Dem Freistaat zum Gefallen: über Udo Di Fabios Gutachten zur staatsrechtlichen Beurteilung der Flüchtlingskrise
Unter großer medialer Aufmerksamkeit wurde in dieser Woche ein von der Bayrischen Staatskanzlei in Auftrag gegebenes Gutachten des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio vorgestellt. Darin wird die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kritisiert und dem Freistaat in Aussicht gestellt, gegen das aktuelle Grenzregime in Karlsruhe erfolgreich zu klagen. Während die Presse damit die Position Bayerns gestärkt sah, bestätigt eine kritische Lektüre diesen Eindruck kaum. Der juristische Gehalt des Gutachtens ist erstaunlich dürftig. Dies gilt sowohl für die staatstheoretische Herleitung einer Pflicht des Bundes gegenüber den Ländern auf wirksame Einreisekontrollen (1.) als auch für die These, dass systemische Defizite des Schengen/Dublin-Systems zu Selbsthilfe- und Gegenmaßnahmen Deutschlands berechtigten (2.).
1.
Das erste zentrale Argument Di Fabios liegt in der Annahme, dass das Grundgesetz die Staatlichkeit der Bundesrepublik und damit auch die Integrität ihrer Staatsgrenzen „voraussetze“ und damit verfassungsrechtlich zu deren Schutz verpflichte. Nun gehört die Idee des Staats als Verfassungsvoraussetzung zu einer alten, aus der monarchischen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts kommenden Vorstellung, die in Teilen der Staatsrechtslehre der 1980 und 1990er wiederbelebt wurde, aber heute in der schlichten Form, die das Gutachten präsentiert, kaum noch vertreten wird. Im Jahr 2008 fand in Erlangen eine Staatsrechtslehrertagung zum Thema „Verfassungsvoraussetzungen“ statt, in der der Staat als Argument in den Einzelreferaten so gut wie keine Rolle spielte. Der Grund dafür ist einfach zu nennen: Es ist unklar, was „voraussetzen“ juristisch bedeuten soll. Der Umstand, dass staatliches Handeln ein Tatbestandsmerkmal des Demokratieprinzips des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist, impliziert als solcher so wenig eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Schutz des Staates, wie der Umstand, dass § 211 StGB den Mörder bestraft, die Praxis des Mordens garantieren soll. Ein solches Argument funktionalisiert umstandslos Tatbestandsvoraussetzungen und normativ geschaffene Institutionen. Aus diesem Grund spielt es im Verfassungsrecht auch keine Rolle. Insbesondere hat das Bundesverfassungsgericht seit seiner Maastricht-Entscheidung immer einen genuin rechtlichen Anknüpfungspunkt gesucht, wonach im Ergebnis die Staatsgewalt zu schützen ist, ohne diese in der Begründung zum Selbstzweck zu erklären. Bedauerlicherweise lässt sich die Tatsache, dass Di Fabios Ansicht umstritten ist, dem Gutachten nicht entnehmen. Das Argument wird vorgetragen, als sei es eine Selbstverständlichkeit oder als würde der Hinweis auf Passagen im Lissabon-Urteil des Verfassungsgerichts ein Argument ersetzen. Wissenschaftlichen Standards genügt das nicht.
Di Fabios Argument hat ein zweites Problem: Denn selbst wenn Staatlichkeit so pauschal verfassungsrechtlich geschützt würde, wie er meint, wäre doch zu klären, wann ihr Bestand so in Frage steht, dass eine Schutzpflicht ausgelöst wird. Seine Formulierung vom „unkontrollierten Zustrom“ (S. 101) lässt das letztlich offen. Denn entweder kann der Bund die Grenzen nicht kontrollieren, dann bringt eine solche Rechtspflicht nichts, weil sie sich nicht erfüllen ließe, oder aber der Bund öffnet die Grenzen freiwillig, dann erscheint es eigenartig, von einem Verlust der Staatlichkeit zu sprechen. Aus dem Prinzip der Staatlichkeit den Schutz des Staates vor seinen eigenen Handlungen herzuleiten und damit die staatliche Handlungsfähigkeit im Namen der Staatlichkeit zu beschränken, ist ein eigenartiges Argument.
