Verhinderte Rechtsanwendung: deutsche Gerichte, CETA/TIIP und Investor-Staat-Streitigkeiten
Selten war das Interesse an völkerrechtlichen Verträgen so groß wie im Fall der geplanten Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Dies führt dazu, dass sich zahlreiche Jurist/innen zu einem Thema äußern, das nicht im Zentrum der Juristenausbildung steht. Im Gespräch mit Studierenden erlebe ich derzeit regelmäßig, dass hierbei Vorverständnisse aus dem nationalen Recht gleichsam automatisch auf das Völkerrecht übertragen werden. Dies gilt etwa für die Forderung, dass ausländische Konzerne vor nationalen Gerichten klagen sollten – anstatt vor speziellen Schiedsgerichten. Meistens wird hierbei unterstellt, dass die deutschen Gerichte die Möglichkeit besäßen, die Einhaltung der vereinbarten Regeln zu überprüfen. Aus der nationalen Perspektive erscheint dies als selbstverständlich, schließlich sind die Gerichte an Recht und Gesetz gebunden.
Vor diesem Hintergrund ist eine Klausel im CETA-Vertragsentwurf wichtig, der in der Debatte bislang nicht hinreichend beachtet wurde – auch nicht von den spannenden Beiträgen des Verfassungsblog-Symposiums zum Investitionsschutz. Auf Seite 470 des insgesamt rund 1600 Seiten umfassenden konsolidierten CETA-Vertragsentwurfs, der nach Ansicht der Kommission zugleich als Leitlinie für die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten dient, findet sich in den Schlussbestimmungen ein auf den ersten Blick eher unscheinbarer Artikel zu den Private Rights, der gleichsam en passant die innerstaatliche Anwendung des Abkommens ausschließt. Dies bestätigt, dass die Auswirkungen der Abkommen weniger dramatisch wären, als es bisweilen erscheint.
Hintergrund: Geltung von CETA und TTIP als EU-Recht
Wenn man die Tragweite des Artikels 14.14 zu den privaten Rechten verstehen will, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Abkommen in ihren zentralen Inhalten als EU-Recht gelten würden. Axel Flessner mag mit großen Worten einen Ultra-vires-Akt herbeireden (und hierdurch mehr Twitter-Meldungen verursachen als jeder andere Symposiumsbeitrag), aber bereits ein schlichter Blick in die EU-Verträge zeigt, dass die Rechtslage vergleichsweise eindeutig ist. Artikel 207 AEUV bestimmt, dass die Außenhandelspolitik der Europäischen Union neben dem gesamten Waren- und Dienstleistungshandel unter anderem auch „die ausländischen Direktinvestitionen“ umfasst – und Artikel 3 EUV stellt klar, dass es sich hierbei um eine ausschließliche EU-Zuständigkeit handelt.
All dies war eine bewusste Entscheidung, weil über die Reichweite der auswärtigen Handelspolitik in den letzten Jahrzehnten gestritten worden war. Mit dem Vertrag von Lissabon sollten frühere, teils unklare Bestimmungen durch eine klare und prinzipiell umfassende EU-Kompetenz ersetzt werden. Dass diese Neuerung wichtig war, erkannte auch das BVerfG im Lissabon-Urteil: „Mit der dargestellten ausschließlichen Kompetenz wächst der Union die alleinige Dispositionsbefugnis über internationale Handelsabkommen zu, von denen wesentliche Umgestaltungen der inneren Ordnung der Mitgliedstaaten ausgehen können.“ Dennoch billigten die Verfassungsrichter die Ratifikation des Vertrags, freilich ergänzt um den Hinweis, dass der Begriff der „ausländischen Direktinvestitionen“ wohl nicht die sog. Portfolioinvestitionen umfasse, die etwa Aktienkäufe ohne Unternehmenskontrolle meinen.
Der letzte Hinweis ist durchaus wichtig, weil er ganz allgemein darauf verweist, dass die Reichweite der EU-Kompetenz im Detail nicht abschließend geklärt ist. Aus diesem Grund ist die Bundesregierung der Auffassung, dass CETA und TTIP als sogenannte „gemischte Abkommen“ geschlossen werden sollten, mit den 28 Mitgliedstaaten als Vertragsstaaten. Wenn dem so wäre, müsste auch der Bundestag zustimmen. Dies änderte freilich nichts daran, dass die allermeisten Sachbereiche der Unionszuständigkeit unterfallen, was ganz konkret zur Folge hat, dass die EU-Organe in diesen Feldern den Ton angeben. Dies gilt für die Verhandlungen ebenso wie für mein Thema: die Rechtswirkungen. Nach der etablierten EuGH-Rechtsprechung richten sich diese für die unionsrechtlichen Bestandteile von gemischten Abkommen nach EU-Recht.
