst nur bis zum 03.04.2020 galt (für die bis zum 19.04.2020 geltende Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung trifft dies umso mehr zu): 

„Unabhängig davon trifft [den Verordnungsgeber] nach Auffassung des Senats im Hinblick auf das Gewicht der mit der Verordnung verbundenen Grundrechtseingriffe aber eine fortlaufende Evaluierungspflicht. Der Verordnungsgeber hat für die Dauer der Gültigkeit der angegriffenen Verordnung ständig zu überwachen, ob deren Aufrechterhaltung noch erforderlich und angemessen ist. Dabei dürften die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit umso strenger werden, je länger die Regelungen schon in Kraft sind. Sollte sich die Unverhältnismäßigkeit einzelner Regelungen herausstellen, wären diese auch vor Ablauf des befristeten Geltungszeitraums unverzüglich aufzuheben.“

Alle seit dem 20.03.2020 in Bayern erlassenen Regelungsmaßnahmen vermitteln den Eindruck der Umsetzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ähnlich wie in einer juristischen Anfängerklausur: Ein Satz zum legitimen Ziel; geeignet ist ohnehin alles, was nicht völlig ungeeignet ist; milderes, gleich geeignetes Mittel nicht ersichtlich; Maßnahme angemessen angesichts des gewichtigen Ziels (s.o.). Dabei ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen keine „kleinliche Rückfrage“. Sie ist gerade angesichts der in der Tat gewichtigen Zielsetzung der hier in Rede stehenden Maßnahmen der grundlegende Maßstab für eine grundrechts-sensitive, wohl ausgewogene Vorgehensweise der Exekutive, die mit Blick auf den oben erwähnten #massivstenkollektivenGrundrechtseingriffinderGeschichtederBRD ohne Zweifel mehr als geboten erscheint. 

Vor allem im Rahmen einer Überprüfung der Angemessenheit der Maßnahmen müssen die jeweiligen Eingriffe in unterschiedliche betroffene Grundrechtspositionen einzeln gewichtet und in Verhältnis zur Zielsetzung der Maßnahme gesetzt werden. Diese differenzierte Umsetzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wäre wiederum für die Betroffenen transparent zu machen. Auch um zum Ausdruck zu bringen, dass hier zwar bestimmte Interessen als gewichtiger eingeschätzt werden, die Berechtigung anderer Interessen aber durchaus gesehen wird. Während im Grunde also ein Skalpell das Werkzeug der Wahl wäre, greift man in Bayern zum Holzhammer. 

Nun könnte man natürlich nachjustieren. Mit dem BayVGH besteht sogar in jedem Augenblick eine Pflicht zur Überprüfung und Neubewertung. In gleicher Weise argumentiert nun das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zum Gottesdienstverbot in der hessischen Corona-Verordnung (Beschl. v. 10.04.2020, Az. 1 BvQ 28/20, Rn. 18). Wenn Maßnahmen vor dem Hintergrund drohender Gefahren schnell auf dem Weg gebracht werden müssen, folgt daraus nicht, dass diese Maßnahmen nicht nachträglich korrigiert oder angepasst werden können, sollte sich herausstellen, dass im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Exekutive auch noch andere Optionen zur Verfügung gestanden hätten oder dass andere wichtige Punkte schlicht nicht bedacht worden sind. 

Besonders mit Blick auf die strenge Variante der Ausgangssperre scheint das Argument, nur so können die Zielsetzung erreicht werden, angesichts ebenfalls effektiver milderer Varianten in anderen Bundesländern wenig überzeugend. Dabei steht nicht nur im Raum, dass bestimmte Personen „derzeit etwa keine Partnerschaft anbahnen, mit anderen musizieren oder demonstrieren könne[n]“ (BVerfG, 1 BvR 755/20, Rn. 9). Betroffen sind eben nicht alleine Singles, denen die Decke ihrer Altbauwohnung in München-Schwabing auf den Kopf fällt, weil sie gerade keine Tinder-Dates haben können. Die Folgen sozialer Isolation können alle Menschen treffen, insbesondere wenn „jedes Verlassen der eigenen Wohnung Rechtfertigungsdruck auslöst und die persönliche soziale Interaktion mit Personen außerhalb des eigenen Hausstands stark eingeschränkt ist“ (BVerfG, 1 BvR 802/20, Rn. 13). 

Vermutlich aber haben die Menschen, die besonders unter den geltenden Maßnahmen leiden, gerade andere Sorgen, als einen Normenkontrollantrag oder eine Verfassungsbeschwerde auf den Weg zu bringen. Auch sie stellen Risikogruppen (wenngleich anderer Gefahren) dar, die der bayerische Verordnungsgeber – und auch das Bundesverfassungsgericht („Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen“, BVerfG, 1 BvR 755/20, Rn. 8 und 1 BvR 802/20, Rn. 12) – nicht weniger im Blick haben sollte. Zu diesen Risikogruppen zählen etwa alkoholabhängige oder anderweitig suchtkranke Menschen, die gerade keine Selbsthilfegruppen besuchen oder öffentliche Drogenkonsumräume aufsuchen, alleinstehende Menschen mit Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen, Menschen in Flüchtlingsunterkünften oder auch Menschen (insbesondere Frauen und Kindern), die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen verstärkt häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Hier ist dringend eine Anpassung der geltenden Regelungen geboten. Die Corona-Verordnung Baden-Württembergs enthält beispielsweise eine explizite Regelung, die die Ausgabestellen von Tafeln in die Reihe der systemrelevanten Einrichtungen aufnehmen. Dies ist von besonderer Tragweite, wenn gerade für viele Kinder kostenlose Mahlzeiten in Kitas oder Schulen wegfallen. Eine klare Regelung ist auch für die Tätigkeit von Sozialarbeiter*innen oder in diesem Bereich ehrenamtlich aktiven Menschen erforderlich. Selbst wenn trotz aktuell durchgeführter Studien (siehe etwa hier) das Robert-Koch-Institut seine die Risikobewertung für die Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung im Allgemeinen und der Risikogruppen im Besonderen nicht ändern sollte: Dringend in die Erwägungen mit aufgenommen werden sollten – in Gestalt angepasster Maßnahmen – die über die Zeit nur zunehmenden Risiken für die oben genannten Gruppen. Und dies nicht nur in Bayern.