Dem Freistaat zum Gefallen: über Udo Di Fabios Gutachten zur staatsrechtlichen Beurteilung der Flüchtlingskrise
Unter großer medialer Aufmerksamkeit wurde in dieser Woche ein von der Bayrischen Staatskanzlei in Auftrag gegebenes Gutachten des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio vorgestellt. Darin wird die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kritisiert und dem Freistaat in Aussicht gestellt, gegen das aktuelle Grenzregime in Karlsruhe erfolgreich zu klagen. Während die Presse damit die Position Bayerns gestärkt sah, bestätigt eine kritische Lektüre diesen Eindruck kaum. Der juristische Gehalt des Gutachtens ist erstaunlich dürftig. Dies gilt sowohl für die staatstheoretische Herleitung einer Pflicht des Bundes gegenüber den Ländern auf wirksame Einreisekontrollen (1.) als auch für die These, dass systemische Defizite des Schengen/Dublin-Systems zu Selbsthilfe- und Gegenmaßnahmen Deutschlands berechtigten (2.).
1.
Das erste zentrale Argument Di Fabios liegt in der Annahme, dass das Grundgesetz die Staatlichkeit der Bundesrepublik und damit auch die Integrität ihrer Staatsgrenzen „voraussetze“ und damit verfassungsrechtlich zu deren Schutz verpflichte. Nun gehört die Idee des Staats als Verfassungsvoraussetzung zu einer alten, aus der monarchischen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts kommenden Vorstellung, die in Teilen der Staatsrechtslehre der 1980 und 1990er wiederbelebt wurde, aber heute in der schlichten Form, die das Gutachten präsentiert, kaum noch vertreten wird. Im Jahr 2008 fand in Erlangen eine Staatsrechtslehrertagung zum Thema „Verfassungsvoraussetzungen“ statt, in der der Staat als Argument in den Einzelreferaten so gut wie keine Rolle spielte. Der Grund dafür ist einfach zu nennen: Es ist unklar, was „voraussetzen“ juristisch bedeuten soll. Der Umstand, dass staatliches Handeln ein Tatbestandsmerkmal des Demokratieprinzips des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist, impliziert als solcher so wenig eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Schutz des Staates, wie der Umstand, dass § 211 StGB den Mörder bestraft, die Praxis des Mordens garantieren soll. Ein solches Argument funktionalisiert umstandslos Tatbestandsvoraussetzungen und normativ geschaffene Institutionen. Aus diesem Grund spielt es im Verfassungsrecht auch keine Rolle. Insbesondere hat das Bundesverfassungsgericht seit seiner Maastricht-Entscheidung immer einen genuin rechtlichen Anknüpfungspunkt gesucht, wonach im Ergebnis die Staatsgewalt zu schützen ist, ohne diese in der Begründung zum Selbstzweck zu erklären. Bedauerlicherweise lässt sich die Tatsache, dass Di Fabios Ansicht umstritten ist, dem Gutachten nicht entnehmen. Das Argument wird vorgetragen, als sei es eine Selbstverständlichkeit oder als würde der Hinweis auf Passagen im Lissabon-Urteil des Verfassungsgerichts ein Argument ersetzen. Wissenschaftlichen Standards genügt das nicht.
Di Fabios Argument hat ein zweites Problem: Denn selbst wenn Staatlichkeit so pauschal verfassungsrechtlich geschützt würde, wie er meint, wäre doch zu klären, wann ihr Bestand so in Frage steht, dass eine Schutzpflicht ausgelöst wird. Seine Formulierung vom „unkontrollierten Zustrom“ (S. 101) lässt das letztlich offen. Denn entweder kann der Bund die Grenzen nicht kontrollieren, dann bringt eine solche Rechtspflicht nichts, weil sie sich nicht erfüllen ließe, oder aber der Bund öffnet die Grenzen freiwillig, dann erscheint es eigenartig, von einem Verlust der Staatlichkeit zu sprechen. Aus dem Prinzip der Staatlichkeit den Schutz des Staates vor seinen eigenen Handlungen herzuleiten und damit die staatliche Handlungsfähigkeit im Namen der Staatlichkeit zu beschränken, ist ein eigenartiges Argument.
