Weder Burnout-Attest noch Jodel-Diplom
Vom Reformbedarf in der juristischen Ausbildung, eine Erwiderung
Wer sich anschickt, ein System zu ändern, das in seinen wesentlichen Zügen seit 153 Jahren unverändert geblieben ist und dessen Einführung damit länger zurück liegt als die Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles, der muss mit Abwehrreflexen rechnen. Denn spricht nicht gerade diese hervorstechende Beständigkeit der juristischen Ausbildung für die Beibehaltung des jetzigen Systems? So schlecht kann etwas, das schon immer so gemacht wurde, ja nicht sein. Oder?
Die Debatte, die sich an dem am 29.06.2022 in der FAZ erschienenen Artikel „Der Bachelor ist ein Loser-Abschluss“ von Tiziana Chiusi entzündete, zeichnet überwiegend ein anderes Bild. Die Jura-Professorin wendet sich in dem Artikel gegen „selbst ernannte Reformer der juristischen Ausbildung“, die Unsicherheit und Zweifel in Hinblick auf das Staatsexamen in die Öffentlichkeit trügen. Gemeint ist damit wohl unter anderem die breit angelegte Kampagne iur.reform, die von Studierenden, Referendar:innen und wissenschaftlichem Nachwuchs getragen wird und breite Unterstützung aus der Professorenschaft, der Anwaltschaft und von Verbänden erfährt. Ziel der Kampagne ist es, über eine bis zum 17. Juli 2022 mögliche Abstimmung auf der Seite iurreform.de eine breite Datenlage zu schaffen, um ein umfassendes Bild davon zeichnen zu können, wie Studierende, aber auch Professor:innen, Praktiker:innen und Referendar:innen den Reformbedarf in der juristischen Ausbildung einschätzen. Dabei ist die Einführung eines integrierten, das Staatsexamen nicht ersetzenden Bachelor-Abschlusses eine der Thesen, die zur Abstimmung gestellt sind.
Chiusi erweist Debatte einen Dienst
Chiusi, die Vorsitzende des Deutschen Juristen-Fakultätentages ist, erweist der Kampagne einen Dienst mit ihrem an einem Mangel an Sachlichkeit und Argumenten leidenden und durch Begriffe wie „Loser-Abschluss“ und „Jodel-Diplom“ polemisierenden Artikel. Bereits unmittelbar nach seinem Erscheinen führte dieser zu einer Debatte etwa auf LinkedIn und Twitter und rief Kritik aus den eigenen Reihen hervor. Von Kritiker:innen wird ein anderes Bild gezeichnet als das des erfolgreichen, alternativlosen deutschen Modells der juristischen Ausbildung. Hans Michael Heinig, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Georg-August Universität Göttingen und Dekan der dortigen juristischen Fakultät, berichtet auf Twitter etwa, dass juristische Fakultäten zunehmend sehr gute Studieninteressierte nicht erreichen würden, weil diese von den Examensbedingungen abgeschreckt werden. Helmut Aust, Professor für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung der Freien Universität Berlin tritt Chiusis Einordnung des Bachelor of Laws (LL.B.) mit einem Hinweis auf die Erfahrungen mit diesem an der FU Berlin entgegen: Diese seien sehr gut; der LL.B. mindere die Prüfungsangst vor dem Staatsexamen. Sogar von Standortvorteil gegenüber anderen Universitäten ist in der Twitter-Diskussion die Rede, was in Hinblick auf die Konkurrenz der Universitäten um Studienanfänger:innen aufhorchen lassen sollte.
Dass die aktuelle Volljuristenausbildung das non plus ultra ist, ist mithin keinesfalls unumstritten oder gar „herrschende Meinung“. Die Reform der juristischen Ausbildung ist vielmehr gesellschaftlich dringend geboten.
