Paradigmenwechsel im Organspenderecht?
Zur erneuten Diskussion um die Widerspruchsregelung
Heute haben Abgeordnete des Deutschen Bundestages einen interfraktionellen Gruppenantrag zur Einführung der Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz vorgestellt. Dem Bundesrat liegt ein Gesetzentwurf mit derselben Zielrichtung vor. Die Realisierung der Widerspruchslösung ist verfassungsrechtlich möglich.
Dramatischer Mangel an Spenderorganen in Deutschland
Die Zahlen sind deprimierend. In Deutschland sterben jeden Tag drei Menschen, weil sie ein medizinisch dringend benötigtes Spenderorgan nicht erhalten. Die Lage ist damit schlechter als vor 25 Jahren. Nach dem Jahresbericht 2023 der Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO) standen ca. 8.400 auf ein Organ wartenden Patienten lediglich 2.877 transplantierte Spenderorgane gegenüber. Im ersten Quartal des Jahres 2024 ist die Zahl der Organspender erneut um 6% zurückgegangen. Damit steht Deutschland auch im europäischen Vergleich sehr schlecht da. Während etwa in Spanien auf 1 Million Einwohner 47 Organspender kommen, sind es in Deutschland 10,4 (in Frankreich 25,8, in Österreich 24,4).
Die (erweiterte) Widerspruchsregelung, wie sie dem genannten Gesetzentwurf zu Grunde liegt, stellt einen Paradigmenwechsel im Transplantationsmedizinrecht dar: Die postmortale Organentnahme ist nicht erst dann zulässig, wenn die betroffene Person oder ein nächster Angehöriger zugestimmt hat, sondern bereits dann, wenn kein Widerspruch der betroffenen Person vorliegt und auch kein entgegenstehender Wille besteht, über den die Angehörigen zu befragen sind. Die Angehörigen haben dabei kein eigenes Widerspruchsrecht.
Reformen der Jahre 2019 und 2020
Bisherige Reformbemühungen sind wirkungslos geblieben. 2019 wurde ein Gesetz zur „Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende“ erlassen. Die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen der Organspende sollten verbessert werden. Im Januar 2020 lagen dem Bundestag erneut zwei Gesetzentwürfe vor: Der „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“sowie der „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchsregelung“. Der erste Entwurf bewegte sich im Rahmen des seit 1996 geltenden Modells der (erweiterten) Zustimmungslösung; danach ist eine postmortale Organentnahme nur zulässig, wenn der Betroffene selbst oder die Angehörigen (unter Beachtung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen) der Organentnahme zugestimmt haben. Der Gesetzentwurf setzte auf bessere Aufklärung (durch Hausärzte und Meldeämter) sowie auf die Einrichtung eines Organspenderregisters. Der zweite Entwurf zielte hingegen auf einen Systemwechsel: Eine Organentnahme sollte bereits dann zulässig sein, wenn der Betroffene nicht widersprochen hat und auch den Angehörigen kein Widerspruch bekannt ist. Bei der Abstimmung am 16.01.2020 erhielt der erste Entwurf eine Mehrheit, die Widerspruchsregelung scheiterte (292 zu 379).
Neuer politischer Anlauf
Da sich die Hoffnungen auf eine Steigerung der Zahl der Organspenden nicht ansatzweise erfüllt haben, hat die Debatte um die Widerspruchsregelung wieder an Fahrt aufgenommen. In einer Entschließung des Bundesrates vom 15.12.2023 (BRat-Drs. 582/23) forderte dieser die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Einführung der Widerspruchsregelung vorzulegen. Dem ist die Bundesregierung bisher nicht nachgekommen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat daher die Initiative ergriffen und gemeinsam mit anderen Ländern den „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes und Einführung der Widerspruchslösung“ (BRat-Drs. 278/24) in den Bundesrat eingebracht. Dieser hat ihn am 14.6.2024 behandelt und in den zuständigen Gesundheitsausschuss verwiesen. Unabhängig davon wurde am 24.6.2024 auf einer Pressekonferenz von Abgeordneten des Bundestages (aller Fraktionen mit Ausnahme der AfD) ein Gruppenantrag zur „Einführung einer Widerspruchsregelung im Transplantationsgesetz“ vorgestellt.
Verstoß gegen Menschenwürde oder Allgemeines Persönlichkeitsrecht?
Mitunter wird die Widerspruchsregelung in die Nähe eines Verstoßes gegen die Würde des Menschen gerückt (so etwa Augsberg/Dabrock, S. 7 „Organabgabeerwartung mit Widerspruchsvorbehalt“). Solche Kritik überrascht schon deswegen, weil die Widerspruchsregelung in sehr vielen europäischen Ländern seit langem Anwendung findet. Da einige dieser Länder in das „Eurotransplant“-System eingebunden sind, werden in der Praxis Organe aus Ländern mit Widerspruchsregelung auch an Patienten in Deutschland vermittelt. Das bedeutet: Einem Patienten in Deutschland kann über Eurotransplant ein Organ aus dem Ausland vermittelt werden, das nach bisherigem deutschem Recht nicht entnommen werden dürfte. Das ist nur eine der vielen moralischen Fragwürdigkeiten des deutschen Medizin- und Gesundheitsrechts (näher zu solchem „foreign shopping“ Lindner, Merkur Nr. 852, S. 91).
