Die Wehrpflicht ist nicht unwesentlich
Warum der Gesetzesentwurf zur Wehrpflicht verfassungswidrig ist
Wiederbewaffnung und Kriegsdienstverweigerung – das waren die Themen großer politischer Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik. Doch ob künftig ganze Jahrgänge junger Männer ein Jahr Wehrdienst leisten müssen und damit erheblich in ihren Grundrechten beschränkt werden,1) das soll künftig die Bundesregierung durch eine Rechtsverordnung bestimmen können. Dies sieht jedenfalls der Gesetzesentwurf vor, den die Bundesregierung Ende August beschlossen hat. Über das „ob“ der Wehrpflicht kann aber nicht durch die Verwaltung entschieden werden. Das ist Sache des Gesetzgebers.
Zur Wiedereinführung der Wehrpflicht hat die Bundesregierung den Entwurf für das sogenannte Wehrdienst-Modernisierungsgesetz (WDModG) vorgelegt. Die Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes über die Wehrpflicht, §§ 3 bis 52 des Wehrpflichtgesetzes, sollen künftig nicht nur – wie bisher – im Spannungs- oder Verteidigungsfall gelten. Die Wehrpflicht soll auch dann wieder aktiviert werden, wenn die Bundesregierung es will: Auf der Grundlage des neuen § 2a des Wehrpflichtgesetzes kann sie durch Rechtsverordnung bestimmen, dass Wehrpflichtige zum Grundwehrdienst nach § 5 Wehrpflichtgesetz einberufen werden. Dieser Rechtsverordnung muss der Bundestag zustimmen. Voraussetzung: Die verteidigungspolitische Lage erfordert zwingend einen schnellen „Aufwuchs der Streitkräfte“, der auf freiwilliger Grundlage nicht erreichbar ist. Gleichzeitig soll die Bundesregierung ermächtigt werden, die Dauer der Wehrpflicht durch Rechtsverordnung festzulegen: mindestens sechs Monate Dienst, höchstens zwölf Monate.
Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundestages
Kann also die Wehrpflicht durch die Verwaltung eingeführt werden? Reicht es, dass die Rechtsverordnung der Zustimmung des Bundestags bedarf?
Die im Gesetz vorgesehene Regelungstechnik einer Rechtsverordnung, der der Bundestag zustimmen muss, ist für sich genommen nicht ungewöhnlich. Sie ist im Umweltrecht sogar weit verbreitet. Etwa wenn es gilt, zu bestimmen, welche Stoffe in das Grundwasser eingeleitet werden dürfen (§ 48 Abs. 1 Satz 3 Wasserhaushaltsgesetz) oder zur Festlegung von Kapazitätsreserven bei Übertragungsnetzen (§ 13e Abs. 5 Satz 4 Energiewirtschaftsgesetz). Aber kann künftig das Leben ungedienter Wehrpflichtiger genauso wie die Kapazitätsreserven bei Stromleitungen durch Rechtsverordnung geregelt werden?
Bislang ist die Wehrpflicht durch den Gesetzgeber geregelt. Das Grundgesetz hingegen verhält sich im Hinblick auf diese Frage „neutral“ – anders als gelegentlich in der politischen Diskussion behauptet. Es lässt zwar die Einführung einer Wehrpflicht zu, trifft aber gerade keine Entscheidung, ob die Bundeswehr eine Freiwilligenarmee oder eine Armee von Wehrpflichtigen ist (BVerfG, Urt. vom 13. April 1978, BVerfGE 48, 127-206, Rn. 61). Seit der Neuregelung der Wehrpflicht durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 besteht eine bedingte Wehrpflicht. Sie tritt im Spannungs- oder Verteidigungsfall ein. Die Entscheidung, ob ein Spannungs- und Verteidigungsfall vorliegt, trifft der Bundestag. Damit der Bundestag den Spannungsfall ausrufen kann, der dem Verteidigungsfall regelmäßig vorausgehen dürfte, ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erforderlich (Art. 80a Abs. 1 Satz 2 GG). Wann junge Männer Wehrdienst leisten müssen, hat damit der Gesetzgeber durch das Wehrpflichtgesetz selbst bestimmt.
Diese Aussetzung der Wehrpflicht war eine ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung. Damals hatte die Bundesregierung noch ein angemessenes Problembewusstsein und sah, wie sich der Begründung ihres Gesetzentwurfs entnehmen lässt, den Gesetzgeber in der Pflicht, die Entscheidung über die Wehrpflicht auf Grundlage „einer auf den verfassungsrechtlichen Auftrag der Bundeswehr bezogenen umfassenden Abwägung der Grundrechte der jungen Männer, sicherheits- und gesellschaftspolitischer Gesichtspunkte sowie wirtschafts- und allgemeinpolitischer Aspekte“ (wie aufgeführt vom BVerfG in BVerfGE 48, 127-206, Rn. 61) zu treffen. Derart gewichtige Entscheidungen soll künftig die Regierung aber selbst treffen dürfen.
Zustimmung zu einer Rechtsverordnung ersetzt keine gesetzliche Regelung
Der Zustimmungsvorbehalt ändert nichts an der Natur dieses exekutiven Akts. Anders als im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren, bei dem im Parlament, einem „Ort politisch pluraler Politisierung“,2) gestritten wird und die Opposition eingebunden ist, findet die Verordnungsgebung ohne Opposition statt. In einem Gesetzgebungsverfahren werden die Gesetze gleich dreimal im Bundestag beraten: In der ersten Lesung wird der Entwurf vorgestellt und in einer Grundsatzdebatte zwischen den Parteien im Bundestag diskutiert. Anschließend befasst sich der Ausschuss mit dem Entwurf und hört gegebenenfalls Sachverständige an. In der zweiten Lesung werden schließlich auch etwaige Änderungsvorschläge der Opposition erörtert. Die Opposition kann also mehrfach ihre Position zu dem Gesetzentwurf deutlich machen und auch eigene Änderungsvorschläge einbringen. Nichts von alledem gilt, wenn es allein darum geht, ob der Bundestag dem Entwurf einer Rechtsverordnung der Bundesregierung zustimmt.