Und wo liegt eigentlich Bayern in einem Argument über die deutsche Staatlichkeit? Di Fabio ist sichtlich bemüht, die Staatlichkeit des Bundes mit derjenigen Bayerns so zu verquicken, dass am Ende die eine von der anderen nicht mehr zu trennen ist, und der Freistaat auch prozessual die Rechte des Bundes geltend machen kann. Di Fabio konstruiert ein „besonderes sachliches Näheverhältnis von Bund und Ländern“ im Grenzschutz (S. 61). Das ist erstaunlich, handelt es sich doch um einen der ganz seltenen Kompetenzbereiche, in dem sowohl eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz als auch eine ausschließliche Vollzugskompetenz des Bundes besteht. Warum ein Land ausgerechnet in einem Feld, in dem der Bund einen solch untypisch starken Kompetenzbestand hat, eigene Rechte auf die Staatlichkeit des Bundes erheben sollte, bleibt völlig unklar. In wenigen Regelungsbereichen dürfte die bundesstaatliche Seite von Di Fabios Argument so schlecht funktionieren wie in diesem.
Schließlich, die verfassungsdogmatische Relevanz des staatstheoretischen Arguments einmal unterstellt: Ist die Durchführung von systematischen Personenkontrollen an befestigten Grenzanlagen wirklich eine notwendige Bedingung von Staatlichkeit? Hinweise auf die Drei-Elemente-Lehre Jellineks und den völkerrechtlichen Staatsbegriff gehen in der Sache fehl, denn in beiden Fällen wird zwar die Existenz eines Staatsgebiets, nicht aber seine grenzpolizeiliche Sicherung zum Staatsmerkmal erhoben. Historisch tritt dieses Instrument der Migrationssteuerung in der Entwicklung des modernen Staates vergleichsweise spät auf, in Europa flächendeckend erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs. In weiteren Teilen der Welt ist die grüne Grenze auch heute noch die Regel. Dies beinhaltet keineswegs den Verzicht der Staaten, fremde Staatsangehörige nur selektiv zum eigenen Staatsgebiet zuzulassen und über ihren Status während des Aufenthalts zu entscheiden, es bedeutet jedoch, dass grenzpolizeiliche Maßnahmen kein notwendiges Instrument der Migrationssteuerung sind und in der Praxis bei weitem nicht das wichtigste. Wenn also die Empirie des Staates irgendeine Rolle spielt für die Theorie des Staates, dann müsste das Gutachten an dieser Stelle enden.
2.
Di Fabio interpretiert das Europäische Grenzkontroll- und Flüchtlingsrecht als eine Schönwetterveranstaltung, die auf „optimistischen Grundannahmen“ beruhe und allenfalls „unter günstigen Bedingungen“ funktionieren könne. Spätestens mit den Fluchtbewegungen des Jahres 2015 sei das „im Grunde noch experimentelle europäische System“ gescheitert (S. 77). In dieser Situation stehe der deutsche Staat kraft seiner Souveränität in einer Gewährleistungsverantwortung für die Durchführung effektiver Migrations- und Grenzkontrollen. Das praktische Scheitern „des europäischen Einwanderungs- und Asylsystems“ bzw. – offenbar synonym – „des europäischen Grenz- und Aufenthaltsregimes“ (S. 82 f., 87) rechtfertige es letztlich, dass deutsche Behörden „eine vorläufige, wirksame Grenzsicherung“ an den deutschen Grenzen sicherstellen: „in Eigenvornahme“ der gebotenen Einreisekontrollen (S. 83) und als „Hebel“ gegenüber den Außengrenz- und Transitstaaten, um „politische Blockaden“ aufzulösen (S. 87).
Diese Skizze der Rechtslage ist in ihren Prämissen fragwürdig und führt in ihren Konsequenzen zu scharfen Konflikten mit dem EU-Recht, die nur um den Preis des Austritts aus der Union aufzulösen wären.