Studienabbrüche, chronischer Stress und Diskriminierung – Reformgründe gibt es viele
- Wie auch in der Pflege oder im Handwerk steuern wir auch in den juristischen Berufen auf einen besorgniserregenden Fachkräftemangel zu. Nach einer im Jahr 2018 veröffentlichten Studie von PwC zum Fachkräftemangel im öffentlichen Sektor werden im Jahr 2030 76.000 Stellen für Jurist:innen nicht besetzt werden können. Justiz und öffentliche Verwaltung werden in einem harten Konkurrenzkampf um den juristischen Nachwuchs stehen. Der Mangel an Volljurist:innen – und nicht eine Reform von deren Ausbildung – wird zu einer Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Bereits heute steht der Rechtsstaat durch die ungenügende personelle Ausstattung der Justiz unter Druck. Eine überlange Dauer von Verfahren und die damit verbundenen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten können wir schon gegenwärtig beobachten. Handlungsfähigkeit und Verlässlichkeit der Verwaltung sind durch den drohenden Personalmangel bedroht. Insofern sollten wir alles daran setzen, Studieninteressierte für ein rechtswissenschaftliches Studium zu gewinnen, die Zahl der Studienabbrecher:innen zu verringern und die Zahl derer, die nach dem ersten Staatsexamen nicht in den Vorbereitungsdienst eintreten – nach den zuletzt veröffentlichten Statistiken des Bundesamtes für Justiz für die Jahre 2017 bis 2019 gehen jedes Jahr von bundesweit rund 9.500 Absolvent:innen um die 2.000 zwischen dem ersten und zweiten Staatsexamen verloren – zu reduzieren. Die Frage nach den Gründen für Studienabbruch und die Entscheidung gegen das Referendariat führt unweigerlich zum Thema psychische Belastung durch das Studium – ob man diese aus einer subjektiven Position für nachvollziehbar hält (oder wie Frau Chiusi eben nicht) ist dabei unerheblich.
- Die Zahlen sprechen nämlich für sich: Wenn beispielsweise 61 Prozent der Studierenden der Universität Trier in der Kampagne Herbst 2021 das erste juristische Staatsexamen nicht bestanden haben, dann ist die Angst, durchzufallen und am Ende nach Jahren des Studiums nur mit Abitur dazustehen, begründet und nicht durch Repetitorien eingeredet. Die nicht nur daraus, sondern auch aus der Stoffmenge resultierende psychische Belastung der Studierenden ist zudem empirisch belegt: Die Studie „JurSTRESS – Regensburger Forschungsprojekt zur Examensbelastung bei Jurastudierenden“ der dortigen Fakultät für Humanwissenschaften bestätigte, dass bei Studierenden in der Examensvorbereitung „besorgniserregende Belastungsintensitäten“ feststellbar sind und ein nicht unerheblicher Teil der Examenskandidat:innen schwer belastet ist. 59 Prozent der Studienteilnehmer:innen galten mindestens zu einem Messzeitpunkt als „auffällig“ hinsichtlich der chronischen Stressbelastung, 48 Prozent hinsichtlich der Ängstlichkeit und 19 Prozent hinsichtlich der Depressivität. Als Erklärung für festgestellte Veränderungen in der Cortisolaufwachreaktion der Teilnehmenden nannten die Studienautor:innen einen chronischen Erschöpfungszustand, in dem sich die Studierenden befinden. Die enorme psychische Belastung, die mit der juristischen Ausbildung einhergeht, ist mithin Fakt. Daher ist die Debatte, wie wir das Staatsexamen vom „Burnout-Attest“ zum Nachweis juristischer, in der Praxis geforderter Kompetenzen entwickeln können, notwendig. Dies verlangt weder eine Abkehr von den Staatsexamina noch einen Qualitätsverlust. Jedoch muss etwa die Frage sachlich diskutiert werden können, ob die Prüfung einer breiten Fülle an Nebengebieten insbesondere vor dem Hintergrund einer inflationären gesetzgeberischen Tätigkeit und einer Zunahme der Komplexität juristischer Sachverhalte im europäischen Mehrebenensystem noch zeitgemäß ist und die daraus resultierende Belastung der Studierenden tatsächlich zu einem Mehr an Kompetenz führt, während etwa rhetorische Fähigkeiten und Soft Skills weitgehend in der Ausbildung auf der Strecke bleiben. Es verwundert in diesem Zusammenhang, dass von Gegner:innen der Reformbestrebungen einerseits ein Hohelied auf die juristische Ausbildung angestimmt wird, andererseits aber Absolvent:innen nicht zugetraut wird, sich im Bedarfsfall mit den ihnen vermittelten Kompetenzen die in Rede stehenden Rechtsgebiete selbst zu erarbeiten. Genauso inkonsistent ist es, einen integrierten Bachelor als „Jodel-Diplom“ zu bezeichnen, wenn hierfür Kompetenzen und Inhalte abgeprüft werden, die – umfänglicher – im Staatsexamen verlangt werden, das im selben Atemzug gar als „Voraussetzung des wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Erfolgs der Bundesrepublik“ bezeichnet wird.
