Versionen fiktiver Migrationspolitik und was sie unterscheidet: Transitzentren, Flughafenverfahren und die australische non-Migration Zone
Die Einrichtung sogenannter „Transitzentren“, die die Einheit der Union und der Regierung retten soll, basiert auf einer Fiktion. Asylsuchende, die die deutschen Außengrenzen überqueren, sollen rechtlich nicht eingereist sein, um über ihre Abschiebung und die Zuständigkeit für das Asylverfahren zu entscheiden. Dies soll offenbar auf Grundlage von bilateralen Abkommen und in Umgehung der Dublin-Verordnung geschehen, was eine solche Fiktion der Nicht-Einreise eben erst notwendig macht. So sollen in den „Transitzentren“, oder Lagern, wie sie Giorgio Agamben beschrieb, extralegale Räume geschaffen werden, in denen für die Betroffenen nicht nur der Anspruch auf die Anwendung des Dublinverfahrens ausgesetzt würde, sondern auch der rechtsstaatliche Zugang zu Rechtsmitteln.
Fiktive Gleichheit am Flughafen
Dana Schmalz schrieb hier über die Außerordentlichkeit, rechtliche Fiktionen anzuwenden, um Grundrechte zu unterminieren. Das universale Gleicheitsprinzip auf dem Territorium eines Rechtsstaats aufzugeben, gefährde die Demokratie. Um nichts Geringeres geht es hier. Eben deshalb greifen auch Vergleiche mit dem Flughafenverfahren zu kurz, wie sie verschiedentlich in den Medien auftauchen. Auch hier werde eine Fiktion der Nichteinreise genutzt, wird verschiedentlich argumentiert, um Asylsuchende festzusetzen, das Dublinverfahren anzuwenden und auch im Schnellverfahren über Asylanträge zu entscheiden. Was bei der Einreise mit dem Flugzeug möglich sei, müsse doch auch an der Landgrenze funktionieren. Doch die Umstände sind gänzlich andere. Nicht nur um eine Fiktion der Nichteinreise geht es dabei, sondern auch um eine Fiktion der Gleichheit.
Das Flughafenverfahren basiert auf einer Fiktion des überseeischen Handels, in denen abgezäunte Zollfreigebiete in Häfen eine Lagerung von Waren zulassen, ohne diese schon zollpflichtig einführen zu müssen. Den meisten Reisenden sind diese Zonen besser bekannt als der Duty Free-Einkaufsbereich an Flughäfen. Dieser Transitbereich, zwischen Ankunft und Einreise bei der Passkontrolle, wird für das Flughafenverfahren genutzt. Aus diesem Transitbereich sollen nun also „Transitzentren“ werden. Doch wo am Flughafen zwar die Fiktion der Nicht-Territorialität herrscht, wo also weder Waren noch Menschen eingereist sein sollen, aber die Bundespolizei das souveräne Hoheitsrecht ausübt (und mithin ja weder Dublin noch Asyl völlig ausgesetzt sind), wird zumindest noch das universale Gleichheitsrecht anerkannt: die fiktionale Nichteinreise gilt für alle gleichermaßen. Nun ist auch das Gleichheitsrecht in gewisser Weise fiktional. Für jene mit dem richtigen Pass ist die Transitzone wie die Grenze kaum als Ausnahmegebiet auf dem Territorium im Ankunftsstaat merklich. Es ist hier wie mit dem Verbot, unter Brücken zu schlafen, das für Obdachlose und Millionäre gleichermaßen gilt. Trotz der realen Ungerechtigkeit, und diese ist durchaus im Fall des Flughafenverfahrens zu kritisieren, wird zumindest das Prinzip der Gleichheit nicht angetastet. Dies wäre im Fall der Transitzentren aber anders.
Die Schaffung des Ausnahmezustands an den Außengrenzen
Im Fall des vorgeschlagenen Modells soll es zu umfassenden Grenzkontrollen kommen – was dies für den Schengenraum und die Bewegungsfreiheit in Europa bedeuten würde, sei hier ausgeklammert. Doch während EU-Bürger*innen und Inhaber*innen gültiger Visa einreisen dürften, würde nicht nur die faktische, sondern auch die Fiktion der Nichteinreise nur für Asylsuchende gelten. Diese würden in einzig für diesen Zweck eingerichtete „Transitzentren“ gebracht, die zwar auf dem deutschen Territorium liegen, aber sich eben als Lager im Sinne Agambens außerhalb des regulären Rechtsraums befänden.
