Was „weiße“ Rechtswissenschaft jetzt tun kann
Vom schöpferischen Widerstand des Rechts
Trayvon Martin, Michael Brown, Alton Sterling, Botham Jean, Atatiana Jefferson, Ahmaud Arbery, George Floyd. Das sind Namen afroamerikanischer Opfer von Polizeigewalt und hate crimes. Mahnend stehen sie für rassistische Gewalt, der sich people of color ausgesetzt sehen.
Die globale Öffentlichkeit interessiert sich für diese Realität wie nie zuvor. Handykameras tragen Vorgänge, die in den USA jahrhundertelange Tradition haben, über die Grenzen Amerikas hinaus.
Auch die deutschsprachige Welt reagiert. Doch wenn hierzulande US-amerikanische Entwicklungen aufgegriffen werden, geschieht es oftmals überspitzt und oberflächlich. Debatten werden schlicht importiert, ohne ihren spezifisch amerikanischen Kontext zu bedenken. Das droht nun auch für die Rassismus-Debatte.
Während ein Teil der Bundesrepublik sich in einer Retropie verortet, in der brave Gendarmen Störenfriede jagen, sagt sich der andere, bei uns sei alles genauso wie in den USA, die Polizei – womöglich der ganze Staat – eine fundamental rassistische Institution. Über die sozialen Netzwerke des urbanen Bürgertums schwappt eine wokeness-Welle. Ein Aktionismus greift um sich, der in dieser Form wenig verändern wird, sondern im Gegenteil die Gräben vertieft und das Gespräch von der auch in Deutschland nötigen Debatte mit eigenen Akzenten ablenkt.
Die globalen Unternehmen, längst geübt darin, sich den black struggle anzueignen, münzen die Tragödien in Marketing um: Die hier im ersten Satz genannten Namen schwarzer Opfer machte sich etwa kürzlich McDonald’s zunutze. Es verwandelte die Symbole rassistischer Gewalt in einen Werbeslogan, der sich hinter „Food, folks and fun“ und „I’m lovin‘ it“ einreihen lässt.
Wissen um die Un-Ordnung der Welt
Anders dagegen die Situation bei den seit jeher Betroffenen. Manch einer mag sich an die Eingangsworte Adornos im SPIEGEL-Interview von 1969 zur Studentenbewegung erinnert fühlen:
„SPIEGEL: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …
ADORNO: Mir nicht.“
Uns nicht. Die Prozesse, die sich nun in gesteigerter Form in den USA beobachten lassen, sind uns schon lang bekannt. Was dort gerade greifbar hervortritt, scheint Martin Luther Kings hoffnungsvollen Ausspruch, „the arc of a moral universe is long, but it bends toward justice“, den jeder gebildete Amerikaner kennt, zu widerlegen. Dennoch sollte man den Kairos nicht verstreichen lassen, das Wissen von people of color um die Un-Ordnung der Welt in eine dafür zunehmend sensibilisierte Öffentlichkeit zu tragen.
Auch die deutschsprachige, „weiße“ Rechtswissenschaft kann dabei eine Rolle erfüllen. „Weiß“, das meint hier nicht, dass jede Person, die sich an der deutschen Rechtswissenschaft beteiligt, einer (ohnehin nicht biologisch realen) „rassischen“ Kategorie des „Weißen“ unterfällt. Aber es gibt in jedem Diskurs Prozesse, die das Sagbare steuern und selektieren. Nicht weil „weiße“ Rechtswissenschaftler in verrauchten Hinterzimmern minutiös planen, wie die Hegemonie des weißen Mannes zu bewahren sei. Sondern, weil sie in ihren Erfahrungen und Perspektiven schlicht anders sozialisiert sind als people of color und dem Diskurs ihr Vokabular aufprägen. So entstehen spezifische Haltungen zum status quo, die häufig in der Rechtsdogmatik zusammenlaufen. Sie stellt (je nach Spielart mindestens teilweise) den Anspruch der Objektivität und Politikfreiheit – und erfüllt damit ohne Frage für das Rechtssystem eine ganz wesentliche Funktion, zu der etwa gehört, sich dem ständigen Wertungs- und Rechtfertigungszwang offen politischer Entscheidungen zu entziehen. In dieser Funktionsweise liegt aber zugleich oftmals ein Ausschluss marginalisierter Perspektiven, die eher auf Veränderung drängen sowie ein Verschleiern der Wertungen und Standpunkte der Rechtswissenschaft.