Innerstaatliche Anwendung von EU-Völkerrecht
Die Erfahrungen mit der europäischen Integration verstellen bisweilen den Blick auf die Besonderheiten des internationalen Rechts. Heutzutage lernen alle Jurastudierenden in den Pflichtvorlesungen, dass das Unionsrecht unmittelbar im innerstaatlichen Rechtsraum gilt und im Konfliktfall einen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht besitzt. Deutsche Gerichte müssen EU-Recht ebenso anwenden wie deutsche Gesetze. Eben dies ist beim Völkerrecht nicht automatisch der Fall und zwar auch dann nicht, wenn die Europäische Union völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten schließt.
In diesen Fällen geht der EuGH zwar traditionell davon aus, dass völkerrechtliche Verträge eine unmittelbare Rechtwirkung mit Vorrang besitzen können – und ein Beispiel aus dem Wirtschaftsvölkerrecht zeigt, dass dies durchaus gravierende Auswirkungen zeitigen kann: Im Juli entschied der Gerichtshof, dass ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz, das von den Ehegatten türkischer Staatsangehöriger einfache deutsche Sprachkenntnisse verlangt, unter Umständen nicht mehr anzuwenden sei. Rechtlicher Hintergrund ist die sogenannte Standstill-Klausel für Selbständige im ersten Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen der heutigen EU mit der Türkei aus dem Jahr 1970. In der Terminologie des Wirtschaftsvölkerrechts handelt es sich um ein nichttarifäres Handelshemmnis, die auch im Vordergrund von CETA und TTIP stehen.
Wenn dasselbe für die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada gölte, wären die Konsequenzen einschneidend. Gerichte könnten den Bundestag und den EU-Gesetzgeber jederzeit korrigieren, wenn sie CETA oder TTIP missachten. Selbstverständlich ist dies Ergebnis freilich nicht, denn Luxemburg anerkennt den Vorrang des Völkerrechts nur, wenn „Art und Struktur [des Abkommens] dem nicht entgegenstehen.“ Bei der Beurteilung, ob dies der Fall ist, sind die Ziele ebenso zu berücksichtigen wie der Wille der Parteien sowie die Gegenseitigkeit, also die Frage, ob die EU einseitig einen Vorrang anerkennen würde. Letzteren Aspekt ignoriert der Gerichtshof im Verhältnis zur Türkei und anderen Nachbarn, betont ihn jedoch beim Welthandelsrecht.
Artikel 14.14 des CETA-Vertragsentwurfs
Angesichts der erheblichen Konsequenzen einer unmittelbaren Anwendung gewinnt die eingangs zitierte Vertragsbestimmung im Schlusskapitel des konsolidierten CETA-Vertragsentwurfs an Bedeutung, in der es konkret heißt: „Nothing in this Agreement shall be construed as conferring rights or imposing obligations on persons other than those created between the Parties under public international law, nor as permitting this Agreement to be directly invoked in the domestic legal systems of the Parties.“
Dies ist nicht weniger als die offizielle Verweigerung einer unmittelbaren Anwendung der CETA-Bestimmungen durch die innerstaatlichen Gerichte, die mithin nicht die Möglichkeit besäßen, nationale oder europäische Regelungen auf die Vereinbarkeit mit CETA zu überprüfen (der EuGH versagt ohne unmittelbare Anwendung traditionell eine Gültigkeitskontrolle nach dem Völkerrecht, sodass der Artikel nicht etwa nur die Reichweite des subjektiven Rechtsschutzes meint). Damit gilt im Ergebnis nichts anderes als für das WTO-Recht, das gleichfalls keinen Vorrang genießt – und zwar selbst dann nicht, wenn das Dispute Settlement Body in zweiter Instanz einen Rechtsverstoß feststellte.
Für den langfristigen Erfolg der Freihandelsabkommen ist dies eine einschneidende Hürde, die speziell dann zum Tragen kommt, wenn es um nichttarifäre Handelshemmnisse geht, deren Verbot häufig durch generalklauselartige Formulierungen ausgedrückt wird. Die Durchschlagskraft unbestimmter Vertragsklauseln hängt ganz maßgeblich vom Willen der Parteien sowie von Kontroll- und Durchsetzungsinstanzen ab. Dies zeigt die Erfahrung mit der EU-Vorgabe zu den nichttarifären Handelshemmnissen ebenso wie das Beispiel der Deutschtests für die Ehegatten von Türken. Ohne Auslegungs- und Kontrollinstanz laufen speziell unbestimmte Klauseln vielfach ins Leere.