Die Merkwürdigkeit dieser Konstruktion offenbart sich auch darin, dass diese Lager in der Nähe der Grenze eingerichtet werden sollen. Warum eigentlich? Ob diese direkt hinter der Grenze oder im Landesinnern stehen, macht rechtlich keinen Unterschied. Die assoziative Nähe entsteht in der räumlichen Trennung des Grundrechts auf Gleichheit, wie wir es sonst nur an souveränen Grenzen kennen, durch das hier eine selektive Aussetzung von Grundrechten auf dem Territorium einer rechtsstaatlichen Demokratie möglich werden soll. Es ist gerade dieser geographisch definierte Ausnahmezustand, der geschlossene Lager verlangt, da der Ausnahmezustand wirkungslos wäre, könnte er einfach verlassen werden.
Anders als am Flughafen, wo der Transitbereich ebenfalls abgeschlossen ist, soll hier jedoch ein Raum geschaffen werden, in dem Grundrechte für nur eine einzig Gruppe abgeschafft würden. Dass ein solcher Ausnahmezustand ausgerechnet Flüchtlinge trifft, ist dabei kein Zufall und war schon Agamben wie auch dessen Vordenkerin Hannah Arendt klar, die den Mangel des Schutzes der Menschenrechte, wie er in Deutschland wieder institutionalisiert werden soll, zum Charakteristikum des Flüchtlings machte. Das universale Menschenrecht ist für Flüchtlinge eine Fiktion, wenn es als faktisches Recht nicht angewandt wird, wie es durch den Rechtsstaat als auch die Genfer Flüchtlingskonvention garantiert werden sollte.
Australien als Vorbild: Fiktionale Gleichheit ohne Asyl?
Nun gibt es allerdings ein unschönes Beispiel, wie zumindest eine Fiktion der Gleichheit auch bei der Einreise an den Außengrenzen aufrechterhalten werden kann und dennoch die Rechte von Asylsuchenden eingeschränkt werden: indem die Transitzone des Flughafens einfach auf das gesamte Grenzgebiet ausgeweitet wird. 2001 erklärte Australien alle seine Inseln und später auch das gesamte Küstengebiet zu einer non-Migration Zone. Bootsflüchtlinge, die hier ankamen, konnten kein Asyl mehr beantragen und unbestimmt interniert werden. Diese Zonen hatten keinen anderen Sinn, als Asylanträge von irregulären Migranten zu verhindern und hielten doch, wie im Flughafenverfahren, die Fiktion der Gleichheit aufrecht – schließlich könnte hier niemand, auch Bürger nicht, Asyl beantragen. Hieraus erwuchs später die Pacific Solution, die die Internierung von Asylsuchenden auf die Inselstaaten Nauru und Manus Island verlagerte. Die fiktionale non-Migration Zone, die zur Umgehung des Asylrechts eingeführt wurde, hatte die totale Entrechtlichung von Flüchtlingen zur Folge, einschliesslich Kinder, die gerade bei einer Unmöglichkeit der Rückkehr ins Herkunftsland unbefristet inhaftiert bleiben. Australien muss sich dafür dem Vorwurf der Vereinten Nationen aussetzen, durch die Internierung schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. Die auf Fiktionen aufgebaute Migrationspolitik führt zu realem Leid und Unrecht.