Das BVerfG hat in einer (Kammer-)Entscheidung vom 18.2.1999 (NJW 1999, S. 3403/Rn. 5) festgestellt, dass es nicht gegen Grundrechte verstoße, dass zur Abwehr einer postmortalen Organentnahme ein Widerspruch erklärt werden müsse (nämlich um eine Zustimmung der Angehörigen auszuschließen). Daher ist es nicht fernliegend anzunehmen, dass das BVerfG auch eine (echte) Widerspruchsregelung akzeptieren würde. Blickt man sine ira et studio auf dieses Modell, wird sich eine Verfassungswidrigkeit nicht ernsthaft begründen lassen. Das aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) folgende Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen im Hinblick auf seine (postmortale) körperliche Integrität bleibt durch das Widerspruchsrecht gewahrt. Gegen seinen Willen wird niemand auf rechtmäßige Weise zum Organspender. Jeder kann sich für oder gegen die Organspende entscheiden. Niemand wird zum Objekt degradiert, instrumentalisiert, verzweckt oder verdinglicht.
Befassungspflicht als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts?
Allenfalls könnte man ein selbstbestimmungsrelevantes Problem darin sehen, dass sich der Einzelne überhaupt mit dem Thema Organspende befassen muss. Bereits in einer solchen Befassungs- und Entscheidungsobliegenheit könnte man einen Eingriff in ein aus dem Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) folgendes Recht auf Nichtbefassung und Nichtentscheidung – im Sinne eines Rechts, vor der Thematik „Organspende“ verschont zu bleiben, das Thema verdrängen zu dürfen –, erblicken. Bei Lichte betrachtet ist mit der Widerspruchsregelung eine Befassungspflicht aber gar nicht verbunden. Denn niemand wird verpflichtet, sich mit dem Thema Organspende inhaltlich zu befassen. Jede Person hat die Option, das Thema einfach auszublenden, auf später zu verschieben und schlicht (vorerst oder vorsorglich bis zu einer späteren Befassung mit dem Thema) einen Widerspruch zu hinterlegen.
Bleibt also die „Widerspruchslast“. Diese kann man als (zumindest faktischen) Eingriff in die Allgemeine Handlungsfreiheit qualifizieren (Art. 2 Abs. 1 GG). Eine Rechtfertigung dieses Eingriffs ist angesichts der Gewichtigkeit des zu erreichenden Zwecks (Erfüllung der Schutzpflicht für Leben und Gesundheit schwerkranker Menschen aus Art. 2 Abs. 2 GG) und der im Vergleich dazu geringfügigen Eingriffstiefe der Widerspruchlast wohl zumutbar.
Verfassungsrechtliche Anforderungen zur Sicherung der Selbstbestimmung
Allerdings sind flankierende selbstbestimmungssichernde Anforderungen notwendig. Aus grundrechtlicher Sicht wesentlich ist zunächst, dass der Widerspruch gegen eine Organspende niedrigschwellig, einfach und in vielfältiger Weise erhoben und jederzeit widerrufen und erneuert werden kann. Das aktuell aufgesetzte, seit März 2024 in Betrieb befindliche Organspenderregister nach § 2a TPG wird den Anforderungen an eine (technisch) niedrigschwellige Widerspruchsmöglichkeit nicht gerecht. Hier bestünde im Falle der Einführung der Widerspruchsregelung erheblicher Nachbesserungsbedarf.
Die Widerspruchsregelung lässt von ihrer grundsätzlichen Konzeption her das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen zwar unberührt. Allerdings ist dieses stärker gefährdet als beim gegenwärtigen Modell der erweiterten Zustimmungslösung. Während der Einzelne bei letzterer nichts zu tun braucht, um nicht Organspender zu werden (nur wenn er eine Zustimmung der Angehörigen sicher ausschließen will, muss er einen Widerspruch erheben), ist bei der Widerspruchsregelung ein aktives Tun erforderlich, wenn der Einzelne eine Organspende ausschließen will. Eine Gefährdung des Selbstbestimmungsrechts liegt darin, dass der Widerspruch mangels Kenntnis von der neuen Rechtslage nicht oder zu spät erfolgt oder im Falle des Hirntodes des Betroffenen (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, der unverändert bleiben soll) nicht verifiziert oder beachtet wird.
