28 June 2024

Von verfasstem Recht und verstecktem Gift

Ein Brief aus London

Am 4. Juli 2024 stehen die Wahlen des britischen Parlaments in Westminster an. Sie werden sich auf die Verfassung auswirken. Nach den verfassungsrechtlichen Turbulenzen während des schottischen Unabhängigkeitsreferendums (2015), des Brexit-Referendums (2016), den Leitentscheidungen des Obersten Gerichtshofs zur Rolle des Parlaments während des Brexits in den Jahren 2017 und 2019 und den schwierigen Wahlen in den Jahren 2017 und 2019 (die mit einer noch nie dagewesenen Unentschlossenheit des Parlaments und dessen Aufstand gegen die Regierung einhergingen) kann man wohl sagen, dass die britische Verfassung im Jahr 2020 – als Covid-19 den Ring betrat – ziemlich in den Seilen hing. Was danach kam, war eher eine politische als eine verfassungsrechtliche Katastrophe. Aber das inkompetente Management der Pandemie und die Aufdeckung unethischen Verhaltens innerhalb der Regierung ließen die Conservative Party in der öffentlichen Wahrnehmung frei fallen. Die bemerkenswerteste Episode dieser Zeit (die Think Tanks und Öffentlichkeit dazu veranlasste, Ethik und Integrität verfassungsrechtlich zu untersuchen) war, dass der damalige Premierminister Boris Johnson ausgelassene Partys in der Downing Street Nr. 10 beaufsichtigt hat, während er dem Rest des Landes einen strikten Lockdown auferlegte – und darüber nachweislich das Parlament belog.

Seit 2010 hatte das Land fünf konservative Premierminister – Cameron (2010, 2015), May (2016), Johnson (2019), Truss (2022) und Sunak (2022). Man könnte sagen, dass der häufige Wechsel ein Beispiel dafür ist, dass die britische Verfassung funktioniert – Cameron, May, Johnson und Truss wurden von der Partei ohne Wahlen abgesetzt, weil sie politisch versagt hatten. Das lässt die Bemerkung des ehemaligen Parteivorsitzenden William Hague angemessen erscheinen, die Konservative Partei sei „eine absolute Monarchie, die durch Königsmord gemäßigt wird“. Die Labour-Partei beschreibt die Conservatives am liebsten mit „Chaos“. Der Titel des Labour-Wahlprogramms besteht ebenfalls aus einem einzigen Wort: „Change“, Veränderung. Das unverkennbar verfassungswidrige Element in der Wahlkampagne von Premierminister Boris Johnson und seinem Sieg im Dezember 2019 bildet hier den wichtigen Kontext – sowohl dafür, wie sich die politische und rechtliche Verfassung Großbritanniens in den nachfolgend skizzierten vier Bereichen entwickeln wird, als auch für die Frage, was eine (wahrscheinliche) Labour-Regierung dagegen tun könnte.

Westminster gegen Whitehall

Das Parlament sitzt im Palast von Westminster. Whitehall ist die angrenzende Straße, in der sich das Nervenzentrum der Regierung befindet. In der Theorie sagt das Parlament der Regierung, was sie zu tun hat. In der Praxis ist das Gegenteil der Fall – aber selten so sehr wie in den letzten fünf Jahren.

Nach der Instabilität von 2019 setzte die im selben Jahr gewählte Tory-Mehrheit eine Regierung ein, die dem Unterhaus gegenüber besonders angriffslustig war. Sie strich sofort Bestimmungen, die dem Parlament ein Mitspracherecht bei den Brexit-Verhandlungen einräumten. Sie verabschiedete das Gesetz zur Auflösung und Einberufung von Parlamenten (Dissolution and Calling of Parliaments Act 2022), das die Befugnis des Premierministers wiederherstellt, nach Belieben Wahlen einzuberufen oder das Parlament aufzulösen, und in § 4 vorsieht, dass solche Entscheidungen vor keinem Gericht anfechtbar sind. Das Gesetz stellt so die königliche Prärogativbefugnis wieder her und befreit sie von den üblichen Kontrollen des Common Law (die nach einem Urteil des Obersten Gerichtshof für anwendbar gehalten wurden).

