Von der Bewahrung zur Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen
Ein Kommentar zum zweiten Klimabeschluss des BVerfG
Der Senatsbeschluss vom 24. März 2021 hatte die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Häberle) in helle Aufregung versetzt. Der engere professorale Kreis äußerte sich zum guten Teil eher kritisch oder fragend, der weitere Kreis in Gesellschaft und Politik dagegen überwiegend zustimmend. Von den vielen Fragen, die gestellt wurden, hat der Kammerbeschluss vom 28. Januar 2022 einige diskret aber insistierend beantwortet. Die vom ersten Senat vorgeschlagene Dogmatik ist nun vorläufig konsolidiert. Dies rechtfertigt eine etwas abstraktere Betrachtung. Ich meine, wir haben es mit einem Übergang von einem Rechtsmodell zu einem anderen zu tun. Das eine möchte ich Bewahrung und das andere Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen nennen.
Die vielen Kommentare zu der neuen Linie des BVerfG können in zwei Richtungen gegliedert werden, nämlich eine grundsätzliche Kritik am Klimaschutz durch Grundrechte auf der einen Seite und kritische Fragen zur rechtsdogmatischen Konstruktion des BVerfG auf der anderen. Ich verweise insoweit auf meinen ausführlicheren Aufsatz, der in der Zeitschrift für Umweltrecht (ZUR Heft 4/2022) erscheinen wird. Insgesamt hält die Kritik zu sehr am Bewahrungsmodell fest und lässt sich nicht genügend auf das Bewirtschaftungsmodell ein. Ich rekonstruiere zunächst die beiden Modelle und schlage dann vor, wie das zweite weiter ausgestaltet werden kann.
Bewahrung der Umwelt
Bewahrung der menschlichen Gesundheit und der natürlichen Lebensbedingungen – darum geht es seit Aufkommen des Umweltschutzrechts in den späten 1960er Jahren. Produktion, Infrastruktur und Konsum verzehrten Umweltgüter und waren regulativ einzugrenzen. Grundrechtlich gesehen, wurden zunächst die Unternehmens- und Eigentumsfreiheit der Interessenten gegen starken Umweltschutz aufgefahren. Mit dem „rights turn“ (Peel/Osofsky) seit etwa 15 Jahren mischen sich aber mehr und mehr vom Klimawandel Betroffene ein; sie berufen sich auf Gesundheitsrechte, aber auch ihrerseits auf Berufs- und Eigentumsfreiheit, und streiten für starken Umweltschutz.
Im Zusammenhang mit dem Klimawandel bedeutet dies: Einerseits verlaufen Treibhausgasemissionen „horizontal“. Sie gehen von Privaten aus und betreffen Private. Der regulierende Staat ist kein Verursacher, seine Regulierung schützt die Betroffenen, legt ihnen aber keine Duldungspflicht auf. Andererseits untersteht die öffentliche Hand dabei Pflichten, insbesondere aus Art. 20a GG, die jedoch nur objektiv gelten und nicht subjektiviert sind. Subjektive Rechte auf Schutz ergeben sich trotzdem aus spezifischen Grundrechten wie insbesondere Art. 2 Abs. 1, Art. 12 und Art 14 GG, die durchaus auch im Lichte des Art. 20a GG auszulegen sind. Objektive und subjektivierte Schutzpflichten erstrecken sich auch auf den Umweltschutz in der Zukunft. Der Gesetzgeber hat jedoch einen weiten Ermessensspielraum, der gerichtlich nur auf grobe Fehler überprüft wird.
Der Senatsbeschluss vom 24. März 2021 sah den Spielraum nicht als über- oder (genauer) unterschritten an, weil das streitgegenständliche Klimaschutzgesetz immerhin wichtige Weichen stelle. Zu berücksichtigen sei dabei, dass der Schutz von Gesundheit, Beruf und Eigentum neben Emissionsreduktion auch durch Anpassungsmaßnahmen gewährleistet werden könne. Eine Verletzung könne zwar in Betracht kommen, wenn ein ökologisches Existenzminimum bedroht sei, doch liege eine solche Situation nicht vor.