Folgen für die Debatte um Schiedsgerichte
Wenn deutsche und europäische Gerichte die Bestimmungen von CETA und TTIP nicht anwenden können, erscheinen auch die Schiedsgerichte in einem neuen Licht. Kritiker werden sich darin bestätigt sehen, dass eine Sondergerichtsbarkeit geschaffen werde; Befürworter werden umgekehrt mit der Kommission betonen, dass die Schiedsgerichte ein Ausgleich für den fehlenden Zugang zu nationalen Gerichten darstellen, der für die Einhaltung von CETA und TTIP gerade nicht besteht. Mich persönlich überzeugt hierbei die Ansicht von Christian Tams, dass es im Kern um die Frage geht, ob wir spezielle Investitionsschutzregeln überhaupt wollen. Im Verhältnis zu den USA und Kanada könnte man gewiss darauf verzichten, aber es wäre sodann überaus schwer, diese Regeln gegenüber China und Russland durchzusetzen.
Jedenfalls zeigt der fehlende Rechtsschutz für CETA und TTIP vor innerstaatlichen Gerichten, dass die Konsequenzen der Abkommen weitaus weniger dramatisch sein dürften, als es in der Öffentlichkeit bisweilen erscheint. Kein europäisches Gericht würde Gesetzgebungsakte wegen CETA/TTIP-Verstoßes aufheben können, und auch Schiedsgerichte sollen diese Möglichkeit nicht besitzen, zumal CETA ergänzend die Möglichkeit vorsieht, dass die Parteien den Schiedsgerichten jederzeit eine autoritative Interpretation des Vertragstexts vorgeben können. Im Kern würde damit die Streitschlichtung auf die zwischenstaatliche Ebene verlagert, ganz ähnlich wie in der WTO.
Der verweigerte innerstaatliche Rechtsschutz zeigt eindrücklich, dass der CETA-Vertragsentwurf und die TTIP-Verhandlungsleitlinien von einer EU-analogen Rechtsintegration weit entfernt sind – und dies ist prinzipiell auch gut so, weil die Freihandelsabkommen, anders als die EU, eine nur begrenzte demokratische Rückbindung besitzen, die auch im Fall der EU gewiss nicht perfekt ist, aber dennoch halbwegs funktioniert. Dass die Frage nach der angemessenen rechtlichen Gestaltung der wirtschaftlichen Globalisierung öffentlich diskutiert werden, ist für mich der größte Gewinn von CETA und TTIP, auch wenn die unscheinbare Bestimmung zu privaten Rechten auf Seite 470 des Vertragsentwurfs die innerstaatliche Bedeutung der Abkommen ausbremst.
Lieber Daniel,
vielen Dank für Deinen klugen Kommentar. Dass die unmittelbare Anwendbarkeit von TTIP und CETA ausgeschlossen wird, bedeutet wie Du richtig sagst, dass TTIP et al. im innerstaatlichen und innerunionalen Recht rechtlich nicht weiter wirken würden als andere Freihandelsabkommen und das WTO-Recht auch. Das hat aber auch nie jemand ernsthaft behauptet. Die öffentliche und wissenschaftliche Kritik an der Wirkung der Abkommen beruht nicht auf der Annahme, dass die Bestimmungen der Abkommen direkt einklagbar wären. Jedenfalls habe ich diese These noch nirgendwo gelesen. Bisweilen begegnet man in öffentlichen Veranstaltungen dem Missverständnis, das alle Bestimmungen der Abkommen im Wege des ISDS einklagbar wären. In der Fachdebatte findet man dieses Argument nicht. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass wenn die Abkommen unmittelbar anwendbar sein sollten, ein Paradigmenwechsel stattfinden würde, der noch viel mehr Menschen auf die Straße treiben würde. Die vielfach kritisierten Auswirkungen von TTIP et al. beziehen sich auf den politischen und regulatorischen Prozess und hängen nicht von der unmittelbaren Anwendbarkeit ab. Insofern ändert die “Entdeckung” von Art. 14.14 CETA an der bisherigen Kritik wenig.
Herzliche Grüße
Markus
Lieber Markus,
danke für den Kommentar und auch für das von Dir mitorganisierte Verfassungsblogsymposium zum Thema, das ich wirklich mit Spannung verfolgte. Neu an der Debatte ist, dass endlich nicht nur die Expert/innen über das Wirtschaftsvölkerrecht diskutieren, sondern die breitere Fachöffentlichkeit – und dazu eignet sich der Verfassungsblog hervorragend! Wenn dem so ist, muss für die Fachö