Verfassungsrechtlich bedenklich ist auch, wie die delegierende Gesetzgebung genutzt wird. Dies spitzte sich im Retained EU Law (Revocation and Reform) Act 2023 zu, den ein parlamentarischer Sonderausschuss als „hyper-sceletal“ beschrieb, als Gerippe. § 14 überträgt den Ministern weitreichende Befugnisse, um EU-Recht zu widerrufen und zu ersetzen, ungeachtet der notorischen Schwierigkeiten bei der Rechenschaftspflicht. Die Hansard Society überprüft deshalb laufend die delegierte Gesetzgebung – der bisher beste Versuch eines Reformprogramms.

Würde Labour von all dem zurückrudern? Der ehemalige politische Sekretär von Tony Blair, John McTernan, sagte dazu in einem Artikel der Financial Times ganz offen: „In den letzten 14 Jahren gab es viele Maßnahmen, um die Exekutive zu stärken. Labour sollte sie ausnutzen.“

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Am 27. August stellen wir in fünf verschiedenen Panels die Handlungsempfehlungen und Ergebnisse unseres Thüringen-Projekts vor. Die Kooperationsveranstaltung mit dem Netzwerk Demokratiebildung in Thüringen, dem Weltoffenen Thüringen, der EJBW und dem VTZB e.V. findet von 10 bis 16 Uhr im Reithaus an der Ilm in Weimar statt.

Um Anmeldung bis zum 16. August wird gebeten. Die Teilnahme ist kostenlos für alle, die die Forschungsarbeit des Thüringen-Projekts mit einer Spende unterstützt haben (bitte mit der derselben E-Mail-Adresse anmelden, die bei der Spende angegeben wurde und dies unter “Sonstiges” vermerken.)

Zur Anmeldung

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Die Territorialverfassung

Die Verfassung des Vereinigten Königreichs überträgt den gesetzgebenden Körperschaften und den gewählten Regierungen in Schottland, Wales und Nordirland erhebliche Befugnisse. Sie ist aber insofern nicht föderalistisch, als das Parlament uneingeschränkt rechtliche und politische Souveränität behält. Die Beziehungen zwischen den dezentralen Regierungen und der Zentralregierung haben sich deutlich verschlechtert, auch im brexitfreundlichen Wales.

Kontrolliert werden sollen die Gesetzgebungsbefugnisse durch die Sewel-Konvention, die zwar gesetzlich anerkannt, aber nicht rechtsverbindlich ist. Sie sieht vor, dass das Parlament „normalerweise“ keine Gesetze in dezentralen Angelegenheiten ohne die Zustimmung der dezentralen Legislative erlässt. Seit dem Brexit hat das Parlament in Westminster jedoch mehrfach Gesetze ohne diese Zustimmung erlassen. Dazu gehören vor allem der European Union (Withdrawal) Act 2018 und der UK Internal Market Act 2020 (der übereilt einen gemeinsamen britischen Markt nach dem Brexit regelte). Das waren keine Einzelfälle. Allein in den ersten beiden Jahren der walisischen Legislaturperiode 2021 verweigerte das walisische Parlament seine Zustimmung zu sechs Gesetzesentwürfen des Westminster-Parlaments, die dennoch in Kraft traten.

Die Labour Party hat dies erkannt. Der Bericht der Labour Commission on the UK’s Future unter dem Vorsitz des ehemaligen Premierministers Gordon Brown („Brown Report“) befasste sich unter der Schirmherrschaft von Labour vor allem mit der Verfassungsreform. Der Bericht empfahl, „rechtsverbindlich“ zu machen, dass der Gesetzgeber zustimmen muss (S. 103). Im Wahlprogramm von Labour wird diese Empfehlung relativiert: Die Partei verpflichte sich, die Sewel-Konvention zu „stärken“, indem sie „eine neue Vereinbarung darüber trifft, wie die Nationen für das Gemeinwohl zusammenarbeiten werden“ (S. 113). Das Wahlprogramm der Labour-Partei zielt im Großen und Ganzen darauf ab, die zwischenstaatlichen Beziehungen „neu zu gestalten“ – eine nicht nur kosmetische Änderung des Tons und Stils, die auch einen neuen Rat der Nationen und Regionen einschließen würde –, tut dies aber mit einer Zweideutigkeit, die insbesondere im Vergleich zu den konkreteren Vorschlägen des Brown-Berichts nicht gerade als konstruktiv bezeichnet werden kann.