Und wo liegt eigentlich Bayern in einem Argument über die deutsche Staatlichkeit? Di Fabio ist sichtlich bemüht, die Staatlichkeit des Bundes mit derjenigen Bayerns so zu verquicken, dass am Ende die eine von der anderen nicht mehr zu trennen ist, und der Freistaat auch prozessual die Rechte des Bundes geltend machen kann. Di Fabio konstruiert ein „besonderes sachliches Näheverhältnis von Bund und Ländern“ im Grenzschutz (S. 61). Das ist erstaunlich, handelt es sich doch um einen der ganz seltenen Kompetenzbereiche, in dem sowohl eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz als auch eine ausschließliche Vollzugskompetenz des Bundes besteht. Warum ein Land ausgerechnet in einem Feld, in dem der Bund einen solch untypisch starken Kompetenzbestand hat, eigene Rechte auf die Staatlichkeit des Bundes erheben sollte, bleibt völlig unklar. In wenigen Regelungsbereichen dürfte die bundesstaatliche Seite von Di Fabios Argument so schlecht funktionieren wie in diesem.
Schließlich, die verfassungsdogmatische Relevanz des staatstheoretischen Arguments einmal unterstellt: Ist die Durchführung von systematischen Personenkontrollen an befestigten Grenzanlagen wirklich eine notwendige Bedingung von Staatlichkeit? Hinweise auf die Drei-Elemente-Lehre Jellineks und den völkerrechtlichen Staatsbegriff gehen in der Sache fehl, denn in beiden Fällen wird zwar die Existenz eines Staatsgebiets, nicht aber seine grenzpolizeiliche Sicherung zum Staatsmerkmal erhoben. Historisch tritt dieses Instrument der Migrationssteuerung in der Entwicklung des modernen Staates vergleichsweise spät auf, in Europa flächendeckend erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs. In weiteren Teilen der Welt ist die grüne Grenze auch heute noch die Regel. Dies beinhaltet keineswegs den Verzicht der Staaten, fremde Staatsangehörige nur selektiv zum eigenen Staatsgebiet zuzulassen und über ihren Status während des Aufenthalts zu entscheiden, es bedeutet jedoch, dass grenzpolizeiliche Maßnahmen kein notwendiges Instrument der Migrationssteuerung sind und in der Praxis bei weitem nicht das wichtigste. Wenn also die Empirie des Staates irgendeine Rolle spielt für die Theorie des Staates, dann müsste das Gutachten an dieser Stelle enden.
2.
Di Fabio interpretiert das Europäische Grenzkontroll- und Flüchtlingsrecht als eine Schönwetterveranstaltung, die auf „optimistischen Grundannahmen“ beruhe und allenfalls „unter günstigen Bedingungen“ funktionieren könne. Spätestens mit den Fluchtbewegungen des Jahres 2015 sei das „im Grunde noch experimentelle europäische System“ gescheitert (S. 77). In dieser Situation stehe der deutsche Staat kraft seiner Souveränität in einer Gewährleistungsverantwortung für die Durchführung effektiver Migrations- und Grenzkontrollen. Das praktische Scheitern „des europäischen Einwanderungs- und Asylsystems“ bzw. – offenbar synonym – „des europäischen Grenz- und Aufenthaltsregimes“ (S. 82 f., 87) rechtfertige es letztlich, dass deutsche Behörden „eine vorläufige, wirksame Grenzsicherung“ an den deutschen Grenzen sicherstellen: „in Eigenvornahme“ der gebotenen Einreisekontrollen (S. 83) und als „Hebel“ gegenüber den Außengrenz- und Transitstaaten, um „politische Blockaden“ aufzulösen (S. 87).
Diese Skizze der Rechtslage ist in ihren Prämissen fragwürdig und führt in ihren Konsequenzen zu scharfen Konflikten mit dem EU-Recht, die nur um den Preis des Austritts aus der Union aufzulösen wären.