Zunächst wäre eine differenzierte Analyse der Frage geboten, an welchen Punkten das Gemeinsame Europäische Asylsystem strukturell nicht funktioniert (ergebnisgleiche Asylverfahren in allen Mitgliedstaaten), welche Regelungslücken es aufweist (Solidaritätsmechanismus) und wo geltendes Recht von einzelnen Mitgliedstaaten nicht beachtet wird (Registrierungspflicht). Namentlich bei der Harmonisierung des materiellen Flüchtlingsrechts dagegen erfüllt das europäische Recht seine Funktion leidlich gut. Es verhindert einen ruinösen Wettbewerb zur Senkung von Asylstandards auf einzelstaatlicher Ebene, etwa bei der unionsrechtlich vorgeschriebenen Anerkennung von Bürgerkriegsflüchtlingen. Auch für das Dublin-System ist eine differenzierte Betrachtung geboten. Kein Krisensymptom oder gar einen Rechtsverstoß stellt es dar, dass Deutschland im Jahr 2015 in erheblichem Umfang in die inhaltliche Prüfung von Asylanträgen eingetreten ist, statt sich um die Klärung der Zuständigkeit anderer Mitgliedstaaten zu bemühen. Ein solcher Selbsteintritt aus pragmatischen Gründen ist von der Dublin-III-Verordnung ausdrücklich vorgesehen. Die Priorität des Dublin-Systems liegt darauf, dass ein Asylsuchender überhaupt in einem Staat ein faires Asylverfahren erhält, in dem er oder sie die Fluchtgründe vorbringen kann. Von einem allgemeinen Systemversagen kann keine Rede sein, hier unterschätzt Di Fabio die Komplexität und Vielgliedrigkeit des geltenden Rechts und beteiligt sich an einem Krisendiskurs, der die Normativität dieses Rechts paradoxerweise selbst beschädigt. Im Übrigen werden von ihm die optimistischen Grundannahmen der angedachten Alternative, die einzelstaatliche Bewältigung der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen, gar nicht erst in die Betrachtung eingestellt.
In einem weiteren, zentralen Punkt geht Di Fabio von falschen Prämissen aus. Das Gutachten unterstellt in seiner Fixierung auf (und staatstheoretischen Überhöhung von) Grenzkontrollen, dass mit deren Wiedereinführung an den Binnengrenzen der EU oder ihrer effektiveren Durchführung an den Außengrenzen Wesentliches für die Steuerung der Flüchtlingsbewegungen gewonnen wäre. Insbesondere scheint Di Fabio der Auffassung zu sein, dass mit Grenzkontrollen ein Recht auf Abweisung von asylsuchenden Migrantinnen und Migranten verbunden sei. Das trifft nicht zu. An den Außengrenzen der EU werden einer pauschalen Zurückweisung regelmäßig menschen- und seerechtliche Verpflichtungen entgegenstehen, die die Gewährung von temporärem Schutz in der EU und die Durchführung eines individuellen Prüfungsverfahrens gebieten. An den Binnengrenzen der EU dürfen zwar nach Maßgabe des Schengener Grenzkodexes vorübergehend Grenzkontrollen durchgeführt werden, für die Einreiseverweigerung gelten aber vorrangig die besonderen Regelungen des Europäischen Asylrechts (Art. 13 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 562/2006). Einschlägig ist hier Art. 3 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, wonach die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag prüfen, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellt wird, und zwar ausdrücklich einschließlich solcher Anträge, die „an der Grenze“ gestellt werden. Anders als die Personenfreizügigkeit an den Binnengrenzen steht dieses Recht auf Zugang zum Asylverfahren nicht unter einem ordre-public-Vorbehalt, der eine temporäre Suspendierung erlaubt.
Soweit der in diesem Zusammenhang genannte § 18 AsylG (Asylantrag bei einer Grenzbehörde) eine andere Aussage trifft, hat dies keine praktische Bedeutung, da die europäische Zuständigkeitsordnung für die Asylverfahren abschließend durch den Unionsgesetzgeber geregelt ist. Bei präziser Lektüre der Norm wird der Vorrang des Europäischen Asylrechts vor dem deutschen Grenzpolizeirecht in § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG auch anerkannt. Es ist ein wesentlicher Gedanken des Dublin-Systems, der sich wie ein roter Faden durch seine Detailregelungen zieht, dass kein Mitgliedstaat sich damit begnügen kann, eine rein negative Zuständigkeitsentscheidung zu treffen, also davon auszugehen, dass „jedenfalls nicht wir“ für die inhaltliche Prüfung eines Asylbegehrens zuständig sind. Will ein Mitgliedstaat einen Asylsuchenden auf die Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat verweisen, muss er die Zuständigkeit des anderen Staates positiv begründen. In diesem Dublin-Verfahren hat der Asylsuchende eigene Rechte und Rechtsschutzmöglichkeiten – und muss zu diesem Zweck zumindest provisorische Aufnahme finden. Die von Di Fabio als Ersatzvornahme und zwischenstaatliches Druckmittel konzipierte Zurückweisung von Asylsuchenden an der deutschen Grenze wäre also ein klarer Verstoß gegen geltendes Recht. Sie würde zu genau der dramatischen Situation führen, die das Dublin-System vermeiden will: dem Hin- und Herschieben von Flüchtlingen zwischen Staaten, von denen sich keiner zur Schutzgewähr bereitfindet (refugees in orbit).