Menschenrechte

Die Conservative Party wollte den Human Rights Act 1998 (HRA) in ihrem Wahlprogramm von 2015 „abschaffen“, ihn aber bis zum Brexit beibehalten, dann 2017 „überdenken“ und 2019 schließlich „aktualisieren“. Das Wahlprogramm von 2024 schweigt zum HRA.

Am lautesten befürwortete der Abgebordnete Dominic Raab die Abschaffung des HRA. Er wurde 2021 stellvertretender Premierminister und Justizminister. Im Jahr 2020 setzte die Partei die Independent Human Rights Act Review ein (Unabhängige Kommission zur Überprüfung des HRA), um zu untersuchen, welche Gründe dafür sprechen, den HRA aufzuheben oder zu reformieren. Als die Kommission 2021 Bericht erstattete, stellten die Tories zu ihrer Bestürzung fest, dass es dafür keine guten Gründe gab. Unbeirrt brachte Raab seine Bill of Rights Bill ein, der den HRA aufheben und durch ein viel schwächeres Gesetz ersetzen sollte. Dies hätte unweigerlich zu einer systematischen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geführt. Doch gemeinsam mit Raab fielen auch seine Gesetzesvorhaben in Ungnade. Ein Bericht stellte fest, dass Raab systematisch Beamte in drei Ministerien schikaniert hatte, und er trat im April 2023 zurück. Der Gesetzentwurf wurde zwei Monate später zurückgezogen, da der Premierminister keine Lust hatte, sich mit dem Oberhaus zu streiten.

Nachdem dieser Frontalangriff gescheitert war, begann eine heimtückischere Kampagne, die ich „Menschenrechte à la carte“ nenne. Seit 2021 sind vier Gesetze des britischen Parlaments verabschiedet worden (und kein einziges davor), die die Wirkung des HRA ausschließen oder ändern, soweit der HRA auf diese Gesetze anwendbar ist. § 3 des Safety of Rwanda (Aylum and Immigration) Act 2024 ist darunter der dramatischste, da er fast den gesamten HRA im Rahmen des Gesetzes außer Kraft setzt. Der Supreme Court kann zwar weiterhin eine „Unvereinbarkeitserklärung“ abgeben. Doch diese lässt die Gesetze unangetastet und gibt Kritikern des Straßburger Gerichtshofs oder der EMRK nur ein nützliches politisches Druckmittel an die Hand. Die ganze Situation zeigt, dass gesetzlicher Menschenrechtsschutz sehr real eingeschränkt wird – eine Entwicklung, die Stephen Gardbaum mit seinem „New Commonwealth Model“ der Verfassungsstaatlichkeit theoretisiert. Im Moment fühlt es sich nicht besonders verfassungsstaatlich an.

Die letzte Regierung hat die Versammlungsfreiheit durch den Police, Crime, Sentencing and Courts Act 2022 und den Public Order Act 2023 erheblich beschnitten. Beide Gesetze übertragen Befugnisse an die Regierung, um Proteste zu verhindern, die eine „ernsthafte Störung“ verursachen (etwa Lärm). Aber keines der Gesetze definiert, was das bedeuten soll. Stattdessen überlassen die Gesetze der Regierung erheblichen Spielraum dabei, den Begriff zu definieren – und kombinieren so geschickt das alte verfassungsrechtliche Problem der nicht rechenschaftspflichtigen delegierten Befugnisse mit dem neuen Problem der Kriminalisierung öffentlichen Protests. Die erste Reihe von Verordnungen über „schwerwiegende Störungen“ hat der Oberste Gerichtshof bereits verworfen, weil (vorhersehbar) versucht wurde, „schwerwiegend“ so zu definieren, dass es lediglich „etwas mehr als geringfügig“ bedeutet (Urteil hier, Pressezusammenfassung hier – die Entscheidung ist derzeit in Berufung). Der Gemeinsame Ausschuss für Menschenrechte des britischen Parlaments hielt beide Gesetze für unnötig und für einen mutmaßlichen Verstoß gegen die EMRK (siehe hier und hier).

