Völkerrecht und Verfassungsrecht: Wie eine Volksinitiative in der Schweiz herbeiführte, was sie abzuschaffen vorgibt
Die Volksinitiative in der Schweiz – ein konstruktives und direktdemokratisches Instrument zur Revision der Verfassung – hat einen fundamentalen Bedeutungswandel erfahren. Von einem Kampfinstrument für wenig etablierte Außenseiter in der Politik, das geeignet war, Debatten anzustoßen, aber selten je die Verfassung zu ändern vermochte, ist sie zum zentralen, regelmäßig verwendeten und regelmäßig erfolgreichen Kampagnenvehikel großer Parteien geworden. Sie setzen Volksinitiativen ein, nicht weil sie kein Personal im Parlament, in der Regierung und in der Verwaltung haben, das ihr Anliegen vorantreiben könnte, sondern weil es sich eignet, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen und Themen für Wahlen zu setzen. Eine gut getimte und sorgfältig auf ihre Kampagnenwirkung hin frisierte Volksinitiative hat drei Verwertungsphasen. Die erste während der Sammlung der nötigen Unterschriften in der Bevölkerung, die zweite im Vorfeld der Volksabstimmung (idealerweise kurz vor oder nach Wahlen) und die dritte bei ihrer oft problematischen Umsetzung in Bundesgesetzen und Verordnungen. Besonders problematisch umzusetzen sind Volksinitiativen, die Konflikte mit dem Völkerrecht schaffen. Solche stammen üblicherweise von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP), der mit Abstand stärksten Partei des Landes, oder werden von dieser unterstützt. Beispiele solcher Initiativen, die erfolgreich waren, sind die Verwahrungsinitiative (2004), die gefährliche Straftäter lebenslang verwahren will ohne Möglichkeit der Überprüfung der Verwahrung, die Minarettverbots-Initiative (2009), die Ausschaffungsinitiative (2010), die Ausländer unabhängig von Dauer und Art ihres Aufenthaltes des Landes verweisen will, wenn sie bestimmte Delikte begangen haben, und die Masseneinwanderungsinitiative (2014), die für sämtliche Formen der Zuwanderung – auch für die Gewährung von Asyl, den Familiennachzug und Zuwanderung aus dem EU/EFTA-Raum – eine jährliche Obergrenze verlangt. Nun hat die SVP eine weitere Volksinitiative zustande gebracht – in gewissem Sinne ist sie die Quintessenz der dritten Verwertungsphase all dieser Vorgänger-Initiativen – die grundsätzlicher und daher auch gefährlicher ist als alle ihre Vorläufer.
Gar nicht so einfach: Vorrang der Verfassung ohne Verfassungsgerichtsbarkeit
Diese neue Initiative – sie nennt sich “Selbstbestimmungsinitiative” – will das Verfassungsrecht über das Völkerrecht stellen (mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts), schlägt dabei aber einen interessanten Haken. Die SVP ist der Idee einer möglichst absoluten direkten Demokratie verpflichtet. Sie lehnt schon deshalb Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber allem ab, was seinerseits durch Volksabstimmung entschieden wurde oder hätte entschieden werden können. Es ist ihr darum unmöglich, völkerrechtlichen Verträgen, die ihrerseits dem Referendum unterstanden hatten, nicht Vorrang vor widersprechendem Verfassungsrecht einzuräumen. Die aktuell hängige Volksinitiative sieht daher im Wesentlichen einen treaty override vor, also die Pflicht, einen Vertrag zu verletzen, wenn der Vertrag in Konflikt zur Verfassung steht und nicht dem Referendum unterstanden hatte, und eine Pflicht, einen Vertrag, der seinerseits direktdemokratisch legitimiert ist, selbst im Fall der anerkannten Verfassungswidrigkeit vorderhand weiterhin anzuwenden, ihn aber neu zu verhandeln und zu kündigen, wenn die Neuverhandlung nicht gelingt. Vereinfacht gesagt verlangt sie also für den Fall von Normkonflikten, dass Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden, verletzt werden müssen, die anderen gekündigt. Ob Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden, ebenfalls gekündigt werden müssen, obwohl sie einfach verletzt werden können, welches staatliche Organ die Kündigung auslöst und wann Neuverhandlungen als derart gescheitert gelten, dass eine Kündigung notwendig wird, lässt die Initiative offen.