- Weitere Gründe für den Verlust von juristischem Nachwuchs in der Ausbildung sind Hürden, die sich aus der sozialen Herkunft, einem zugeschriebenen Migrationshintergrund oder dem Geschlecht ergeben. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2017 zeigt etwa, dass die Bildungsherkunft der Eltern immer noch entscheidenden Einfluss darauf hat, ob das Jura-Studium erfolgreich abgeschlossen wird und dass Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern häufiger ihr Studium abbrechen als Studierende aus akademischen Elternhäusern. Die juristische Ausbildung ist insbesondere bei einer angespannten Finanzlage eine Herausforderung: Die Stofffülle lässt wenig Zeit für Nebenjobs. Zu kommerziellen Repetitorien gab es zudem vielerorts lange keine Alternative wie Uni-Rep oder Examensvorbereitungskurs. Eine ernstzunehmende Vorbereitung auf das Zweite Staatsexamen wird in vielen Bundesländern auch den Bezahl-Repetitorien überlassen. Und wenn Frau Chiusi schreibt, dass man in anderen Ländern nach dem Jura-Studium ein zweijähriges, schlecht bezahltes Praktikum machen müsse, an dessen Ende ein Examen zu bestehen ist, dürften sich viele Referendar:innen fragen, worin der Unterschied zum deutschen System liegen soll. Mit einer Brutto-Unterhaltsbeihilfe von beispielsweise 1209,21 Euro in Hamburg und gleichzeitig bestehenden Hinzuverdienstgrenzen bleibt vielen Referendar:innen im Alter von Mitte 20/Anfang 30 nur, die Familie oder den Partner/die Partnerin um finanzielle Unterstützung zu bitten oder einen Antrag auf Wohngeld zu stellen.
Eine im Jahr 2018 veröffentlichte Studie zu Geschlechts- und Herkunftseffekten bei der Benotung juristischer Staatsprüfungen des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern hat zudem gezeigt, dass die vielfach von Absolvent:innen empfundene Willkür in mündlichen Prüfungen existiert und die Chancen in den mündlichen Staatsexamensprüfungen nicht für alle gleich sind: Frauen und Personen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund schneiden signifikant schlechter ab. Zumindest die geschlechtsbedingte Diskriminierung entfällt, wenn mindestens eine Frau auf der Prüferbank sitzt. Vor dem Hintergrund dieses Befundes und der Tatsache, dass vielerorts rein männliche besetzte Prüfungskommissionen die Regel sind, ist die Vereinbarung im Koalitionsvertrag von CDU und Bündnis90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen sehr zu begrüßen, wonach künftig eine gemischtgeschlechtliche Besetzung der Prüfungskommissionen erfolgen soll.
Der status quo ist eine Gefahr für unseren demokratischen Rechtsstaat
Auch dieser Befund zeigt jedenfalls, dass es an der Realität vorbeigeht, die Forderung nach einem Reformdiskurs zu einem Angriff auf den wirtschaftlichen Erfolg und die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik hochzustilisieren und Studierende als schlicht zu weinerlich darzustellen. Vielmehr stellt der status quo vor dem Hintergrund der absehbaren demografischen Entwicklung eine Gefahr für unseren demokratischen Rechtsstaat dar. Für den Einzelnen sind die persönlichen gesundheitlichen Kosten der juristischen Ausbildung mitunter hoch. Dies ist nicht nur aus einer empathischen Sicht heraus bedauerlich, sondern auch aus einer ökonomischen Perspektive zu hinterfragen. Entsprechend fordert nicht nur die Studierendenschaft, sondern ein breites juristisches Bündnis über Reformoptionen zu sprechen. Allein der Schulterschluss zwischen Wissenschaft und Lehre, Praxis, großen Teilen der Politik, Referendar:innen und Studierenden sollte aufhorchen lassen. Auch dass die iur.reform-Abstimmung über Reformvorschläge bereits über 10.000 Teilnehmer:innen verzeichnet, bezeugt den Reformdruck. Statt Bachelor-Studierende pauschal herabzusetzen, wäre es daher gut, in einen sachlichen Diskurs einzutreten, in dem auch Bedenken ernstgenommen werden sollen, um zu einer bestmöglichen Lösung zu kommen. Das entspricht unserem demokratischen Miteinander. Es ist aber auch in der juristischen Praxis unverzichtbar, dass wir einander zuhören, die Argumente der Gegenseite ernst nehmen, sachlich entkräften und einen für alle Seiten tragbaren Kompromiss ausloten – im Diskurs miteinander sollten wir diese Fähigkeiten, zu denen uns unsere Ausbildung zumindest befähigen soll, nicht über Bord werfen. In diesem Sinne sollten wir offen und sachlich darüber reden, was sich ändern muss und wie eine Reform aussehen kann.
Der Beitrag gibt die private Meinung der Autorin wieder.
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