Die Labour-Partei hat sich in ihrem Wahlprogramm unmissverständlich dazu verpflichtet, Mitglied der EMRK zu bleiben, was Sir Keir Starmer in seinem ersten TV-Duell gegen Premierminister Sunak am 5. Juni 2024 mit einer für ihn untypischen Unaufgeregtheit bekräftigte. Dies müsste sinnvollerweise heißen, dass Labour den „Menschenrechte à la carte“-Ansatz prinzipiell ablehnt. Aber prinzipielle Ablehnung ist nicht dasselbe wie politisches Engagement. Das Schattenkabinett weigerte sich bereits, sich dafür einzusetzen, dass die neuen Gesetze zur öffentlichen Ordnung aufgehoben werden.

Der Rechtsstaat und das Völkerrecht

Trotz der traditionellen Feindseligkeit gegenüber Klauseln, die die gerichtliche Kontrolle (selbst unbedeutender Gerichte) begrenzen, schränkt eine Reihe von Gesetzen den Zugang zu Gerichten nun eindeutig ein. Ich habe weiter oben bereits darauf hingewiesen, dass die Nicht-Justiziabilität von Auflösungsberatungen gesetzlich verankert ist, aber der Illegal Migration Act 2022 enthält eine atemberaubende Anzahl von Einschränkungen (siehe z. B. §§ 5, 13, 42-43). Am dramatischsten ist, dass der Safety of Rwanda (Asylum and Immigration) Act 2024 die Republik Ruanda für die Zwecke der Abschiebung aus dem Vereinigten Königreich als sicheres Land einstuft, nachdem der Oberste Gerichtshof einstimmig entschieden hatte, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist (R (AAA) v Secretary of State of the Home Department [2023] UKSC 42). Die Regierung behauptet, dass der Vertrag, den sie nach dem Urteil mit Ruanda geschlossen hat, alle im Urteil des Gerichtshofs genannten Probleme behebt – aber das entspricht weder der Ansicht des parlamentarischen Ausschusses für internationale Abkommen noch der des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge – und auch nicht der von irgendjemandem, der etwas darüber weiß und ehrlich ist. Solange das Gesetz in Kraft bleibt, kann nicht einmal der Premierminister die Abschiebung nach Ruanda blockieren, selbst wenn feststehen sollte, dass Ruanda tatsächlich unsicher ist oder geworden ist. Die „deeming“-Bestimmung in § 2 gilt für Gerichte; und untersagt es den Gerichten auch, sich auf das HRA oder ein internationales Gesetz zu berufen, um eine Abschiebungsentscheidung zu blockieren. In § 5 wird den Ministern lediglich die Befugnis vorbehalten, zu entscheiden, ob sie sich an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte halten oder nicht. Zwar wird der Safety of Rwanda Act in mehreren Verfahren gerichtlich angegriffen, aber nur wenige, die sich mit dem System auskennen, erwarten ernsthaft, dass die Gerichte irgendeine Bestimmung des Gesetzes formell außer Kraft setzen werden.

Premierminister Rishi Sunak hat dieses Gesetz und die Ruanda-Politik zu einem Kernstück seines Wahlkampfes gemacht. Die Labour-Partei hat sich zur Abschaffung dieses Gesetzes verpflichtet, und zwar nicht, weil es angeblich verfassungswidrig oder grausam ist, sondern weil es „nicht funktionieren wird“. Außerdem bekennt sie sich in ihrem Wahlprogramm zur „internationalen Rechtsstaatlichkeit“, was die Aufhebung des Rwanda Act bedeuten muss. Andererseits verspricht Labour extrem niedrige öffentliche Ausgaben. Da scheint es kaum möglich, die drohende Rechtsstaatskrise durch eine Rettung der kollabierenden Justiz abzuwenden.