Für deutsche Verhältnisse wirkt diese vorgeschlagene Verfassungsrevision weniger weitgehend als das hier geltende Recht. Es kann daher als “in einer globalisierten Welt, in der die Staaten durch eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge in einem weiten Spektrum von Regelungsbereichen miteinander verflochten sind – für nicht (mehr) überzeugend” gehalten werden (wie Bundesverfassungsrichterin König es in ihrer Abweichenden Meinung zu 2 BvL 1/12 2015 tat), wirkt aber wenig dramatisch. In der Schweiz hingegen hätte eine derartige Initiative wegen der extrem flexiblen und extrem detaillierten Verfassung – wofür das Institut der Volksinitiative verantwortlich ist – weitreichende und unberechenbare Auswirkungen. Mit großer Wahrscheinlichkeit müsste die Schweiz notorisch die EMRK verletzen (welche nicht dem Referendum unterstanden hatte; einige ihrer wichtigen Zusatzprotokolle aber schon, was nicht zur Klarheit beiträgt), und das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen (das dem Referendum unterstand und mit der Masseneinwanderungsinitiative unvereinbar ist). Neuverhandlungen dieses Abkommens hat die EU bereits abgelehnt.
Den vermeintlichen stillen Staatsstreich noch nachgeholt
Während die Initiative, deren Abstimmung für das kommende Jahr erwartet wird, auf großen Widerstand stoßen wird, kann sie bereits jetzt für sich die ironische Vorwirkung in Anspruch nehmen, dass sie herbeigeführt hat, was sie abzuschaffen vorgibt. Die Erzählung, die der Initiative zu Grunde liegt, ist die von einem stillen Staatsstreich. Während es bis in das Jahr 2012 selbstverständlich gewesen sei, dass die Verfassung völkerrechtlichen Verträgen vorgehe, hätten das Bundesgericht, die Regierung und die Verwaltung – und später, bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsintiative, sogar das Parlament – dieses Rangverhältnis umgekehrt, um Volksinitiativen nicht umsetzen und anwenden zu müssen, die ihnen unliebsam seien. Dieser Staatsstreich gegen die Souveränität des Souveräns – des Stimmvolkes – müsse mit der Initiative rückgängig gemacht werden. Diese Erzählung ist deshalb falsch, weil das Verhältnis zwischen Völkervertragsrecht und Verfassungsrecht im Gegensatz zum Verhältnis von Völkervertragsrecht und Bundesgesetzesrecht bis vor kurzem eine Frage von fast nur theoretischem Interesse war. Konflikte waren wie in anderen Staaten enorm selten. Die Ansichten dazu in der Lehre waren unterschiedlich (vgl. die Hinweise in BGE 139 I 16, E. 5.2.1, und BBl 2009 2263, Fn. 48), Gerichtsentscheide zu dieser spezifischen Frage gab es nicht. Ein Bericht der Regierung hält dazu fest: “Weil Verfassungsbestimmungen meistens durch eine Ausführungsgesetzgebung konkretisiert werden, ist ein solcher Konflikt in der Praxis noch nicht vorgekommen, so dass es auch keine Rechtsprechung dazu gibt.”
Als die Schweiz 1999 ihre Verfassung totalrevidierte, wurde die Frage zum Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht absichtlich offen gelassen (BBl 1997 I 1, S. 92), weil ihre damals relativ geringe praktische Relevanz das Risiko nicht gerechtfertigt hätte, dass ihr symbolisches Konfliktpotential das Großprojekt einer Totalrevision gefährde. Als das Bundesgericht 2012 mit der Frage konfrontiert war, ob in einem Konfliktfall die EMRK oder die Ausschaffungsinitiative zur Anwendung gelangen müsse, und 2015 dieselbe Frage in Bezug auf die Masseneinwanderungsinitiative und das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU beantworten musste, entschied es zwar in beiden Fällen für den Anwendungsvorrang des jeweiligen völkerrechtlichen Vertrages (BGE 139 I 16, E. 5.3 und BGE 142 II 35 , E. 3.2), klammerten aber Überlegungen zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Völkerrecht in beiden Fällen in ein obiter dictum und achtete sorgfältig darauf, keine verallgemeinerbaren neuen Regeln zu schaffen. In früheren Entscheiden behandelte es den Anwendungsvorrang von völkerrechtlichen Verträgen vor der Verfassung auch schon als Selbstverständlichkeit, die sich aus der Verfassung selber eindeutig ergebe (BGE 133 II 450, E. 6 und E. 6.1).
