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26 May 2023

Verhältnismäßigkeit, Normenklarheit und § 129 StGB

Der Anwendungsbereich von § 129 StGB wirft mehr Fragen auf, als er klare Antworten gibt; dabei kreist die strafrechtliche Diskussion erkennbar um das „Ob“ und „Wie“ der Begrenzung eines zu weit geratenen oder jedenfalls als zu weit empfundenen Tatbestands.1) Daraus resultiert offenbar auch, dass die Frage, inwieweit die Unterbrechung von Routinen und täglichen Abläufen durch Aktionen der „Letzten Generation“ sich unter diese Norm subsumieren lässt, allgemein als offen angesehen wird. In einer aktuell in den Medien geführten Diskussion wird einerseits betont, dass der gesetzliche Tatbestand derartige Aktivitäten ohne Weiteres zu erfassen vermöge, was in der Tat naheliegend erscheint: Insbesondere der etwas treuherzige Einwand, dass Zweck und Tätigkeit der Aktivisten auf den Klimaschutz, nicht aber die Begehung von Straftaten gerichtet seien, erscheint als wenig tragfähig, da die Aktivisten die gewünschte Aufmerksamkeit gerade durch die Blockade des Straßenverkehrs erreichen wollen, so dass dieser Effekt folglich (ebenfalls) bezweckt ist. Die Gegenposition zielt denn auch darauf ab, den Anwendungsbereich von § 129 StGB durch ungeschriebene Tatbestandsmerkmale wie etwa das Erfordernis einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu begrenzen, was mit Blick auf die hier in Rede stehenden Aktivitäten zu neuen Unklarheiten führt. Schon diese Gegebenheiten legen jedoch nahe, dass es geboten ist, den gordischen Knoten strafrechtsdogmatischer Erwägungen mit dem scharfen Schwert des Verfassungsrechts zu durchschneiden: § 129 StGB ist in seiner derzeitigen Form verfassungswidrig!

Verhältnismäßigkeit und verfassungskonforme Interpretation

Die Bemühungen um eine Restriktion des Tatbestandes von § 129 StGB knüpfen erkennbar an Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes an, der schon mit Blick auf frühere Fassungen der Norm verlangte, dass die in Rede stehenden Straftaten unter dem Blickwinkel einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit von einigem Gewicht sein mussten;2) hierfür waren offenbar Erwägungen maßgeblich, die im Verhältnismäßigkeitsprinzip wurzeln.3) Mit der Anpassung an unionsrechtliche Vorgaben aus dem Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 20084) ist der gesetzliche Tatbestand im Jahre 2017 indes verändert – zum Teil verengt und zum Teil erweitert – worden, letztlich aber auch im Vergleich zu Vorgaben des Unionsrechts bemerkenswert weit geblieben. Der genannte Rahmenbeschluss definiert in seinem Art. 1 Nr. 1 „kriminelle Vereinigungen“ (einschränkend) dahin, dass deren Tätigkeit darauf gerichtet sein muss „sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen“; diese Wendung wurde in das deutsche Recht nicht übernommen. Auch knüpft Art. 1 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses an Taten an, die „im Höchstmaß“ mit einer Strafe von mindestens vier Jahren bedroht sind; das deutsche Recht lässt hingegen zwei Jahre genügen. Damit ist der mitgliedstaatliche Gesetzgeber bei der Definition krimineller Vereinigungen über die Vorgaben des Unionsrechts hinausgegangen.5) Das steht ihm frei, führt aber zu dem Problem, wie mit Sachverhalten umzugehen ist, die sich bei der Verfolgung verfassungsrechtlich geschützter – wenn nicht geforderter – Zwecke ereignen.

Der Gesetzgeber war sich der Problematik der Weite seiner Regelung offenbar bewusst: In den Gesetzesmaterialien wird die erwähnte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ausdrücklich aufgegriffen und aus dem Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Bedeutung von § 129 StGB als Katalogtat für die auch von F. Wenglarczyk betonten strafprozessualen Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden6) gefolgert, „dass die von der Vereinigung geplanten oder begangenen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sein müssen“;7) offenbar soll es sich dabei um eine verfassungsrechtliche Vorgabe handeln. Die Verfasser des Gesetzentwurfs gingen danach selbst davon aus, dass die gesetzliche Regelung ohne die Restriktionen nach Maßgabe der vorangegangenen Rechtsprechung auf Bedenken unter Aspekten der Verhältnismäßigkeit stoßen würde.