Nun ist für einige Protagonisten schon seit langem die australische Lösung Vorbild für die europäische Flüchtlingspolitik. Die Entrechtlichung und Exterritorialisierung des Flüchtlingsschutzes ist jedoch bislang am europäischen Menschenrechtsgerichthof gescheitert. Anders als die EU kennt Australien keine verfassungsmäßigen Grundrechte, auf die sich Betroffene berufen können. Der EGMR machte hingegen 2012 im Fall Hirsi klar, dass schon allein durch die Hoheitsgewalt eines europäischen Staats über Migranten, sei es auch auf Hoher See, dieser für den Schutz von deren Rechten verantwortlich sei. „Transitzentren“ würden dies Grundsatzurteil nicht in internationalen Gewässern, sondern im territorialen Hoheitsraum eines europäischen Staats in Frage stellen, selbst wenn eine fiktionale Gleichheit an den Außengrenzen wie in Australien aufrecht erhalten würde. Dass das EGMR eine non-Migration Zone an deutschen Außengrenzen erlauben würde, deren einziger Zweck – anders als am Flughafen – im Vermeiden von Asyl bestünde, ist zweifelhaft. Die rechtliche Fiktion der Gleichheit wäre in dem Fall nicht mehr als Augenwischerei einer Migrationspolitik, um Flüchtlingsrechte auszuhebeln.
Implikationen einer fiktiven Migrationspolitik
Sollten die Rechte von Asylsuchenden in Lagern in Deutschland durch die Fiktion der Nichteinreise eingeschränkt werden, sei es durch eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes wie aktuell geplant oder eine wie auch immer in Deutschland angewandte australische Lösung, so könnte dies durchaus der Beginn sein, Asyl in Europa gänzlich abzuschaffen. Auch wenn Verteidiger*innen der geplanten Lager hervorheben, dass es sich ja nicht um eine Einschränkung der Asylverfahren handle, sondern nur um eine Klärung der Verantwortung, übersehen sie die Grundsätzlichkeit des Schritts. Ist es Staaten in Europa erst einmal möglich, Zonen zu schaffen, in denen Grundrechte von Asylsuchenden ausgesetzt werden, so betrifft dies den Anspruch auf Flüchtlingsschutz logisch als nächsten Schritt. Zeitliche Befristungen, wie 48 Stunden Bearbeitungszeit, sind politische Zugeständnisse angesichts eines potentiell unbefristeten Ausnahmezustands. Auch der seit 15 Jahren geplanten und aktuell wieder diskutierten Exterritorialisierung der Asylverfahren außerhalb der EU stünde dann rechtlich nichts mehr im Wege. Extralegale „Transitzentren“ öffnen eben die Tür zur möglichen Abschaffung des Flüchtlingsrechts durch die Aushöhlung des Rechtsstaats. Gerade jene, die auf einen starken Rechtsstaat pochen, sollten dies nicht wollen.
Der Beitrag ist auch auf dem FlüchtlingsforschungsBlog erschienen.
Allen menschenrechtlichen Fragen zum Trotze hat die australische Politik einen großen Vorteil: Sie beseitigt konsequent die Anreize dafür, mit Booten mangelnder Seetauglichkeit eine lebensgefährliche Fahrt zur australischen Küste zu wagen.
Im Hinblick auf die Aufnahme und den Schutz von Flüchtlingen, sei es vor Krieg oder politischer Verfolgung, kann man zwei Dinge feststellen:
Erstens kann Europa, kann die EU nicht sämtliche Flüchtlinge der ganzen Welt oder auch nur Afrikas aufnehmen, die Schutz nach den Flüchtlingskonventionen beanspruchen könnten. Gleichheit ist von Anfang an eine Fiktion, denn auf Asyl in Europa können nur diejenigen hoffen, die das Glück (und z.T. auch die nötigen Geldmittel für Schlepper etc.) haben, überhaupt nach Europa zu gelangen.
Zweitens ist die die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa, insbesondere Mittel- und Westeuropa, aufgrund des hiesigen Lebens- und Versorgungsstandards äußerst teuer und damit ineffizient. Wenn eine bestimmte Geldsumme für Flüchtlinge zur Verfügung steht, können damit außerhalb Europas viel mehr Menschen geschützt und versorgt werden.
Sinnvoll ist es daher, schon außerhalb Europas anzusetzen, um Zufluchtsorte zu schaffen. Im Idealfall wird schon dadurch der gefährliche Weg über das Mittelmeer unattraktiv. (Selbst wenn man statt sachlicher Kriterien ein Losverfahren zur Auswahl Einzelner nutzen würde, die von dort nach Europa kommen dürften, wäre die Situation insgesamt wohl immer noch besser und gerechter als heute.)