18 June 2024

Eine neue Verfassungsordnung in Südafrika

Der African National Congress verliert nach 30 Jahren seine Mehrheit

Die Ära der absoluten Mehrheiten im demokratischen Südafrika ist vorbei. Nachdem der African National Congress (ANC) sechs aufeinanderfolgende Wahlen über einen Zeitraum von 30 Jahren mit absoluter Mehrheit gewonnen hatte, erhielt die Partei am 29. Mai 2024 zum ersten Mal weniger als 50% der Stimmen.

Der ANC bleibt stärkste Partei. Am Abend des 14. Juni wählte die südafrikanische Nationalversammlung den ANC-Parteichef Cyril Ramaphosa in seine zweite Amtszeit als Präsident des Landes.

Doch Politik und Verfassungsstaatlichkeit in Südafrika haben sich fundamental geändert. Die einzige Gewissheit in der südafrikanischen Ordnung nach 1994 war, dass der ANC die absolute Mehrheit gewinnen würde. Diese Zeiten sind vorbei. Die zweite Amtszeit Ramaphosas stützt sich nun auf eine Koalition der politischen Mitte mit der größten Oppositionspartei seit 2003, der Democratic Alliance (mit 21,81% der Stimmen zweitstärkste Kraft), und einigen kleineren Parteien.

Bei diesen Schlagzeilen stellen sich mehrere Fragen. Was verrät das Wahlergebnis der ANC darüber, was die Wählerschaft denkt? Was ist von der neuen Koalition zu halten, die eilig nach – bislang bedeutungslosen – verfassungsrechtlichen Fristen gebildet wurde? Und was heißen die Ereignisse der letzten zwei Wochen für die südafrikanische Verfassungsstaatlichkeit?

Neue Akteure

Auf den ersten Blick lässt sich der Zustimmungsverlust der ANC leicht als lang erwartete Abrechnung lesen. Denn die Partei erhielt nur 40,18% der Stimmen, verglichen mit 57,5% im Jahr 2019. Der ANC ist in Korruption verstrickt. Nach 30 Jahren an der Macht erscheint die Partei zunehmend unfähig, die sozio-ökonomischen Hürden zu überwinden, die die Apartheid in Südafrika hinterlassen hat.

Doch die Wahrheit ist komplexer. Am meisten Stimmen gewann bei den Wahlen 2024 eine neue Partei, „Umkhonto we Sizwe“, auch bekannt als „MK“, der frühere Name des militärischen Arms des ANC. Galionsfigur der Partei ist Jacob Zuma, ehemaliger Präsident Südafrikas und des ANC, der sich inzwischen vom ANC losgesagt hat. Während der Präsidentschaft Zumas (2009-2018) war die Korruption im Land auf ihrem krassesten Höhepunkt. Trotzdem konnten MK und damit Zuma 14,58% der Stimmen gewinnen.

Diese 14,58% machen den Großteil der 17,32 Prozentpunkte aus, die der ANC seit 2019 verloren hat. Diese Stimmen fielen an den wohl korruptesten Präsidenten, den Südafrika je hatte.

Damit erweist sich das Wahlergebnis weniger als Abrechnung für Amtsvergehen des ANC – sondern zeigt, was passiert, wenn eine Freiheitsbewegung zerbricht.

Der ANC war schon immer ein politisches Sammelbecken, das von einem gemeinsamen Ziel zusammen- und von strenger Parteidisziplin aufrechterhalten wurde. Beides konnte nicht ewig währen.

Das erklärt, warum die beiden erfolgreichsten neuen politischen Bewegungen der letzten zehn Jahre Abspaltungen des ANC waren – MK heute und davor die Economic Freedom Fighters (EFF), eine radikale, populistische Partei links vom ANC. Die EFF wurden von Julius Malema gegründet, dem ursprünglichen Vorsitzenden der ANC-Jugendorganisation (ANC Youth League), der 2013 aus dem ANC ausgeschlossen wurde. Malemas EFF wurden mit 9,52% viertstärkste Kraft. Gemeinsam mit MK bilden sie nun die Hauptopposition der neuen Koalition.

Die Zersplitterung endet jedoch nicht mit MK und den EFF. Noch nie traten so viele Parteien bei einer Wahl an wie 2024. Viele blieben erfolglos. Doch die Regierungsbildung wird von nun an davon abhängen, was sich aus dieser zunehmenden Parteienvielfalt zusammenschrauben lässt – und davon, ob diese Konstruktion hält. Weil die Schwelle für den Einzug ins Parlament niedrig ist, werden verfassungsrechtliche Normen eine Zersplitterung kaum verhindern können.

Koalitionen an sich sind seit 1994 nichts Ungewöhnliches. Nach den ersten Wahlen im April 1994 wurde Südafrika von einer sogenannten „Regierung der nationalen Einheit“ (Government of National Unity, kurz GNU) regiert, an der die Nationale Partei (die Partei der Apartheid) und die Inkatha Freedom Party (IFP) in einer ANC-geführten Regierung beteiligt waren. Nachdem der frühere Staatspräsident und Funktionär des Apartheid-Regimes F. W. De Klerk seine Partei im Mai 1996 aus der Regierung zurückgezogen hatte, blieb die IFP bis 2004 im Kabinett des ANC.

Bei der derzeitigen Koalitionsbildung wurde immer wieder auf diesen Präzedenzfall der GNU verwiesen. Der Unterschied ist allerdings, dass der ANC dieses Mal keine alleinige Mehrheit hat.

Neues Tempo

Dieses Jahr musste es außerdem wesentlich schneller gehen. Die originale GNU war von langer Hand geplant. Die diesjährige Version wurde dagegen mit der heißen Nadel einer – bisher kaum beachteten – verfassungsrechtlichen Vorschrift zusammengestrickt.