Das dürfte auch naheliegen, denn es ist zu bezweifeln, dass eine Vorverlagerung der Strafbarkeit durch ein Präventiv-Strafrecht zu Zwecken des Rechtsgüterschutzes erforderlich und angemessen (verhältnismäßig ieS) ist, wenn die genannten einengenden Voraussetzungen nicht vorliegen. Zwar begegnet es keinen Bedenken, wenn gewalttätige Aktionen gegen Personen oder Sachen bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen der Norm von § 129 StGB erfasst werden. Ob dies auch für die Aktivitäten der „Letzen Generation“ gilt, erscheint jenseits des spezifischen Gewaltbegriffs des § 240 StGB aber als zweifelhaft: Entgegen einer gelegentlich immer noch anzutreffenden Fehlvorstellung ist der öffentliche Raum nicht allein ein Raum für den (motorisierten) Individualverkehr, sondern auch ein Kommunikationsraum, was Demonstrationen und andere Veranstaltungen einschließt. Damit sind „unvermeidbar gewisse nötigende Wirkungen in Gestalt von Behinderungen Dritter verbunden“.8) Dies ändert zwar nichts daran, dass das durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt einer Versammlung durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt ist und deshalb nicht auch die Entscheidung umfassen kann, „welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben“.9) Auch wenn eine durch nicht angemeldete Versammlungen provozierte Beeinträchtigung des Fortkommens anderer Personen nicht die (eng verstandene) „Unfriedlichkeit“ einer Versammlung“ iSv Art. 8 GG zur Folge hat, bleibt sie daher rechtswidrig. Gleichwohl hatte aber der Gesetzgeber erkennbare Zweifel, ob ein solcher Rechtsverstoß und die damit einhergehende Beeinträchtigung anderer Personen eine Bedeutung hat, die ausreichend ist, um eine Strafbarkeit nach Maßgabe von § 129 StGB einschließlich der damit verbundenen Möglichkeiten des Strafprozessrechts wie etwa Hausdursuchungen durch bewaffnete Einsatzkräfte im Morgengrauen zu rechtfertigen.

Bestimmtheit und Normenklarheit

Allerdings haben sich diese Zweifel nur in der Weise manifestiert, dass in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf die den Tatbestand einschränkende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hingewiesen wurde; in den Gesetzestext Eingang gefunden haben diese Erwägungen hingegen nicht. Offenbar sollte danach mit der Inbezugnahme der vorangegangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshof eine verfassungsrechtlich gebotene, aber gleichwohl ungeschriebene Restriktion des Tatbestandes erfolgen. Eine solche gesetzgeberische Vorstellung ist für die Justiz indes schon nicht verbindlich, wenn sie im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat.10) Von größerer Bedeutung sind im vorliegenden Zusammenhang aber zwei weitere Aspekte.

Zunächst entbehrt das Erfordernis einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit von einigem Gewicht der hinreichenden tatbestandlichen Bestimmtheit, wie sich auch an der Diskussion darüber ablesen lässt, ob die Aktivitäten der „Letzten Generation“ beispielsweise aufgrund einer etwaigen Behinderung von Rettungsfahrzeugen diese Voraussetzungen erfüllen. Wenn in diesem Zusammenhang auf eine „Gesamtwürdigung“11) des Geschehens unter wertender Einbeziehung der Gesamtumstände12) abgestellt wird, liegt auf der Hand, dass eine solche (ungeschriebene) Strafbarkeitsvoraussetzung den Anforderungen an Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit einer Normanwendung nicht zu genügen vermag.

Im Übrigen bestehen schon grundsätzliche Bedenken gegen die verbreitete Annahme, dass sich unklare oder zu weitgehende gesetzliche Regelungen über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Belieben „eindampfen“ lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst klargestellt, dass der Anwendungsbereich zu weit gefasster Vorschriften nicht uneingeschränkt durch eine verfassungskonforme Reduktion oder allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen reduziert werden kann, weil auch in diesen Fällen die Anforderungen an Bestimmtheit und Normenklarheit zu beachten sind.13) Dies zu Recht: Präzise, klare und verhältnismäßige Normen zu schaffen ist die originäre Aufgabe des Gesetzgebers. Er kann sie nicht dergestalt an die Justiz delegieren, dass es ihr überlassen bleibt, durch im Tatbestand einer Norm nicht enthaltene und im Einzelnen nicht vorhersehbare Restriktionen verfassungsmäßige Regelungen und Zustände zu schaffen.

