Was nutzen Panzer ohne Ziele?
Über die Notwendigkeit, deutsche Waffenlieferungen zu politisieren
Die Bundesrepublik wird Leopard-2-Kampfpanzer an Kiew liefern, ukrainische Soldaten in Deutschland trainieren sowie Exportgenehmigungen an Partnerländer ausstellen. Während die russische Führung über die angeblich erneute Bedrohung durch deutsche Panzer fabuliert, sind deutsche Entscheidungsträger*innen in erster Linie mit sich selbst zufrieden: Der Kanzler, weil es ihm gelungen ist, die Vereinigten Staaten mit an Bord zu holen; und diejenigen aus Regierung und Opposition, die vor jeder Kamera betont hatten, dass Deutschland der Ukraine auch Kampfpanzer liefern sollte. In den damaligen Worten von Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP): „Wir müssen dieser Brutalität ins Auge sehen. Deshalb kann unsere Antwort nur sein, die Ukraine so lange zu unterstützen, wie sie uns braucht.“ In Deutschland nicht diskutiert, jedoch zentral für alle politischen Entscheidungen in diesem Konflikt ist die Frage: Unterstützung wofür?
Wer A sagt, muss auch B sagen
Die Antwort erscheint zunächst klar. Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine, einen weltweit anerkannten souveränen Staat, mit militärischer Gewalt angegriffen. Entsprechend Art. 51 der UNO-Charta hat die Ukraine das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. In diesem Sinne unterstützt Deutschland sie mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln und wendet mit den Sanktionen direkte Gewaltmaßnahmen gegen den Aggressor, Russland, an. Die Bundesregierung bewegt sich zweifellos auf völkerrechtlich und moralisch sicherem Terrain. Was bedeutet aber nun „militärische Unterstützung“ konkret? Helme, Flugabwehr, Kampfpanzer? Warum aber eher keine Kampfflugzeuge oder U-Boote?
Im deutschen Diskurs wird „Unterstützung“ meist mit Gerechtigkeit begründet, also beinahe gesinnungsethisch. Das Problem dieses Arguments ist, dass Gerechtigkeit keine Grenze hat. Sie ist keine Frage von Verhältnismäßigkeit. Wenn das Kriterium ist, „was die Ukraine braucht“, dann lässt sich nicht rechtfertigen, Kampfpanzer zu liefern, Kampfjets aber nicht. Beide Waffensysteme sind potenziell hilfreich bei der Selbstverteidigung. Sie werden von der Ukraine gebraucht (und angefordert) und sind damit eine gerechte Unterstützung zur Befreiung von russischer Gewaltherrschaft.
Mit Gerechtigkeit zu argumentieren, bedeutet auch: Es gibt nur eine Richtung. Wer A sagt, muss auch B sagen – zumindest nach einer gewissen Zeit: Erst Helme, dann Defensivwaffen, dann schwere Defensivwaffen, und nun schwere Offensivwaffen – und danach? Eine Gerechtigkeitsdebatte leidet vor allem an einem Umstand: der Alternativlosigkeit. Wenn es ungerecht ist, der Ukraine militärische Unterstützung zu verwehren, dann gibt es nur einen Pfad, der schneller oder langsamer genommen werden kann. Anhalten ist schwierig, Abbiegen wäre inkonsistent und letztlich ungerecht.
Die radikale Alternative ist altbekannt, hat jedoch im vergangenen Jahr zahlreiche Unterstützer*innen in der deutschen Debatte verloren: Frieden schaffen ohne Waffen. Mit Putin verhandeln. Dieses Argument nimmt implizit an, der Aggressor und die sich verteidigende Ukraine müssten nur lange genug miteinander sprechen, um einen Weg zu Frieden zu finden. Diese Position spielte im Februar 2022 durchaus eine gewisse Rolle. Inzwischen ist die Position mangels Plausibilität marginalisiert. Die Tatsache, dass am Ende verhandelt werden muss, hat nichts mit der Frage zu tun, wann sich die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch setzen. Putin verhandelt dann, wenn dies für ihn aussichtsreicher sein dürfte, als den Krieg fortzusetzen. Sprich, wir sind zurück bei den Waffenlieferungen.