Solange nicht mehr people of color in den deutschen Universitätsbetrieb gelangen – die Zeichen stehen so nicht –, wird sich das nicht ändern lassen. So perpetuieren diese Prozesse im Fall der Rechtswissenschaft eine Hegemonie der „weißen“ (und männlichen) Perspektive.
Diesem Feld eine hilfreiche Rolle im Rassismus-Kontext zuzubilligen, mutet kontraintuitiv an. Dennoch kann diese „weiße“ Rechtswissenschaft jetzt nützlich sein. Sie kann ein groß angelegtes und womöglich folgenreiches Projekt der Selbstaufklärung und Perspektiverweiterung antreten. Zwei komplementäre Handlungsoptionen der Rechtswissenschaft werden im Folgenden umrissen: eine, die sich auf ihre Theorie, und eine andere, die sich auf ihre Rolle im universitären Gefüge bezieht.
Perspektiverweiterungen der „weißen“ Rechtswissenschaft
Für die erste Handlungsoption wird es darum gehen, in der Rechtswissenschaft bereits vorhandene Ansätze, die marginalisierte Perspektiven einbeziehen, behutsam in den „Mainstream“ hineinzutragen, ohne dabei unreflektiert spezifisch US-amerikanische Blickwinkel zu übernehmen. Die Rechtswissenschaft kann dabei eigene, bislang eher marginalisierte Wissensbestände und solche der Nachbardisziplinen aufgreifen.
Die Anschauungsbeispiele sind zahlreich. Drei davon werden im Folgenden kurz skizziert – die Ausführungen bleiben an dieser Stelle notwendigerweise nur Andeutungen; sie weiter zu erkunden könnte zur Aufgabe der nächsten Zeit werden.
Erstens kann die Polizei als Beispiel dienen. Wird sie in den USA – wohl zurecht – als fundamental rassistische Institution scharf angegangen, bedarf es andernorts einer Polizeiwissenschaft, die den Ursprüngen der Polizei in lokalen Studien nachspürt und die historischen Erkenntnisse in das Verständnis des modernen Polizeirechts einordnet. Wenn Angst und Prävention empfundener Gefahren zunehmend zu Prinzipien politischer Sinngebung unserer Gesellschaft werden, kann das Wissen um die Funktionsweisen von Polizei in verschiedenen historischen Konstellationen dabei helfen, auch ihre jetzige Rolle kritisch zu reflektieren. Wo eine prädominant „weiße“ (im obigen Sinn) Rechtswissenschaft bspw. polizeiliche Befugnisse v. a. dogmatisch detailreich untersucht – und das ist sicher auch notwendig und ertragreich –, könnte ein stärker minoritär geprägter Blick dazu beitragen, die tendenziell affirmative Haltung, die eine solche Polizeirechtsdogmatik trägt, zu hinterfragen.
Zweitens kann etwa die Rechtsgeschichte die noch unzureichend beleuchteten Zusammenhänge zwischen dem modernen Staatsangehörigkeitsrecht und dem deutschen Kolonialismus erhellen. Der Kolonialismus bewirkte eine „unscheinbar anmutende, aber in ihren Konsequenzen lange nachwirkende Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts“, die erst „durch ihren kolonialen Kontext verständlich wird“. Der Umschwung vom ius soli zum ius sanguinis und die Folgen dieser Verschiebung, die noch in den 1990ern im Zusammenhang mit den „Aussiedlern“ hohe praktische Relevanz hatten, ist eng mit der deutschen Kolonialgeschichte verbunden. Das birgt Lektionen, auch für das heutige deutsche Selbstverständnis von Staatsbürgerlichkeit und seine potentiell exkludierenden Effekte.
Drittens ließen sich auf einer noch höheren Abstraktionsebene Bausteine einer Demokratie- und Verfassungstheorie herausgreifen, die „differenzorientiert und postidentitär“ konzipiert sind. Anleitung kann eine solche Theorie suchen bei people of color, die selbst gerade nicht in eine der reichlich simpel konstruierten „rassischen“ Gegensätze wie „schwarz“ und „weiß“ fallen und etwa aus Feldern wie der queer theory lernen, wie die Essentialismusfalle in der rechtlichen Rekonstruktion von Identitäten vermieden werden kann. In diesem Kontext ließen sich auch die Eigenlogiken minoritärer Praktiken ergründen und Öffnungen des Rechts ihnen gegenüber diskutieren, wie sie etwa schon von den Freirechtslehren des frühen 20. Jh. erkundet wurden (nicht ohne Zufall sind deren Vertreter häufig jüdischer Herkunft gewesen).