Konsequenzen

Damit ergibt sich: Schon die Verfasser*innen des aktuellen Gesetzestextes hatten berechtigte Zweifel an der Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit der Norm. Eine entsprechende Absicherung sollte durch eine ungeschriebene und allein in den Gesetzesmaterialien erwähnte Begrenzung des Tatbestandes erfolgen, die aber der hinreichenden Bestimmtheit entbehrt und deren ausdrückliche Aufnahme in das Gesetz aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten gewesen wäre. Die Regelung kann daher in ihrer derzeitigen Fassung nicht als verfassungskonform angesehen werden.

References

References
1 Dazu etwa J. Schäfer / S. Anstötz, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl., 2021, § 129 Rn. 38 ff.; D. Sternberg-Lieben / U. Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., 2019, § 129 Rn. 6, die nur „Bagatelldelikte“ ausklammern wollen.
2 Vgl. etwa BGH, NJW 1995, 3395 (3396 sub II.); BGH, NStZ 1995, 340 (341 sub II. 2. a).
3 Vgl. BGH, NStZ 1995, 340 (341 sub II. 2. a).
4 ABl. L 300 vom 11.11.2008, S. 42
5 Vgl. dazu die wenig Klarheit vermittelnden Ausführungen in BT-Drs. 18/11275, S. 10 und 11.
6 s. hierzu auch BGH, NStZ 1995, 340 (341 sub II. 2. a).
7 BT-Drs. 18/11275, S. 11
8 BVerfG, B. v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u.a., Rn. 51.
9 BVerfG a.a.O. (Anm. 9).
10 Vgl. BGH, NStZ 1995, 340 (342 sub II. 2. a) aa).
11 J. Schäfer / S. Anstötz a.a.O. (Anm. 1), Rn. 42; BGH, NStZ 1995, 340 (341 sub II. 2. a).
12 BGH, NStZ 1995, 340 (342 sub II. 2. a) aa).
13 BVerfG, B. v. 09.12.2022 – 1 BvR 1345/21, Rn. 121.

SUGGESTED CITATION  Koch, Thorsten: Verhältnismäßigkeit, Normenklarheit und § 129 StGB, VerfBlog, 2023/5/26, https://verfassungsblog.de/verhaltnismasigkeit-normenklarheit-und-%c2%a7-129-stgb/, DOI: 10.17176/20230526-231136-0.

2 Comments

  1. Marx G Fri 26 May 2023 at 15:06 - Reply

    Bei so vielen Beiträgen zum gleichen Thema, würde es vielleicht Sinn machen, die Beiträge unter einem einzelnen Sub-header zu bündeln, so dass man die Übersicht behalten kann. (wie manchmal bei den roten Artikeln)

  2. Alexander Fri 26 May 2023 at 23:12 - Reply

    Bei der Lektüre des Beitrags von Herrn Koch stechen bei allen -möglicherweise berechtigten – Einwänden zum Verhältnismäßigkeitsprinzip vor allem die den Bestimmtheitsgrundsatz verkennenden Ausführungen heraus.

    Der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit von Straftatbeständen ist stets schnell erhoben und nur selten begründet.

    Die Unbestimmtheit einer Norm nun auf die Unbestimmtheit eines nicht normierten, den Täter begünstigenden Tatbestandsmerkmals zurückzuführen, obwohl vorher bereits – insofern zutreffend – festgestellt wurde, dass das Merkmal nicht zum gesetzlichen Tatbestand gehört, überzeugt nicht. Selbst wenn der Autor, trotz der dann irreführenden Überschrift, nur die Normauslegung und damit einen Verstoß gegen das Gebot der Auslegungsbestimmtheit (als Rechtsfortbildung von Art. 103 Abs. 2 GG durch das BVerfG) rügen möchte, so übersieht er, dass dies zum einen nicht zur Unbestimmtheit der Norm führen kann und zum anderen schon deshalb abwegig ist, weil es tatbestandseinschränkend und tatbestandserweiternd wirkt.

    Darüber hinaus wäre es vorzugswürdig die Verfassungswidrigkeit der Norm zumindest im Ansatz anhand der vom BVerfG entwickelten Grundsätze – insbesondere hinsichtlich der stets betonten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers – zu erläutern. So stehen in der Sache teils zutreffende Argumente abseits jeder verfassungsrechtlichen Debatte.

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