So genau will das Gutachten das offenbar gar nicht wissen, denn sein Autor hält sich mit einer Analyse der Europarechtskonformität seiner Vorschläge nicht auf. Die Berufung auf den „integrationsfesten“ Kern der deutschen Verfassung erfüllt ersichtlich die Funktion, sich von einem Abgleich dessen, was der Autor für verfassungsrechtlich geboten hält, mit dem, was europarechtlich zulässig ist, zu entlasten. Unionsrechtliche Verpflichtungen stehen für Di Fabio offenbar unter einem staatstheoretisch begründeten, überverfassungsrechtlichen Notstandsvorbehalt, wenn entsprechende Maßnahmen zur Selbstbehauptung deutscher Staatlichkeit und damit vermeintlich zur Wahrung des Verfassungsidentität des Grundgesetzes geboten scheinen. Dass es zu den Grundaussagen eben dieser Verfassung gehört, sich für das überstaatliche Recht zu öffnen, hierzu Mitglied in der real-existierenden EU zu sein und ihr Recht als verbindlich anzuerkennen, gerät dabei aus dem Blick.
Wenn es so etwas wie eine Verfassungsidentität der EU gibt, dann gehört zu dieser basic structure doctrine des Europarechts gewiss, dass der völkerrechtliche Grundsatz der Gegenseitigkeit in der EU nicht gilt: Kein Mitgliedstaat kann sich zur Rechtfertigung seiner Verstöße gegen das Unionsrecht auf angebliche Verstöße anderer Mitgliedstaaten oder der EU-Organe berufen. Diese grundlegende Aussage hat der Europäische Gerichtshof erstmals in einem Urteil vom 13. November 1964 getroffen, sie definiert also schon seit mehr als 50 Jahren die Geschäftsgrundlage der Mitgliedschaft in der Union (EuGH, verb. Rs. 90/63 und 91/63, Kommission/Belgien und Luxemburg, Slg. 1964, S. 1329, 1344). Die deutsche Souveränität über die eigenen Staatsgrenzen ist, wie Di Fabio zutreffend schreibt, „vertraglich überlagert“ (S. 87); das Beiwort „lediglich“ ist in einem rechtlichen Diskurs fehl am Platz. Dies schließt es für die Dauer der (verfassungs-)vertraglichen Bindung gerade aus, die von Di Fabio für zulässig erachteten Selbsthilfe- und Gegenmaßnahmen zu ergreifen – gleichviel, ob man es aus einer verfassungsrechtlichen oder europarechtlichen Perspektive betrachtet.
Fazit: Das Gutachten nutzt fragwürdige staatstheoretische Argumente, um den Bund zu europarechtswidrigen Alleingängen anzuhalten, die dieser den Ländern angeblich verfassungsrechtlich schuldet. Das ist steil. Man kann dieses Gutachten auch als Zeugnis einer Verhärtung des politischen Klimas sehen, in dem nun ehemalige Verfassungsrichter ihre hohe Reputation dazu verwenden, einer demokratischen Regierung einen Rechtsbruch zu unterstellen, ohne diesen konkret benennen zu können. Sicherlich nicht bringt dieses Gutachten dagegen eine Absicht der Bayerischen Staatsregierung zum Ausdruck, gegen den Bund zu klagen. Dass eine Klage damit nicht zu gewinnen ist, wissen auch die erfahrungsgemäß hervorragenden Juristen in München.
Das Gutachten steht übrigens auch online: http://www.welt.de/bin/di-fabio-gutachten-150937063.pdf
Vielen Dank für diese sachliche Auseinandersetzung…
Ich lache mich noch immer über den letzten Satz des Artikels kaputt. Ist Ihr Assistent auf die Idee gekommen oder stammt der von Ihnen, Herr Möllers?
Setzt das Grundgesetz nicht anstelle der „souveränen Staatlichkeit“ sogar das Gegenteil voraus? Ist nicht namentlich der ausstehende Erlass des Besatzungsstatutes das, was der Parlamentarische Rat 1949 bei Beratung des Grundgesetzes vorausgesetzt hat? Und ist die Integrität der Staatsgrenzen Voraussetzung des Grundgesetzes? Oder ist nicht umgekehrt der Polizeibrief der Alliierten vom 14. April 1949 Voraussetzung des Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG und damit der Einführung eines Grenzschutzes? So klingt es jedenfalls in 2 BvF 3/92, Rn. 82, ohne dass ich mich näher damit befasst hätte.