Nach Artikel 86 Absatz 1 der südafrikanischen Verfassung von 1996 muss die Nationalversammlung (das südafrikanische Parlament) den Staatspräsidenten, den Sprecher sowie den Vizesprecher des Parlaments bei ihrer ersten Sitzung wählen. Artikel 51 Absatz 1 stellt klar, dass die erste Sitzung innerhalb von 14 Tagen nach der Verkündung des Wahlergebnisses stattfinden muss.

Als der ANC noch absolute Mehrheiten gewann, waren diese zeitlichen Vorgaben bedeutungslos. Jetzt allerdings setzen sie die Koalitionsverhandlungen in Südafrika enorm unter Druck, während sich solche Verhandlungen in anderen Ländern über Monate ziehen können.

Dies führte dazu, dass die Koalitionsgespräche auch nach Beginn der Sitzung der Nationalversammlung am Freitag fortgesetzt wurden. Viele Details (inklusive Kabinettsposten) müssen noch bekanntgegeben werden. Es bleibt abzuwarten, wie die Koalition mit den starken politischen Divergenzen zwischen den Koalitionspartnern umgehen wird, etwa bei den Themen der staatlichen Gesundheitsfürsorge oder dem Programm zur wirtschaftlichen Stärkung der schwarzen Bevölkerung (Black Economic Empowerment) – und wie langlebig eine Koalition sein kann, wenn solche Fragen nicht vor Koalitionsbildung gelöst werden können.

Für Ramaphosa könnte dies einen politischen Neuanfang bedeuten. Aber es erfordert auch einen enormen Balanceakt zwischen den DA-Anhängern (darunter konservative weiße Wählerinnen und Wähler) und dem Druck der schwarzen Mehrheit, in einer Gesellschaft mit dem weltweit größten GINI-Koeffizienten (der soziale Ungleichheit misst). Die EFF und MK, die eine eigene Regierungsbeteiligung unter Mitwirkung der DA ablehnten, kritisierten den Koalitionsvertrag als einen Ausverkauf des ANC an das Kapital der weißen Minderheit.

Neue Herausforderungen

Doch was heißt all das für die Verfassungsstaatlichkeit in Südafrika?

Es gibt durchaus Bedrohungen. Am offensichtlichsten ist Zuma. Zuma ist nicht nur auf Kollisionskurs mit dem Gesetz und dem südafrikanischen Verfassungsgericht, sondern bereits mehrfach mit beiden kollidiert.

Im Juni 2021 verurteilte ihn das Verfassungsgericht zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten wegen Missachtung des Gerichts („contempt of court“), nachdem er sich weigerte, zur (bisher unerfolgreichen) rechtlichen Aufklärung der tiefgreifenden Korruption während seiner Präsidentschaft beizutragen. Die Entscheidung führte zu Unruhen und Plünderungen. Zuma verbüßte nur einen geringen Teil der Haftstrafe und wurde später begnadigt. Jedoch bedeutet seine ursprüngliche Verurteilung, dass er nicht mehr als Mitglied der Nationalversammlung dienen kann. Ein Urteil des Gerichtshofs kurz vor der Wahl bestätigte dieses rechtliche Ergebnis. Zuma hat das Gericht daraufhin ausdrücklich und wiederholt angegriffen.

Auch die MK-Partei zweifelte die Legitimität der Wahl an und boykottierte die erste Sitzung des Parlaments. Ihre offenkundige Bereitschaft, sämtliche politische Institutionen anzugreifen, erinnert an Trumpismus.

Für das Verfassungsgericht bedeutet das eine große Herausforderung, und es ist nicht die einzige. Politische Experimente werden dazu führen, dass die Verfassungsordnung nach 1994 stärker in Frage gestellt wird. Der Verlust der ANC-Mehrheit heißt, dass weniger strittige Fragen innerhalb des ANC geklärt werden und mehr davon vor Gericht landen. Die politische Zersplitterung vergrößert auch den Spielraum der Justiz. Wir werden sehen, wie das Verfassungsgericht und die Öffentlichkeit darauf reagieren.

Diese Frage richtet sich an die Zukunft und an die neue Verfassungsordnung, die Südafrika jetzt gestalten muss, in welcher Form auch immer. Denn die bisherige Ordnung gibt es nicht mehr.


SUGGESTED CITATION  Fowkes, James E.: Eine neue Verfassungsordnung in Südafrika: Der African National Congress verliert nach 30 Jahren seine Mehrheit, VerfBlog, 2024/6/18, https://verfassungsblog.de/wahl-sudafrika-2024/, DOI: 10.59704/9f11bea3d4ab6dc1.

One Comment

  1. Dr. Bernd Arnold Wed 19 Jun 2024 at 03:36 - Reply

    Sehr geehrter Herr Professor Fowkes,

    Ihre Nachlese zur Wahl in der Republik Südafrika nehme ich interessiert zur Kenntnis. Ihre Abneigung gegen den vormaligen Präsidenten Zuma teile ich.

    Wiederum lese ich hier keine Begründung für eine neue Verfassungsordnung. Die neue Regierungsbildung in der Republik Südafrika ist nach Ihrer Auffassung verfassungsgemäß verlaufen – oder nicht?

    Ihren Hinweis auf die soziale Ungerechtigkeit wollen Sie bitte nicht alleine den letzten Regierungen ankreiden. Dazu mag und darf ich Sie erinnern an die Kolonialherrschaften der Niederländer, Briten und die Regierungen der Apartheid. Was wären Ihre Ideen zur Verbesserung der sozialen Lage in Südafrika?

    Viele Grüße
    Bernd Arnold

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