Deren Begründung ist jedoch nicht alternativlos. Was wir brauchen, ist Politik; genauer gesagt eine Politisierung der Waffenlieferungen an die Ukraine. Ein solcher Schritt mag auch zu innenpolitischen Konflikten führen, was viele Menschen angesichts der ernsten Lage nicht befürworten werden. Demgegenüber argumentiere ich jedoch, dass es primär darum gehen muss, gut begründete, aber streitbare Alternativen aufzuzeigen.
Nationale Interessen und Ziele als Begründung
Diese – weniger radikale – Alternative ist etwas unüblich aus einer deutschen Perspektive, manche würden sagen zynisch. Sie hat etwas mit Verantwortung, vielleicht sogar Verantwortungsethik, zu tun. Sie betont primär deutsche Ziele und Interessen und hat einen großen Vorteil gegenüber dem gesinnungsethischen Gerechtigkeitsdogma: Sie kann Grenzen definieren, Alternativen aufzeigen und sie setzt sich weniger dem Vorwurf von Doppelmoral aus.
Ist das aber nicht per se moralisch ungerecht? Die Ukraine verteidigt die europäische Demokratie – und Deutschland soll sie dabei nur in dem Maße unterstützen, in dem dies im deutschen Interesse liegt? Ja, das ist moralisch nicht gerecht; aber es ist politisch klug und langfristig von Nutzen für eine europäische Nachkriegsordnung. Warum ist das so?
Interessen, Zielkonflikte und Wertentscheidungen sind integraler Teil von Politik. Die Politikwissenschaft hat deshalb zahlreiche Modelle entwickelt, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Eines davon, das sogenannte „governor’s dilemma“, betont zunächst einmal, dass Regierungen ihre Ziele meist nur indirekt erreichen können – mit der Unterstützung von Helfer*innen. Dies gilt sowohl in der Innen- als auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das Dilemma besteht nun darin, dass diese Helfer*innen entweder sehr kompetent im Sinne der Zielerreichung sind oder dass sie sehr einfach zu kontrollieren sind. Aus der Perspektive der Regierung jedoch wäre beides wünschenswert: kompetente Helfer*innen, die leicht kontrollierbar sind; d.h. sie sollen effiziente Helfer*innen sein, aber nicht plötzlich unabhängig von der Regierung agieren und unter Umständen eigene Ziele verfolgen. Die Kontrollschwierigkeiten gründen einerseits auf mangelnder Information: Die Regierung ist nicht vor Ort und kann schlecht beurteilen, was die Helfer*in tut. Andererseits geht es vor allem um politische Macht: Je kompetenter die Helfer*in ihren Job macht, desto mehr Macht bekommt sie über die Regierung und desto stärker verliert letztere die Kontrolle. Das Problem für die Regierung ist nun: Der einzige Weg zurück zur Kontrolle ist, die Kompetenz der Helfer*in zu unterminieren. Dies ist das Dilemma: entweder hohe Kompetenz oder effektive Kontrolle. Beides gleichzeitig geht nicht.
Aus dieser Perspektive sind deutsche Waffenlieferungen der Versuch, die Ukraine so kompetent wie möglich zu machen, um deutsche, vielleicht europäische Ziele und Interessen zu erreichen. Das klare Ziel ist, neben der Verbesserung der humanitären Situation, die Souveränität der Ukraine als eigenständigen Staat zu erhalten. Hierzu gehört zweifelsfrei die territoriale Integrität des Landes. Jedoch in welchen Grenzen? Es scheint einen klaren Konsens zu geben, dass alle von Russland seit dem 24. Februar 2022 eroberten oder annektierten Gebiete Teil einer zukünftigen Ukraine sein müssen. Was ist jedoch mit dem Donbass, der seit 2014 hart umkämpften Region im Osten der Ukraine? Hierzu werden Sie weniger konkrete Antworten von westlichen Regierungen erhalten.