Auf S. 82 seines Gutachtens wirft Di Fabio deutschen Gerichten eine „Mitwirkung an der Außerkraftsetzung des geltenden Schengen/Dublin-Systems“ vor, weil sie „sensibel die Menschenrechtslage in anderen europäischen Mitgliedsstaaten untersuchen“ und im Fall von Griechenland oder Ungarn Verstöße gegen geltendes europäisches Recht festgestellt haben. Aus der Feder eines ehemaligen Verfassungsrichters und in einem Gutachten, das der Bundesregierung nachweisen will, sie sei ihren verfassungsmäßigen Pflichten nicht nachgekommen, halte ich folgenden Satz für unglaublich: „Man kann Staaten wie Griechenland oder Ungarn auch in Schutz nehmen und konstatieren, dass sie kaum über die finanziellen Mittel verfügen dürften, um einer Masseneinwanderung nach dem Dublin-System Herr zu werden.“
Alles was Sie ausführen ist letztendlich staatszersetzend. An Jellinek kommen Sie nicht vorbei. Aus der Volkssouveränität des Artikel 20 lässt sich zwingend ein Schutz der Außengrenzen herleiten. Sonst können Sie die Volkssouveränität ja gleich in Europa auflösen. Was da in Erlangen ernsthaft diskutiert wurde bewegt sich irgendwo zwischen Kant und Utopie, hat aber mit Staatsrecht nichts zu tun. Also: ohne Staat keine Verfassung. Daran schließt sich folgerichtig an, dass der Volkssouverän mehrheitlich bestimmt, wen er ins Land lässt und wen nicht. Über die Drittstaatenregelung ist das asylrechtlich grundgesetzlich abgesichert. Dublin ist objektiv zusammengebrochen, daher ergibt sich wiederum folgerichtig, dass der Schutz der Außengrenzen wieder zu einer nationalstaatlichen Aufgabe wird, da Frontex nicht handlungsfähig wird. Was di Fabio ausführt, dürfte en passant gesagt, Konsens in Dänemark, Holland, Frankreich, Kanada etc.sein. Könnte es sein, dass sie das Konzept der „Volkssouveränität“ (als demokratielegitimatorische Primärnorm!) unter Generalverdacht des Totalitarismus stellen und überwinden wollen? Dann sollten Sie das auch so sagen.
Wenn ich Sie richtig verstehe, bedeutet das konkret, dass Dublin die Drittstaatenregelung des GG bei der subjektiven Einzelfallprüfung überwölbt? So ja auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages – und zwar auch dann, wenn alle anderen EU-Länder einfach bis nach Deutschland durchwinken. Wenn der Vorrang des Europarechts aber zu einer kompletten Entleerung der Staatsgrenzschutzregelung führt (was de facto der Fall ist, auch wenn Sie das bestreiten. „erst mal alle reinlassen, machen sie in Afrika auch so“ – ist nicht ernst zu nehmen – bitte keine Rassismuskeule), hat der Staat ein Notstandsrecht zur Sicherstellung seiner Existenz. Die Offenheit des GG hin zum Europarecht kann nicht die staatliche Selbstauflösung bedeuten. Ob wir da gerade dabei sind, soll ruhig das Verfassungsgericht prüfen.
Und ob man die Ergebnisse von Erlangen rechtsdogmatisch als Fortschritt bezeichnet, muss der subjektiven Wertung überlassen werden. Es gibt jenseits von Bismarck sehr gute Gründe der Verknüpfung von Verfassung, Nation und Staat. Das dürfte spätestens seit der amerikanischen und französischen Revolution, en passant gesagt, z.B. in Dänemark, Italien, Kanada, Frankreich, Australien etc. etc. die herrschende Meinung sein. Und wenn Erlangen ein deutscher Sonderweg zum Zwecke der Überwindung der Volkssouveränität als demokratielegitimatorische Primärnorm aus Gründen des Totalitarismusverdachts dienen soll, dann sollten sie dies gerade zu Zeiten der „failed states“ auch offen sagen.
und abschließend: könnte es nicht einfach nur sein, dass Sie den Nationalstaat rechtslegitimatorisch überwinden wollen? Dann sollten Sie das auch offen sagen. Was im Sinne der „Spill over Theorie“ auf Europaebene bleiben wird, ist Interdependenzmanagement. Ob das Recht aber das strukturelle Fehlen von gemeinsamer Geschichte (der französische Napoleon ist ein anderer als der deutsche), Kommunikation (unüberwindliche Sprachbarriere) und Erfahrung (es gibt keine europäische Fußballmannschaft) kompensieren kann, ist freundlich gesagt, mehr als fraglich. Die europäischen Völker wollen sich nicht überwinden lassen (bitte keine Nationalismuskeule).