Solche Gefährdungen hat der Gesetzgeber zu kompensieren, wenn er eine verfassungskonforme Gesamtregelung erlassen will. Dazu muss er die gesetzlichen Regelungen so ausgestalten, dass die Menschen von der (neuen) Widerspruchsregelung erfahren, rechtzeitig und einfach Widerspruch erheben können und dass dieser im Ernstfall auch bekannt und beachtet wird. Um letzteres sicher zu stellen, wird man ein funktionsfähiges und technisch nutzerfreundliches Register und eine obligatorische Abfrage benötigen. Zudem dürfte nur eine erweiterte Widerspruchsregelung verhältnismäßig sein, bei der – wenn kein eindeutig verifizierbarer Widerspruch vorliegt – die Angehörigen zu befragen sind, ob ihnen ein Widerspruch bekannt ist. Des Weiteren sollten nicht einwilligungsfähige Personen und Minderjährige von der Widerspruchsregelung ausgenommen werden.
Zeitlich gestrecktes Inkrafttreten
Insbesondere aber gilt es, ein Problem zu lösen, das man als „Überrumpelungseffekt“ bezeichnen könnte (dazu bereits Lindner hier). Nach dem Inkrafttreten einer Widerspruchsregelung würde jede Person (im Falle ihres Hirntodes) zum Organspender, wenn sie nicht rechtzeitig widerspricht. Selbst dann, wenn sie von der neuen Widerspruchskonzeption gar nichts weiß oder aus faktischen Gründen (etwa mangelnder Einsichtsfähigkeit) nicht zu widersprechen in der Lage ist. Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen gegen solche Überrumpelungseffekte zu treffen. Hierzu gehören längere Übergangsfristen ebenso wie die Bereitstellung eines niederschwelligen und zuverlässigen Register- oder Dokumentationssystems sowie Aufklärungs- und Informationskampagnen (insbesondere auch über die Sozialen Medien und über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der von den Meldeämtern Anschriften zur Verfügung zu stellen sind).
Es sind auch informationshindernde Probleme wie Sprachbarrieren oder Obdachlosigkeit in den Blick zu nehmen (etwa durch die Verwendung mehrsprachiger Aufklärungsmaterialien, den Gebrauch leichter Sprache oder den Einsatz von Streetworkern o.ä.). Zu regeln ist zudem die Frage, ob und mit welchen zeitlichen Vorgaben die Widerspruchsregelung auch für Menschen gilt, die sich erst seit kurzem oder nur vorübergehend in Deutschland aufhalten. Schließlich wird man Vorgaben zur Evaluation nach einem bestimmten Kampagnenzeitraum vorsehen müssen, um den Informationsstand der Bevölkerung zu ermitteln und – je nach Evaluationsergebnis – den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Widerspruchsregelung noch einmal zu überdenken.
Ein letztes rechtliches Desiderat wäre eine Nicht-Diskriminierungsklausel (etwa in Anlehnung an das Gendiagnostikrecht): „Niemand darf wegen eines Widerspruchs gegen eine Organspende benachteiligt werden.“
Weitere Reformoptionen
So wichtig die Diskussion um eine verfassungskonform realisierbare Widerspruchsregelung ist, darf sie aber nicht verdecken, dass es noch etliche weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Lage gäbe. Neben Reformen bei der Organlebendspende ist an Organisationsveränderungen nach dem Vorbild Spaniens zu denken: Die spanische Gesundheitspolitik hat mit der Gründung der Organización Nacional des Trasplantes das Transplantationswesen (ONT) zentralisiert und verstaatlicht. Die ONT untersteht dem Gesundheitsministerium und ist für die Spendererkennung, Spenderbehandlung, Gesprächsführung mit den Angehörigen sowie die Organisation aller für die Organspende relevanten Abläufe zuständig. Dabei kommen speziell geschulte hauptamtliche Transplantationskoordinatoren zum Einsatz. Dieses Organisationsmodell gilt – zusammen mit der Widerspruchsregelung – als wesentlicher Grund für das hohe Spenderorganaufkommen in Spanien. Es könnte auch ein Vorbild für Deutschland sein.
Es heißt im Beitrag, im neuen Gesetzesvorhaben sei angedacht, dass Angehörige zu befragen seien.
Andererseits heißt es, es sei bei einer Zustimmunsgslösung ein “unschönes Szenario”, dass Angehörige zu befragen seien, was mit einer Widerspruchslösung zu umgehen sein könne.
Wenn Angehörige ohnehin zu befragen sind, scheinen Vorteile einer Widerspruchslösung dazu überschaubar.
Die Frage wäre, warum eine Widerspruchslösung nur bei Organentnahmen gelten soll und nicht überhaupt bei Eigentum, Erbschaften, Vermögen?
Es scheint sich bei entnommen Organen ebenso wohl um “Eigentum” handeln zu können?
Es könnte daher vielleicht genauso geregelt werden, dass Eigentu