Die Regierung (sie heißt in der Schweiz “Bundesrat”) durchlief die von der SVP behauptete Wandlung sogar in der Gegenrichtung. In der Botschaft zur totalrevidierten Bundesverfassung hielt der Bundesrat noch fest, der Anwendungsvorrang sei im Konfliktfall zu Gunsten des Völkerrechts zu entscheiden (BBl 1997 I 1, S. 428f.). Ab 2010 bestand er dann hingegen mit einer gewissen Hartnäckigkeit darauf, völkerrechtswidrige Volksinitiativen umzusetzen und die Annahme von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen als Auftrag zur Kündigung der entsprechenden völkerrechtlichen Verträge entgegenzunehmen. In einem Bericht zum Thema hielt der Bundesrat fest: “Wenn eine völkerrechtskonforme Umsetzung nicht möglich ist, ist als Ultima Ratio die Kündigung des völkerrechtlichen Abkommens zu erwägen. Ist es das offensichtliche Ziel einer Initiative, gegen nicht zwingendes Völkerrecht zu verstoßen, oder kann die neue Verfassungsbestimmung nicht völkerrechtskonform umgesetzt werden, so vertritt der Bundesrat die Auffassung, dass die Annahme der Initiative durch Volk und Stände als Auftrag zur Kündigung der entgegenstehenden internationalen Verpflichtungen zu verstehen ist.” (S. 2319). An dieser Auffassung hielt der Bundesrat – entgegen der Erzählung der SVP und trotz steigendem Risiko einer Eskalation – fest. Zunächst in einem Zusatzbericht, den das Parlament von ihm verlangte (BBl 2011 3613, S. 3656). Dann drohte der Bundesrat an, die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative würde die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU nach sich ziehen (BBl 2013 291, S. 317). In der Botschaft zur Durchsetzungsinitiative, eine noch extremere Fortsetzungsvariante der Ausschaffungsinitiative, die 2016 allerdings an der Urne scheiterte, hielt der Bundesrat dann gleichzeitig fest, dass er die Initiative notfalls als Auftrag zur Kündigung der EMRK und des Personenfreizügigkeitsabkommens und als Auftrag zur fortgesetzten Verletzung des (unkündbaren) Uno-Pakt-II entgegen nehmen würde, hielt aber gleichzeitig fest, eine Kündigung dieser Verträge sei politisch keine realistische Option (BBl 2013 9459, S. 9480f.). Selbst als nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und dem Scheitern der Verhandlungen mit der EU eigentlich klar war, dass der Bundesrat gemäß seiner eigenen Haltung das Personenfreizügigkeitsabkommen kündigen müsste, was er selber für politisch und ökonomisch unmöglich hält, bestand er noch auf seiner bisherigen Haltung, schob aber den Entscheid über eine Kündigung in die unbestimmte Zukunft.
Stille Anpassung der Praxis
Konfrontiert mit der “Selbstbestimmungsinitiative” konnte der Bundesrat nun nicht anders, als von seiner seit 2010 gepflegten Position abzurücken. Zwar besteht er auch jetzt noch darauf, dass die Verfassung keinen “vorbehaltlosen Vorrang” des Völkerrechts vorsehe und spricht sich mehrfach gegen “starre Vorrangregeln” aus. Er sah sich aber gezwungen, explizit seine bisherige Auffassung zu verwerfen, die Annahme einer völkerrechtswidrigen Volksinitiative enthielte einen Kündigungsauftrag bezüglich der Verträge, mit denen sie Konflikte verursacht (BBl 2017 5355, S. 5373). Hielte er an seiner bisherigen Haltung fest, wäre er dem Argument ausgesetzt, die “Selbstbestimmungsinitiative” fordere im Grunde nur, was der Bundesrat selber als seine Praxis bezeichnet habe, sich aber nicht umzusetzen getraue, weil diese Haltung inzwischen die Kündigung so zentraler Verträge wie der EMRK und des Vertragspaket Bilaterale I mit der EU nach sich ziehen würde.