Wenn man Art. 1 S. 2 GG liest, könnte man schon auf den Gedanken kommen, dass das Grundgesetz das Bestehen von staatlicher Gewalt und damit auch von Staatlichkeit voraussetzt.
Dass die Grenzen dem Grunde nach kontrolliert werden können, dürfte der Auffassung vieler Innen- beziehungsweise Sicherheitspolitiker entsprechen; es gibt Beispiele aus vergleichbaren europäischen Staaten. Auch ein „freiwilliges“ Öffnen der Grenzen könnte – zu Ende gedacht – die Staatlichkeit bis hin zum Verlust gefährden. Es geht gerade um die Frage, ob diese Grenzöffnung die Staatlichkeit deshalb gefährdet, weil ihre Folgen zuvor nicht hinreichend bedacht oder aber die Prioritäten falsch gesetzt worden – beispielsweise zu sehr auf das Vermeiden „hässlicher Bilder“ fokussiert gewesen) sind beziehungsweise, ob das Festhalten an einer kurzfristigen Ausnahmeregelung auf Dauer rechtswidrig ist.
Auch der von Michael Bertrams geäußerte Gedanke, dass eine Beteiligung des Bundestags hätte erfolgen müssen, leuchtet mir persönlich ein.
Wenn ich es richtig verstanden habe, dürfen ohne Parlamentsbeteiligung noch nicht einmal deutsche Soldaten in einer AWACS-Maschine mitfliegen, falls die Gefahr einer militärischen Konfrontation besteht, bei der damit zu rechnen ist, dass die Maschine im Rahmen eines Kampfgeschehens Ziele zuweisen wird.
Vielleicht lässt sich trotzdem juristisch begründen, dass die Aufnahme hunderttausender Menschen – und sei es auch teilweise nur vorübergehend – eine reine Regierungsangelegenheit sei. Immerhin ist das Parlament wohl auch in den 1990er Jahren zunächst nicht beteiligt worden, als die Zahlen zwar niedriger, aber hinsichtlich der Größenordnung vergleichbar waren. Allerdings kam es danach bekanntlich in einer gewissen zeitlichen Nähe doch noch zu einer Beteiligung des (verfassungsändernden) Gesetzgebers.
Das Gutachten soll aus Sicht seines Auftraggebers wohl in erster Linie der Bundesregierung Argumente für eine Änderung der bundespolizeilichen Praxis an die Hand geben, die immerhin von Staatsrechtlern und ehemaligen Verfassungsrichtern mit „hoher Reputation“ vertreten werden. Dass eine juristische Auffassung gerade auf diesem Gebiet kaum unbestritten bleiben wird, versteht sich nach meinem Verständnis. Je nach Gang der weiteren Entwicklung dürfte sich vermutlich aber niemand so ganz sicher sein, ob es überhaupt zu einem Bund-Länder-Streit kommt und was dessen Ergebnis wäre.
Es stellt sich aus meiner Sicht aber schon die Frage, ob politisch eine Überforderung des Staates und damit letztlich eine Gefährdung der Staatlichkeit in Kauf genommen werden soll, obwohl das weder der jetzigen Wohnbevölkerung in Deutschland noch auch nur den Flüchtlingen nachhaltig hilft. Die Probleme der Flüchtlinge insgesamt sind kaum durch Einwanderung nach Europa zu lösen; man muss ihnen in viel größerem Umfang in der jeweiligen Region helfen. Die Berichterstattung über die belagerte Stadt Madaja hat kürzlich wieder einmal sehr deutlich gezeigt, dass diejenigen, die Hilfe am nötigsten haben, oft gar nicht nach Europa kommen können.
Herr Kissel, wie Sie die Internationalismuskeule schwingen und sich gegen die Nationalismuskeule verwahren – großes Kino. (Bitte keine Sarkasmuskeule!)
Wie sieht eigentlich die Anerkennungspraxis aus? Syrien ist gross und wer da wen verfolgt ist kaum mehr zu erkennen. Der Staat versucht, soweit ersichtlich, lediglich, die sogenannte Befreiung von Staedten rueckgaengig zu machen. Die Leute, wer immer die selbsternannten Befreier sind, sollen keine Polizisten mehr erschiessen. Das ist meines Erachtens von vorneherein keine politische Verfolgung und in Anbetracht der Groesse des Landes auch kein Grund fuer subsidiaeren Schutz.