Bewirtschaftung knapper Ressourcen
Das Gericht hat meines Erachtens im Senatsbeschluss, den es durch den Kammerbeschluss vom 28. Januar 2022 bekräftigte, ein neues Rechtsmodell eingeführt, das man als Bewirtschaftung knapper natürlicher Ressourcen bezeichnen kann. Das Konstrukt unterscheidet sich von dem Modell „Bewahrung“ durch einige Komponenten, von denen ich sechs hervorheben möchte:
- Das Gericht sieht als zu lösendes Hauptproblem nicht so sehr Gesundheits- und Umweltschäden, sondern vielmehr die Verfügbarkeit von Energie, und insbesondere von fossiler Energie, solange diese nicht durch regenerierbare Quellen ersetzt worden ist. Verbrauch von Energie ist Bestandteil fast jeden Handelns, sei es in Produktion, Transport, Konsum, etc.
- Grundrechtlich sind damit die Freiheitsrechte angesprochen, d.h. fast alle Grundrechte einschließlich der allgemeinen Handlungsfreiheit, weil die Ausübung fast aller Freiheitsrechte auf Energieverbrauch angewiesen ist.
- Während das Modell „Bewahrung“ durchaus ebenfalls auf die Zukunft blickt, indem es immer schlechter werdende Umweltbedingungen prognostiziert, imaginiert das Modell „Bewirtschaftung“ die Zukunft differenzierter als Situation der faktischen Knappheit von Ressourcen und als Rechtsverhältnis, nämlich als eine Gesellschaft, in der der Staat die Freiheiten – in dann rechtfertigungsfähiger Weise – drastisch beschränkt, indem er bestimmte energieträchtige Handlungen verbietet.
- Der Blick in die Zukunft führt dann zu der Figur der Vorwirkung. Auch das Bewahrungsmodell kennt eine Art Vorwirkung, weil es Regelungen schon heute erlaubt, wenn Schäden erst zeitlich verzögert eintreten. Aber die Zukunft fungiert darin lediglich als ein Abwägungsbelang. Im Bewirtschaftungsmodell besteht sie dagegen in einem Grundrechtseingriff, der vermieden werden muss. Die Art und Weise, wie das zu geschehen hat, wird durch die Verwendung des sog. Budgetansatzes quantifizierbar. Die Vorwirkung der bedrohten Freiheitsrechte besteht dann darin, dass die Menge nicht schon jetzt so verbraucht werden darf, dass für die Zukunft nichts mehr übrig bleibt.
- Die Verteilung über die Zeit wird durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip gesteuert. Das Interesse der heutigen Generation an Emissionen wird gegen das Interesse zukünftiger Generationen abgewogen.
- Die Art der Verteilung steht im Ermessen des Gesetzgebers und der Exekutive. Das Gericht rügt nur grobe Ermessensfehler, so insbesondere, dass die frühere Version des Klimaschutzgesetzes keine Aussagen über Emissionsmöglichkeiten in der Zeit nach 2030 getroffen habe. Über die genaue Dimensionierung und Verteilung auf die Emissionssektoren entscheidet das Gericht aber nicht.
Grundrechtsdogmatisch bietet es sich an, dass die Energieverfügbarkeit nur einen Teil des Schutzbereichs der Grundrechte ausmacht. Die Pflichten zur Bewirtschaftung der Treibhausgasemissionen begründen also nur ein Teilsystem, das mit Schutzpflichten im Hinblick auf die natürlichen Lebensgrundlagen von Gesundheit, Beruf und Eigentum kombiniert werden kann. Wie sich das im Einzelnen gestaltet, ist aber erst noch auszuarbeiten.
Anregungen für das Bewirtschaftungsmodell
Wenn es richtig ist, dass sich das Umweltrecht auf dem Weg zu einem Bewirtschaftungsmodell befindet, lohnt es sich, noch offene Fragen zu benennen und Antworten vorzuschlagen.
Was soll bewirtschaftet werden?