Und kommen wir zur Gretchenfrage, der Krim. Völkerrechtlich und moralisch müsste es das Ziel deutscher Politik sein, dass die Krim an die Ukraine zurückgegeben wird. Was wäre jedoch die politische Folge eines solchen Szenarios? Selbst wenn wir sämtliche nukleare Erpressungsversuche vernachlässigen – und das sollten wir –, bedeutet dieses Szenario, eine gedemütigte und auf ewig revisionistische Großmacht in der direkten Nachbarschaft zu haben. Diese wird – unabhängig von der politischen Führung – das Ziel verfolgen, die Krim „zurückzuholen“. Ist eine ukrainische Krim im deutschen Interesse? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Dass dies im ukrainischen Interesse ist, steht außer Frage. Wenn sich aber die deutschen und die ukrainischen Interessen nicht immer decken, dann hilft uns das „governor’s dilemma“, klarer zu benennen, welche Waffenlieferungen im deutschen Interesse sind und welche nicht.
Erstens, alles, was die Ukraine kompetenter darin macht, ihre Souveränität zu verteidigen.
Zweitens, alles, was sie kompetenter darin macht, zu einer territorialen Situation vor dem 24. Februar 2022, zurückzukehren.
Drittens, alles, was deutsche (und europäische) Kontrollmöglichkeiten für den Fall erhöht, dass die Ukraine diese Ziele erreicht haben sollte und dann erwägt, militärisch nach einer Situation zu streben, wie sie vor 2014 bestand. Eine hochkompetente Ukraine ließe sich nur schwer kontrollieren und davon abhalten, die eigenen Interessen in einer solchen Situation in den Vordergrund zu stellen.
Das „governor’s dilemma“ zeigt auf, dass Waffenlieferungen nicht nur die Kompetenz der Ukraine zur Selbstverteidigung erhöhen, sondern gleichzeitig auch die Kontrollmöglichkeiten der unterstützenden Länder verringern. So lange sich die Interessen in sehr hohem Maße decken, wie dies heute der Fall ist, erscheint das als unproblematisch. Dies kann sich im weiteren Verlauf des Krieges jedoch ändern; die gelieferten Waffen werden bleiben.
Waffenlieferungsdebatte ohne reflexartige Moralkeule
Wenn deutsche Politik (und der öffentliche Diskurs hierüber) ausschließlich moralischen Gerechtigkeitsargumenten folgt, sind Grenzen für Waffenlieferungen Heuchelei. Wenn deutsche Politik jedoch – neben einem klaren moralischen Kompass, wer Aggressor und wer Opfer ist – deutsche Interessen diskutiert, kann es politische Entscheidungen geben, die sagen: Wir liefern Kampfpanzer, um die Ukraine darin zu bestärken, ihr Land in den Grenzen von vor 2014 zu befreien. Man kann jedoch auch sagen: Das Risiko, dass deutsche Panzer auf die Krim rollen, ist zu groß als dass es im deutschen Interesse liegen kann und deshalb werden sie nicht geliefert.
Diese Politisierung von Waffenlieferungen ermöglicht eine Debatte – ohne reflexartige Moralkeule. Welche Entwicklungen sind im deutschen Interesse? Und welche sind es nicht? Weil die Antworten nicht klar sind, kann wieder über Alternativen diskutiert werden; und gerade so essenzielle Fragen verdienen einen ernsthaften Streit, der weniger auf medial attraktiven Reflexen beruht, sondern sich auch einmal bemüht, politische Entscheidungen vor dem Hintergrund von möglichen langfristigen Ergebnissen zu verstehen. Auch das ist Ethik, Verantwortungsethik.
Sehr guter Beitrag.
Genau diese Frage nach dem “wofür” unseres Handelns und seiner staatspolitisch zweifelsfreien Zweckbestimmung ist es, die wir für unseren Verteidigungsbei-stand für die Ukraine beantworten müssen.
Wichtiger Beitrag. Es geht allerdings nicht um eine “Politisierung” der Panzerlieferungen, sondern um ihre Konditionierung im Rahmen einer politischen Strategie. Doch sowohl die Strategie als auch eine Konditionierung ist die Bundesregierung bisher schuldig geblieben. Sie überlässt – zumindest nach außen hin – die Zielbestimmung allein der Ukraine und macht sich damit von der ukrainisch-amerikanischen Kriegsführung abhängig. Dass die USA Einfluß nehmen, ist vielfach belegt, siehe z.B. Washington Post https://www.washingtonpost.com/world/2023/02/09/ukraine-himars-rocket-artillery-russia/