In der Ordnung des Grundgesetzes trifft deshalb das vom Volk gewählte Parlament die grundlegenden Entscheidungen. In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht daher aus grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten, also der Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseinschränkungen, und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einerseits sowie dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) andererseits die Verpflichtung des Gesetzgebers abgeleitet, in allen grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (BVerfG, Urt. vom 19. September 2018, BVerfGE 150, 1-163, Rn. 191).
Entscheidungen von besonderer Tragweite müssen deshalb in einem politisierten Verfahren getroffen werden, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten. Dabei soll die Volksvertretung in öffentlicher Debatte die Notwendigkeit und das Ausmaß von Grundrechtseingriffen klären. Geboten ist ein Verfahren, das sich durch Transparenz auszeichnet und das die Beteiligung der parlamentarischen Opposition gewährleistet.
Der Vorbehalt des Gesetzes gilt also bei Eingriffen in Grundrechte und – unabhängig von einer solchen Grundrechtsrelevanz – bei allen für die Gesellschaft wesentlichen Fragen. Bei der Einführung der Wehrpflicht geht es um beides.
Ob eine Wehrpflicht besteht, ist bereits deshalb eine wesentliche Frage, weil sie wesentlich für die Verwirklichung von Grundrechten von jungen Männern ist. „Wesentlich“ bedeutet „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“, weshalb etwa auch die Einführung des Sexualkundeunterrichts vom Gesetzgeber selbst geregelt werden muss (BVerfG, Beschl. vom 21. Dezember 1977, BVerfGE 47, 46-85, Rn. 79). Mit der Wehrpflicht gehen umfassende Grundrechtsbeschränkungen einher, wie sich bereits dem § 51 Wehrpflichtgesetz entnehmen lässt. Denn dort werden die mit der Wehrpflicht eingeschränkten Grundrechte zitiert: „Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes), der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 des Grundgesetzes) werden nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt.“ Zumindest über das „ob“ einer solchen Beschränkung der Grundrechte kann nur der Gesetzgeber entscheiden. Denn durch eine Rechtsverordnung können zwar Modalitäten einer gesetzlichen Regelung näher bestimmt werden, aber nicht „ob“ eine gesetzliche Regelung überhaupt in Kraft gesetzt wird (BVerfG, Beschl. vom 8. Juni 1988, BVerfGE 78, 249-289, Rn. 57).
Auch unabhängig von der Grundrechtsrelevanz handelt es sich bei der Wehrpflicht um eine für die Gesellschaft wesentliche Frage. Deshalb folgt auch aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) die Notwendigkeit einer Entscheidung des Gesetzgebers über das „ob“ der Wehrpflicht. Der Gesetzgeber muss danach selbst in allen grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen treffen (BVerfG, Urt. vom 19. September 2018, BVerfGE 150, 1-163, Rn. 191). Die Wahl zwischen der Wehrpflicht und der Freiwilligenarmee ist eine solche grundlegende staatspolitische Entscheidung. Sie betrifft wesentliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. Bei dieser Entscheidung obliegt es dem Gesetzgeber, neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische sowie wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gründe von sehr verschiedenem Gewicht zu bewerten und gegeneinander abzuwägen (BVerfG, Urt. vom 13. April 1978, BVerfGE 48, 127-206, Rn. 61), wie das BVerfG selbst festgestellt hat. Als der Gesetzgeber 2011 die Wehrpflicht in der damaligen Form aussetzte, fanden sich diese Formulierungen noch in der Gesetzesbegründung wieder (Bundesrat, Drucksache 859/10, S. 18) – im Falle einer Aktivierung der Wehrpflicht durch eine Verordnung würde sich der Gesetzgeber, also der Bundestag, nicht im gleichen Maße mit dem Für und Wider einer Wehrpflicht auseinandersetzen können.
An der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung ändert sich auch nichts dadurch, dass die Rechtsverordnung der Zustimmung des Bundestages bedarf. Eine solche schlichte Parlamentsbeteiligung kann ein Gesetzgebungsverfahren, dessen besondere Öffentlichkeitsfunktion gerade ein gewichtiger Grund für die Anwendung des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts ist, nicht ersetzen (BVerfG, Beschl. vom 24. März 2021, BVerfGE 157, 30-177, Rn. 265).
Rechtfertigen lässt sich die Zuweisung an die Regierung auch nicht mit einer der Bundesregierung zukommenden Einschätzungsprärogative in außenpolitischen Fragen, also einer genuinen Regierungsaufgabe (BVerfG, Beschl. vom 25. Oktober 1991, Rn. 11, juris). Dies mag im Hinblick auf das außenpolitische Handeln zutreffen, berechtigt aber nicht zu Grundrechtseingriffen im Inneren und enthebt nicht den Gesetzgeber von seiner Aufgabe, verteidigungspolitische Erfordernisse mit anderen Gesichtspunkten abzuwägen, etwa der Frage, ob künftig ganze Jahrgänge junger Männer dem Wirtschaftsleben als Arbeitnehmer oder Konsumenten entzogen werden.
Die Wehrpflicht kann also nicht durch eine Rechtsverordnung „aktiviert“ werden. Wer dem Kriegsdienst kritisch gegenübersteht, kann sich nur wünschen, dass der Gesetzgeber diese evident verfassungswidrige Regelung beibehält.