Ein Problem ist bereits die Identifizierung der Ressource, die bewirtschaftet werden soll. Allgemein wird auf ein verfügbares Emissionsbudget rekurriert. Das stimmt mit dem Ansatz der Klimarahmenkonvention überein. Nach deren Art. 2 ist „die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird.“ Von diesem Niveau und seiner Sicherung in der Zeit hängt die Existenz der Ökosysteme und der natürlichen Lebensbedingungen des Menschen ab. Mit den Treibhausgasemissionen wird also ein wesentlicher Mechanismus des Klimasystems bearbeitet. Man hätte auch natürliche Lebensbedingungen auswählen können, wie etwa gemäßigtes Wetter oder systemare Gleichgewichte im Verhältnis Mensch-Natur. Nur sind das eher abhängige Variablen. Mit den Treibhausgaskonzentrationen trifft man effektiver eine dahinterstehende Ursache. Zudem lassen sich Emissionen und Konzentrationen von Treibhausgasen besser quantifizieren als Wetterbedingungen und systemare Kreisläufe. Dies erleichtert den Aufbau eines Bewirtschaftungsregimes.
Globale Verteilung
Da das Klimasystem eine globale Ressource darstellt, fügt es sich glücklich, dass es internationales Recht gibt, aus dem Maßstäbe der Bewirtschaftung hergeleitet werden können. Die Kalkulation des globalen Budgets basiert auf Art. 2 Abs. 1 (a) des Pariser Abkommens (PA) mit seinen Aufwärmungsgrenzen. Entgegen verbreiteten Relativierungen (Rajamani/Werksman 2018) ist die Grenze „well below 2°C“ als verbindlich anzusehen; sie wird durch die vom BVerfG akzeptierte Grenze von 1,75°C konkretisiert. 1,5°C einzuhalten wäre dagegen eine Pflicht, die zwar nicht auf Völkervertragsrecht, wohl aber auf die völkergewohnheitsrechtliche no-harm-rule oder auf Grundrechte gestützt werden kann.
Hinsichtlich der Verteilung des globalen Budgets auf die Einzelstaaten bietet Art. 2 Abs. 3 PA eine ganze Reihe von Kriterien, nämlich „equity“, „common but differentiated responsibility“, „respective capabilities“ und „different national circumstances“ (Zur Interpretation im Einzelnen s. Rajamani et alii 2021). Eine Priorisierung wird nicht vorgegeben.
Die genannten Zuteilungskriterien lassen sich zu zweierlei Berechnungsstrategien konkretisieren. Die eine kann als „top down“ bezeichnet werden. Sie bestimmt die legitimen Anteile („fair shares“) der Staaten. Die andere fragt „bottom up“ nach dem Machbaren. Die beiden Strategien werden auch vom Climate Action Tracker angewendet, einem international bedeutsamen Instrument der Evaluierung der Klimaperformanz der Staaten.
„Fair shares“ leiten sich insbesondere aus den Prinzipien „equity“ und „common but differentiated responsibility“ ab. Im Vordergrund stehen dabei „pro Kopf“-Kriterien („per capita“). Wenn das BVerfG „pro Kopf“ ab 2020 rechnet, wählt es den für die BRD wohl günstigsten Weg. Kaum etwas vom deutschen Emissionsbudget wäre übrig, wenn „historisch pro Kopf“ gerechnet würde, weil dann die früheren Emissionen von einem entsprechend rückdatierten Budget abgezogenen werden müssten. Auszuscheiden ist dagegen „grandfathering“, also die Fortsetzung des Prozentsatzes, den ein Staat seit Längerem in Anspruch genommen hat. Dies wäre mit „equity“ nicht vereinbar.
„Machbarkeit“ leitet sich vor allem aus den Prinzipien „respective capabilities“ und „different national circumstances“ ab. Das Kriterium verlangt, dass genaue Untersuchungen über das soziale, technische und ökonomische Einsparungspotential jedes einzelnen Staates und seiner einzelnen Emissionssektoren angestellt werden müssen.
Wenn sich aus den Berechnungen nach „fair shares“ bzw. „Machbarkeit“ unterschiedliche Budgets eines Staates ergeben, ist zu klären, welcher Wert maßgeblich ist oder ob ein Mittelwert gebildet werden soll. Der Climate Action Tracker kommt bei den Industriestaaten meist – und auch bei der BRD – zu dem Ergebnis, dass das „fair share“-Budget viel kleiner ist als das Machbarkeitsbudget. Das führt ihn aber nicht zur Mahnung, das kleinere Budget zu beachten, sondern soll dazu veranlassen, dass die Lücke durch Finanzierungspflichten der Industrieländer zugunsten der Entwicklungsländer geschlossen wird.