Insgesamt gibt es Gründe für verfassungsrechtlichen Optimismus – nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass Sir Keir Starmer selbst ein führender Menschenrechtsanwalt war. Er ist auch Autor bedeutender Bücher über europäische und britische Menschenrechtsgesetzgebung. Man kann verstehen, dass er darüber momentan lieber schweigt.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

Ist die Beobachtung der Klima-Gruppe “Ende Gelände” durch den Verfassungsschutz als “linksextremistischer Verdachtsfall” rechtswidrig? Zu diesem Ergebnis kommt JAKOB HOHNERLEIN in seiner Analyse. In seinem NPD-Urteil hatte das Bundesverfassungsgericht 2017 den Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verschlankt. Dass sich auf dieser Grundlage radikale Systemkritik nicht als Verfassungsfeindlichkeit werten lässt, scheint beim Bundesamt für Verfassungsschutz noch nicht angekommen zu sein. 

Die Neukonzeption der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch das Bundesverfassungsgericht steht auch im Zentrum von FELIX THRUNS und SIMON MÜLLERS Entscheidungsbesprechung. Das OVG Berlin-Brandenburg hatte zu entscheiden, ob ein Platz fürs Rechtsreferendariat verweigert werden kann, wenn der Bewerber die Verfassungsordnung aktiv bekämpft, ohne sich strafbar zu machen. Der Beschluss fügt sich mit eigenen Argumentationsansätzen in die uneinheitliche Linie der Rechtsprechung ein.

Der Ton in der Schweiz gegenüber dem KlimaSeniorinnen-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird immer schärfer. Nun kam es sogar zu einem Votum der Bundesversammlung, dem Urteil des EGMR keine Folge zu leisten. Das Klimaurteil sei unzulässiger und unangemessener richterlicher Aktivismus. Was ist dran an den Vorwürfen? Handelt es sich tatsächlich um einen unzulässigen Eingriff in die Gewaltenteilung? CHARLOTTE BLATTNER zeigt, warum die Schweizer Debatte die Rolle der Judikative verkennt und das Urteil der EGMR weder undemokratisch noch aktivistisch ist. 

Diesen Monat bestätigte der EuGH einen geschlechtsspezifischen Asylgrund: Wer jahrelang in Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern gelebt hat, kann Anspruch auf Asyl haben. Mit dem Urteil lege der EuGH das Asylrecht flexibel aus und mache es krisensicher – auch für Klimaflüchtlinge, analysiert SEBASTIAN LOSCH.

Deutschland steht bei der Organspende im europäischen Vergleich schlecht da. Die Diskussion um eine Widerspruchsregelung, wie sie zum Beispiel. in Spanien bereits existiert, hat daher nun wieder an Fahrt aufgenommen. JOSEF FRANZ LINDNER zeigt, wie eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Widerspruchsregelung aussehen könnte, wo noch Nachbesserungsbedarf besteht und argumentiert, warum nach diesem Ansatz trotzdem niemand gegen seinen Willen zum Organspender werden wird. 

Manch einer wird sich noch an die Causa „Officer Denny“ erinnern: Der Berliner Polizist musste seinen TikTok-Account (mit immerhin 150.000 Followern) zu Recht aufgeben, entschied das VG Berlin im März. Jetzt wurden die Entscheidungsgründe veröffentlicht. NICOLAS HARDING hat sie sich genauer angeschaut und bei den verfassungsrechtlichen Argumenten nachgeschärft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, es wird ein Wiedersehen mit „Officer Denny“ vor dem OVG Berlin-Brandenburg geben.

FELIX REDA beleuchtet die rechtspolitischen Entwicklungen zur Chatkontrolle. Der Verordnungsentwurf zur Prävention und Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern, den die belgische EU-Ratspräsidentschaft forciert hatte, ist vom Tisch, vorerst jedenfalls. Es sei aufgrund der Erfahrungen im Rat allerdings klar, dass eine (wenn auch nicht qualifizierte) Mehrheit der nationalen Regierungen grundsätzlich hinter der Chatkontrolle steht. Spanien und Irland hatten sogar noch weitergehende Maßnahmen gefordert. Um die Chatkontrolle langfristig abzuwenden, müssten sich Zivilgesellschaft und Wissenschaft dem Thema weiter widmen.