Ich schwinge gar keine Keule, sondern gehe nur davon aus, dass die Staaten die Herren der Verträge sind. Ich komme von der Vergleichenden Politikwissenschaft und die ist etwas ganz anderes als Internationalismus. „Westbindung“ heißt für mich, dass wir weder rechtlich noch moralisch besser sein müssen als Dänemark,Frankreich, USA, Holland, Australien, Kanada…Das reicht dann schon. Moralische Überkompensation als Reaktion auf 33-45 halte ich für einen Irrweg.
Wenn man es so auffasst, kann man vielleicht auch sagen, dass die Fluechtlingspolitik Kriegsfuehrung ist, was das Europarecht vielleicht nicht gemeint hat: „Die Nationale Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte wird von der EU und der sogenannten Gruppe der Freunde des syrischen Volkes als legitimer Vertreter des syrischen Volkes anerkannt. Deutschland will gemeinsam mit seinen internationalen Partnern den institutionellen Aufbau und den inneren Zusammenhalt der Nationalen Koalition stärken, um eine Alternative zum Assad-Regime zu fördern.“
Man sollte den juristischen Blick auch hier nicht auf das Europarecht verengen, sondern auch das Voelkerrecht einbeziehen. Zu dessen allgemeinen Prinzipien gehoert auch das Interventionsverbot. Nach dem Voelkerrecht sind alle Staaten gleich, egal ob sie uns gefallen oder nicht. Woher wissen wir, dass die Freunde Syriens nicht die Feinde Syriens sind? Syrien ist noch kein „failed state“, sondern lediglich ein Gebilde aehnlich wie der Libanon, in dem es etwas anderes als eine Koexistenz der Religionsgruppen praktisch ueberhaupt nicht geben kann, vgl. Kewenig.
Jürgen Kaube meint, die Autoren könnten die Grenzen zwischen Recht, Ökonomie und Politik nicht unterscheiden. Er weiß nicht, dass sie das könnten, aber nicht wollen.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ist-angela-merkels-fluechtlingspolitik-verfassungsgemaess-14019329.html
Tja, möglicherweise sagt es etwas über die politische Ausrichtung der FAZ im Allgemeinen und Herrn Kaubes im Speziellen aus, dass er diesen Vorwurf den hiesigen Autoren macht – nicht aber dem Verfasser eines bestellten „Rechtsgutachtens“, das durch freie Improvisation über ein (zweifelhaftes) staatstheoretisches Thema zufälligerweise zu den Ergebnissen kommt, die dem Auftraggeber zusagen.
Hinter dem genannten Auftraggeber steht im Übrigen eine Partei, welche die vermeintlichen, „eklatanten Verfassungsbrüche“ durch ihre Beteiligung an der Bundesregierung mitträgt. Da sie aber offenbar selbst insgeheim nicht an die behauptete Verfassungswidrigkeit glaubt (oder ihr der eigene Machterhalt wichtiger ist), alimentiert sie lieber mit Steuerzahlergeld „anerkannte“ Gutachter, als die vom Grundgesetz vorgesehenen Konsequenzen zu ziehen.
Ja, ich glaube auch, dass Herr Kaube eine politische Ausrichtung hat. Nicht aber die Autoren (und die Kommentatoren) hier auf dem Verfassungsblag. Wir sollten unsere Freunde informieren, damit die nicht auf Leute mit politischer Ausrichtung hereinfallen.
Einverstanden. Dann lassen Sie uns doch mit gutem Beispiel vorangehen.
Nur so am Rande: Der Vorwurf bezieht sich gar nicht auf die Autoren hier, sondern auf ganz andere Argumente, die im Text oben gar nicht vorkommen.
So klingt das im Original:
„Wer in vergleichbarer Sorglosigkeit argumentiert, so schlimm könne es doch nicht sein, es seien ja noch nicht einmal Steuern erhöht worden, verwechselt Politik, Ökonomie und Recht.“
Ja, ich werde nachher den Text von Herrn Möllers tausendfach kopieren. Und ich hoffe, dass alliierte Flugzeuge die Kopien dann ab morgen über unserem Land abwerfen!
Vielen Dank den beiden Autoren für die klare Analyse. Gerade in Ihrer Begrenzung auf die staatsrechtlichen Aspekte der Flüchtlingskrise und Ihre beeindruckende Dekonstruktion der Rechtsstaatskrisenrhetorik Di Fabios schaffen Sie die Grundlage für mehr Gelassenheit und Geduld bei der Suche nach politischen und ökonomischen Lösungen.