Diese Pfade sind noch vergleichsweise wenig betreten. Aber sie sind es wert, beschritten zu werden, denn auf ihnen lässt sich rechtsimmanentes und zugleich kritisches Denken vorführen – eine seltene Konvergenz.
Dass also hier mit Theorie (i. w. S.) auf das durchaus praktische Problem struktureller und institutioneller Ungleichbehandlungen bestimmter Menschen geantwortet wird, scheint merkwürdig. Doch „we need useless theory more than ever today“,wie Slavoj Žižek üblich plakativ formuliert. Oder wieder mit Adorno:
„SPIEGEL: Wie wollen Sie aber die gesellschaftliche Totalität ohne Einzelaktionen ändern?
ADORNO: Da bin ich überfragt. Auf die Frage ‚Was soll man tun‘ kann ich wirklich meist nur antworten ‚Ich weiß es nicht‘. Ich kann nur versuchen, rücksichtslos zu analysieren, was ist.“
Es ist kein Zufall, dass hier wiederum Adornos SPIEGEL-Interview bemüht werden kann, war der Frankfurter Philosoph doch selbst geprägt von minoritären Erfahrungen der Vertreibung und gebrochenen Zugehörigkeit.
Schon um überhaupt Gehör zu finden im „weißen“ Mainstream der Jurisprudenz, sollte man sich dabei nicht in den performativen Widerspruch einer totalen Rechtskritik begeben. Stattdessen geht es um eine schöpferische, experimentierende und auch kleinteilige Theorie, die multiperspektivisch und synkretisierend bereits vorhandene Wissensbestände aufgreift und versucht im aktuell günstigen Moment damit den Mainstream zu beeinflussen. Gleichzeitig sollte die „weiße“ Rechtswissenschaft für solche Ansätze offener sein.
Martin Luther King sprach 1960 vom schöpferischen Widerstand, den schwarze Bürgerrechtler*innen leisteten, um die Segregation zu überwinden. Dass das Recht für den Abbau von Ungleichheit eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Die Rechtswissenschaft kann darin die eben skizzierte Funktion einnehmen und zum schöpferischen Widerstand des Rechts beitragen.
Universität als safe space
Das führt zur zweiten, komplementären Handlungsoption der „weißen“ Rechtswissenschaft, die sich auf ihre Stellung im universitären Gefüge bezieht. Sie sollte sich dafür einsetzen, die Universität als Ort der Erprobung offener Lebens- und Denkweisen zu erhalten.
Das wirkt erneut unerwartet. Ausgerechnet die Universität, diese Eliten(re-)produktionsstätte mit ihren Zugangshürden und Ausschlussmechanismen soll der Ungleichheit abhelfen können? Doch häufig waren es die Universitäten, von denen maßgebliche Impulse zur Überwindung von Ungleichheiten ausgingen. Das Wissen darum, was es braucht, um Diskriminierungen abzubauen wurde regelmäßig zuerst im universitären Kontext gewonnen. Richard Rorty nannte die Universität nicht ohne Grund einen der „most civilized sectors of […] life“. In Jacques Derridas Worten braucht es zu ihrer Erhaltung aber ein „Bekenntnis zum Glauben an die Universität und, in ihr, zum Glauben an die Humanities von morgen“, an die „unbedingte Universität“. In ihr ist ein akademischer Raum geschaffen, der jedem externen Zugriff entzogen ist. Diese Idee der Universität muss ständig reiteriert werden –, dass der aktuelle Zustand der Universitäten im deutschsprachigen Raum gerade im globalen Vergleich verhältnismäßig positiv einzustufen ist, entlastet nicht davon, ihn dauerhaft zu verteidigen.
Dazu wird auch gehören, das viel (und teils wohl zurecht) heruntergemachte Konzept der Universität als safe space produktiv zu rehabilitieren. Es wird nicht darum gehen, eine völlig kritik- und meinungsfreie Sphäre zu schaffen, sondern im Gegenteil ein Experimentieren mit – auch gegenläufigen –Selbstbeschreibungen zuzulassen.
Unterm Strich
Das Resümee fällt kontraintuitiv aus: Zähe theoretische Beschäftigung mit lokalen (horribile dictu: nationalen) Gegebenheiten durch – nach wie vor vorherrschend – „weiße“ Wissenschaft an den mit Zugangshürden versehenen Universitäten. Hier wie dort ist keine Katharsis in Sicht.