Spenden und Geldflüsse können einen erheblichen Einfluss auf Wahlen entfalten. Während das indische Recht der Parteienfinanzierung eher strikt ist, nutzen zunehmend mehr Menschen die sozialen Netzwerke, um dort verdeckt Werbung für Kandidaten oder Parteien zu schalten. Ein rechtliches Schlupfloch, mein TANMAY DURANI, und macht Vorschläge, wie es sich schließen lässt.

Der Loss and Damage Fund, mit dem Klimaschäden im Globalen Süden kompensiert werden sollen, stand zuletzt im Fokus der Klimakonferenz im Bonn. Doch nicht nur über den Fund, sondern auch über Gerichtsverfahren versuchen Kläger:innen aus dem Globalen Süden Kompensationszahlungen zu erwirken. ABHIJEET SHRIVASTAVA und RENATUS OTTO FRANZ DERLER haben sich das Instrument der Loss and Damage Litigation aus Perspektive des Globalen Südens angesehen und zeigen, warum es sich dabei – trotz bestimmter Einwände – um einen wichtigen Hebel für mehr Klimagerechtigkeit handelt. 

Wie werden institutionelle Konflikte in China gelöst, zum Beispiel wenn ein Gesetz gegen die Verfassung verstößt? CHANGHAO WEI erläutert einen neuen Mechanismus – “recording und review” – und beschreibt ein institutionelles Verfahren, das außerhalb Chinas nur wenigen bekannt sein dürfte. 

Ein Meilenstein für Rechte von queeren Personen in Namibia: Letzte Woche erklärte der Oberste Gerichtshof in Friedel Laurentius Dausab Gesetze für verfassungswidrig, die gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisieren. SARTHAK GUPTA erklärt, wie und warum das Urteil die namibischen Rechtsprechung zum Antidiskriminierungsrecht erheblich nach vorne bringt.

Anfang dieses Monats erließ Biden eine Verordnung, die es Personen, die beim Versuch, die südliche Grenze ohne Termin zu überqueren, aufgegriffen werden, nicht mehr erlaubt, Asyl zu beantragen. LENA RIEMER erklärt, warum dies sowohl gegen nationales als auch gegen internationales Recht verstößt und wie ein alternativer Ansatz zur Migrationssteuerung aussehen könnte. 

Letzte Woche trafen sich Rechtswissenschaftler aus aller Welt in Freiburg zur ConTrans-Konferenz. Auf der einen Seite des Spektrums sprachen sich Wissenschaftler wie Wojciech Sadurski für einen revolutionären Ansatz aus, indem das derzeitige polnische Verfassungsgericht einfach aufgeläst und von Grund auf neu errichtet wird. Am anderen Ende steht Adam Bodnar, der die Bedeutung der Legalität im Übergangsprozess hervorhob. LUKE DIMITRIOS SPIEKER meint, dass das EU-Recht einen möglichen Weg in die Zukunft aufzeigt.

Sollte man die ungarische Ratspräsidentschaft angesichts der ständigen Verstöße Ungarns gegen die Rechtsstaatlichkeit verschieben oder gar aufheben? Angesichts der rein informellen Befugnisse des Ratsvorsitzes spricht sich KAJA KAŹMIERSKA dagegen aus. Der tatsächliche Schaden sei eher begrenzt, vor allem weil der ungarische Ratsvorsitz unmittelbar nach den Europawahlen stattfindet. Der ungarische Ratsvorsitz könne die Bindung ungarischer Bürger an die EU sogar verbessern und den anderen Mitgliedstaaten die beste Version seiner selbst zeigen.

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Das wär’s für diese Woche! Ihnen alles Gute,

Ihr

Verfassungsblog-Editorial-Team

 

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SUGGESTED CITATION  King, Jeff: Von verfasstem Recht und verstecktem Gift: Ein Brief aus London, VerfBlog, 2024/6/28, https://verfassungsblog.de/von-verfasstem-recht-und-verstecktem-gift/, DOI: 10.59704/e4b7517a307b190f.

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