Seinen Gesinnungswandel stützt der Bundesrat auch auf das Verhalten des Parlaments, das die Masseneinwanderungsintiative nur soweit umgesetzt hatte, wie dies mit dem Völkerrecht vereinbar war (also eigentlich gar nicht). Zusätzlich mobilisiert er neu das Argument der Einheit der Materie: ein formeller Ungültigkeitsgrund für Volksinitiativen, welcher das Recht auf unverfälschte Stimmabgabe schützen soll indem er verhindert, dass in einer einzigen Volksinitiative mehrere voneinander getrennte Fragen enthalten sind, zu denen Stimmende unterschiedliche Meinungen haben können. Enthielte beispielsweise das Minarettverbot einen impliziten Auftrag an die Regierung, die EMRK notfalls zu kündigen, so enthielte sie zwei Fragen – Wollt ihr Minarette verbieten? Und wollt ihr die EMRK kündigen? – zu denen man jeweils getrennt ja oder nein sagen wollen kann. Dieses Argument hat der Bundesrat in früheren Äußerungen zu dem Thema nie aufgebracht. Es steht gerade im offensichtlichen Gegensatz zu seiner früheren Haltung, die Annahme völkerrechtswidrige Volksinitiativen als “Auftrag zur Kündigung der entgegenstehenden internationalen Verpflichtungen zu verstehen.” Es muss daher diese jüngste Volksinitiative gewesen sein, die den Meinungsumschwung herbeigeführt hat.
Obwohl sie das Ergebnis eines langen Bedeutungswandels des Instituts der Volksinitiative ist, hat die “Selbstbestimmungsinitiative” also gute Chancen, sehr traditionell zu wirken: In dem sie zwar an der Urne verloren geht aber dennoch die Haltung der Regierung, der Verwaltung, der Gerichte und sogar des Parlamentes nachhaltig beeinflusst. Nur halt in dem sie herbeiführt, was sie eigentlich überwinden wollte.
Darüber hinaus wird man die Entwicklung in der der Schweiz als Ausgangspunkt für die Hypothese nehmen können, dass ein Vorrang des Verfassungsrechts vor dem Völkervertragsrecht umso schwieriger zu behaupten ist, je flexibler und detaillierter die Verfassung eines Staates ist und je größer daher ihre potentielle Reibungsfläche mit Verträgen, die einen griffigen Durchsetzungsmechanismus haben oder politisch zu wichtig sind, als dass ihre Verletzung oder Kündigung riskiert werden könnte.
Der Autor dankt Rafael Häcki für wertvolle Hinweise zu einem Entwurf dieses Beitrags. Stefan Schlegel ist in der Schweiz auch in die politische Arbeit zu dieser Volksinitiative eingebunden.
Art 190 Bundesverfassung Massgebliches Recht:
“Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.”
Der oben genannte Artikel sagt es deutsch und deutlich, es ist zwar nicht egal, was unsere schweizerische Bundesverfassung vorgibt aber wirklich massgeblich ist es eben nicht. Art. 190 relativiert alles. Eine radikale Volksinitiative hätte nur eine Chance auf wörtliche Umsetzung, wenn die Mehrheitsverhältnisse im National- und Ständerat der angenommenen Volksinitiative gewogen wäre. Kein Gericht kann die Bundesversammlung zu einer eins zu eins Umsetzung zwingen. Hätte die SVP gewollt, dass ihre Masseneinwanderungsinitiative von 2014 wortgetreu umgesetzt worden wäre, hätte sie 2015 in beiden Parlamentskammern allein oder mit Verbündeten eine absolute Mehrheit erringen müssen. Trotz Wahlsieg war sie weit davon entfernt. Nur ein klar formuliertes Bundesgesetz, dass gegebenenfalls eine Referendumsabstimmung übersteht, ist normalerweise in der Lage, einer Verfassungsbestimmung Leben einzuhauchen. Natürlich kann eine Volksinitiative den Bundesrat direkt via Bundesverfassung autorisieren aber das ändert nichts daran, dass auch der Bundesrat auslegt und massgeblich sind Verordnungen gemäss Art. 190 BV eben nicht. Um wirklich effektiv Politik zu gestalten, braucht es auch in der Schweiz Mehrheiten im parlamentarischen Prozess. Die Bundesversammlung ist autorisiert, völkerrechtliche Verträge zu kündigen, ein wichtiges Faktum, wenn es um die Umsetzung radikaler Volksinitiativen geht, da Art 190 BV auch völkerrechtlichen Bestimmungen eine wichtige Rolle einräumt. Effektive Macht hat das Volk nur, wenn es zu einer fakultativen oder obligatorischen Referendumsabstimmung kommt. Ein allfälliges Nein ist dann zwingend und die von der Bundesversammlung beschlossene Vorlage tritt nicht in Kraft.