Im Übrigen: Vielleicht spricht schon der Titel des Textes von Kaube – „Rechtsbruch oder gar nicht Besonderes“ – dafür, dass der Autor von falschen Alternativen ausgeht (dass er die Dublin-Verordnung nie gelesen hat, scheint mir i.Ü. ebenfalls festzustehen).
Patrick Bahners (FAZ) hat am 15. Januar 2016 übrigens ziemlich genau das Gegenteil von Jürgen Kaube argumentiert. Wie das wohl in die „politische Ausrichtung der FAZ im Allgemeinen“ bzw. das Weltbild einzelner Kommentatoren past?
… die Beiträge von Herrn Bast hier auf dieser Plattform (alle pro-Asyl) sprechen doch eine klare Sprache, in welche Richtung das Recht gebogen werden soll. Auch di Fabio und im übrigen wir alle haben unsere Präferenzen und argumentieren dementsprechend. Und so ist es erklärlich, warum wir einmal mehr die Menschenwürde oder die Rechtsstaatlichkeit oder die faktische Machbarkeit betonen.
Hat jemand eigentlich jemals das Deutsche Volk zu diesen, für die Zukunft des Landes bedeutsamen Fragen, um seine Meinung gefragt?
Es sind wahrscheinlich Sätze wie dieser, die Herrn Kaube aufgestoßen sind: „Denn entweder kann der Bund die Grenzen nicht kontrollieren, dann bringt eine solche Rechtspflicht nichts, weil sie sich nicht erfüllen ließe, oder aber der Bund öffnet die Grenzen freiwillig, dann erscheint es eigenartig, von einem Verlust der Staatlichkeit zu sprechen.“ Aus einer Alternativität wird scheinbar ein Argument gewonnen. Aber würde irgendjemand wirklich den Satz unterschreiben: Entweder kann der Polizist die Gefahr nicht abwehren, dann gibt es keine Rechtspflicht zum Handeln, oder er verzichtet freiwillig auf Gefahrenabwehr, dann erscheint es eigenartig, von einer Gefahr zu sprechen.
Übrigens: Viele Rechtsexperten behaupten, dass das Recht auf Asyl keine Obergrenze zuliesse. Angesichts der weltweit potentiell großen Zahl von Menschen, die ihr Heimatland Richtung Deutschland verlassen wollen, frage ich mich: was ist von einem Recht zu halten, dass wie ein ungedeckter Scheck im Ernstfall gar nicht einzulösen wäre? Meine Antwort ist daher: Die Politik (und damit in letzter Konsequenz das Volk) soll festlegen, welche humanitäre Hilfe Deutschland leisten will und kann. Die Alleinentscheidung einer Kanzlerin kann es jedenfalls nicht sein.
Und es sind wahrscheinlich Sätze wie dieser, die einem Juristen aufstoßen würden:“Aus dem Prinzip der Staatlichkeit den Schutz des Staates vor seinen eigenen Handlungen herzuleiten und damit die staatliche Handlungsfähigkeit im Namen der Staatlichkeit zu beschränken, ist ein eigenartiges Argument.“
Denn dieses Argument ist nun wirklich seit der Maastricht Entscheidung engerer Kern des Prüfungsstoffes im Staatsexamen. Kann man „eigenartig“ finden, aber man sollte erklären wieso. Man wirkt sonst wie jemand, der sich erst seit wenigen Stunden mit der Thematik befasst.
„Es sind wahrscheinlich Sätze wie dieser, die Herrn Kaube aufgestoßen sind: ‚Denn entweder kann der Bund die Grenzen nicht kontrollieren, dann bringt eine solche Rechtspflicht nichts, weil sie sich nicht erfüllen ließe, oder aber der Bund öffnet die Grenzen freiwillig, dann erscheint es eigenartig, von einem Verlust der Staatlichkeit zu sprechen.’“
Absolut. Zu diesem Argument äußert er sich ja ausdrücklich. Und insoweit würde ich ihm auch Recht geben.
@Wernus: Das „Deutsche Volk“ hat mehrheitlich Parteien in den Bundestag gewählt, die den aktuellen Kurs mittragen und wird dies aller Voraussicht nach bei den nächsten Bundestagswahlen wieder tun. Kleiner fun fact am Rande: Sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch, als auch im Grundgesetz und in der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG wird das „deutsche Volk“ klein geschrieben. Nur das Lissabon-Urteil schreibt es (mit Di Fab