Wenn das „fair share“ eines Staates ermittelt ist, ist weiter zu präzisieren, wie es über die Zeit verteilt werden soll. Denkbar sind drei Arten von Degression: in einem konvexen Verlauf wird heute mehr verbraucht, so dass später drastisch gebremst werden muss; in einem linearen Verlauf werden die Emissionen jedes Jahr um denselben Prozentsatz reduziert; und im konkaven Verlauf werden sie jetzt drastisch reduziert, damit für die Zukunft noch etwas übrigbleibt. Der konvexe Verlauf ist unklug, weil er das Einsparungsproblem in die Zukunft verschiebt; er wurde daher auch vom BVerfG zurückgewiesen. Aber auch die lineare Reduktion ist riskant, weil sie dazu führt, dass die verfügbare Gesamtmenge bereits vor 2030 oder sehr bald danach gänzlich aufgebraucht ist.
Regionale/nationale Verteilung und Grundrechtsschutz
Steht das Budget eines Staates fest, geht es weiter um die Aufteilung auf die einzelnen Emissionssektoren und Emittenten. Dieses Problem verweist das BVerfG in die Zuständigkeit des Gesetzgebers. Der ist dabei aber trotzdem mit Grundrechtsfragen konfrontiert, und zwar vor allem von Seiten derjenigen, die sich gegen Emissionsbeschränkungen wehren. Diese Grundrechtsfragen sind exemplarisch im Emissionshandelssystem der EU aufgeworfen worden, als sich die energieintensive Industrie dagegen wehrte, Emissionsberechtigungen für Treibhausgase erwerben zu müssen, während sie vorher kostenlos emittieren durfte. Geltend gemacht wurden Eingriffe in wirtschaftliche Freiheitsrechte (Heidelberg Zement) und Ungleichbehandlung gegenüber Konkurrenten (Arcelor). Dies wird auch gegenüber dem Vorwirkungskonstrukt des BVerfG geschehen, und zwar verschärft, weil die heutigen Restriktionen strenger werden, und auf breiterer Linie, weil mehr Emittenten in die Regelungen einbezogen werden.
Schwieriger ist es, die Grundrechtslage der vom Klimawandel Betroffenen zu bestimmen. Diese sind durch übermäßige gegenwärtige Zuteilung von Emissionsrechten an Emittenten mittelbar geschädigt, weil ihre natürlichen Lebensbedingungen bedroht werden. Zudem sind sie im Wege der Vorwirkung in ihren Freiheitsrechten dadurch beeinträchtigt, dass in der Zukunft auch sie in ihrer Nutzung fossiler Energie beschränkt werden.
Dabei gleichen sich die Lagen der Interessenten und Betroffenen immer mehr einander an. Die gewohnte Frontstellung zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft löst sich auf, wenn alle auch Emittenten sind. Es geht im Bewirtschaftungsmodell darum, angesichts der Knappheit, der alle Personen ausgesetzt sind, Rechtfertigungen für unvermeidliche Differenzierungen zu finden. Dies bedeutet, dass gegenüber den Freiheitsrechten das Gebot der Gleichbehandlung als Maßstab hervortritt. Die einzelnen Freiheiten werden dann nicht mehr für sich konturiert, sondern aus einem gemeinsamen, aber begrenzten Gut bedient.
Die Freiheitsrechte verwandeln sich dadurch in Grundpflichten klimabewussten Handelns. Wer nun „Ökodiktatur!“ ruft, beachte, dass Bewirtschaftungskonzepte bisher noch Inseln im allgemeinen Freiheitsraum sind und bleiben sollten, dass der Staat bei uns nicht Diktator, sondern demokratisch legitimiertes (und fast zu mutloses) Organ der Gesellschaft ist, und dass Verbote (wie die Beschränkung der Emissionsmöglichkeiten) Kreativität in Gesellschaft, Technik und Wirtschaft freisetzen können, neue Wege zu suchen.