Zunächst wäre eine differenzierte Analyse der Frage geboten, an welchen Punkten das Gemeinsame Europäische Asylsystem strukturell nicht funktioniert (ergebnisgleiche Asylverfahren in allen Mitgliedstaaten), welche Regelungslücken es aufweist (Solidaritätsmechanismus) und wo geltendes Recht von einzelnen Mitgliedstaaten nicht beachtet wird (Registrierungspflicht). Namentlich bei der Harmonisierung des materiellen Flüchtlingsrechts dagegen erfüllt das europäische Recht seine Funktion leidlich gut. Es verhindert einen ruinösen Wettbewerb zur Senkung von Asylstandards auf einzelstaatlicher Ebene, etwa bei der unionsrechtlich vorgeschriebenen Anerkennung von Bürgerkriegsflüchtlingen. Auch für das Dublin-System ist eine differenzierte Betrachtung geboten. Kein Krisensymptom oder gar einen Rechtsverstoß stellt es dar, dass Deutschland im Jahr 2015 in erheblichem Umfang in die inhaltliche Prüfung von Asylanträgen eingetreten ist, statt sich um die Klärung der Zuständigkeit anderer Mitgliedstaaten zu bemühen. Ein solcher Selbsteintritt aus pragmatischen Gründen ist von der Dublin-III-Verordnung ausdrücklich vorgesehen. Die Priorität des Dublin-Systems liegt darauf, dass ein Asylsuchender überhaupt in einem Staat ein faires Asylverfahren erhält, in dem er oder sie die Fluchtgründe vorbringen kann. Von einem allgemeinen Systemversagen kann keine Rede sein, hier unterschätzt Di Fabio die Komplexität und Vielgliedrigkeit des geltenden Rechts und beteiligt sich an einem Krisendiskurs, der die Normativität dieses Rechts paradoxerweise selbst beschädigt. Im Übrigen werden von ihm die optimistischen Grundannahmen der angedachten Alternative, die einzelstaatliche Bewältigung der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen, gar nicht erst in die Betrachtung eingestellt.
In einem weiteren, zentralen Punkt geht Di Fabio von falschen Prämissen aus. Das Gutachten unterstellt in seiner Fixierung auf (und staatstheoretischen Überhöhung von) Grenzkontrollen, dass mit deren Wiedereinführung an den Binnengrenzen der EU oder ihrer effektiveren Durchführung an den Außengrenzen Wesentliches für die Steuerung der Flüchtlingsbewegungen gewonnen wäre. Insbesondere scheint Di Fabio der Auffassung zu sein, dass mit Grenzkontrollen ein Recht auf Abweisung von asylsuchenden Migrantinnen und Migranten verbunden sei. Das trifft nicht zu. An den Außengrenzen der EU werden einer pauschalen Zurückweisung regelmäßig menschen- und seerechtliche Verpflichtungen entgegenstehen, die die Gewährung von temporärem Schutz in der EU und die Durchführung eines individuellen Prüfungsverfahrens gebieten. An den Binnengrenzen der EU dürfen zwar nach Maßgabe des Schengener Grenzkodexes vorübergehend Grenzkontrollen durchgeführt werden, für die Einreiseverweigerung gelten aber vorrangig die besonderen Regelungen des Europäischen Asylrechts (Art. 13 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 562/2006). Einschlägig ist hier Art. 3 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, wonach die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag prüfen, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellt wird, und zwar ausdrücklich einschließlich solcher Anträge, die „an der Grenze“ gestellt werden. Anders als die Personenfreizügigkeit an den Binnengrenzen steht dieses Recht auf Zugang zum Asylverfahren nicht unter einem ordre-public-Vorbehalt, der eine temporäre Suspendierung erlaubt.
Soweit der in diesem Zusammenhang genannte § 18 AsylG (Asylantrag bei einer Grenzbehörde) eine andere Aussage trifft, hat dies keine praktische Bedeutung, da die europäische Zuständigkeitsordnung für die Asylverfahren abschließend durch den Unionsgesetzgeber geregelt ist. Bei präziser Lektüre der Norm wird der Vorrang des Europäischen Asylrechts vor dem deutschen Grenzpolizeirecht in § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG auch anerkannt. Es ist ein wesentlicher Gedanken des Dublin-Systems, der sich wie ein roter Faden durch seine Detailregelungen zieht, dass kein Mitgliedstaat sich damit begnügen kann, eine rein negative Zuständigkeitsentscheidung zu treffen, also davon auszugehen, dass „jedenfalls nicht wir“ für die inhaltliche Prüfung eines Asylbegehrens zuständig sind. Will ein Mitgliedstaat einen Asylsuchenden auf die Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat verweisen, muss er die Zuständigkeit des anderen Staates positiv begründen. In diesem Dublin-Verfahren hat der Asylsuchende eigene Rechte und Rechtsschutzmöglichkeiten – und muss zu diesem Zweck zumindest provisorische Aufnahme finden. Die von Di Fabio als Ersatzvornahme und zwischenstaatliches Druckmittel konzipierte Zurückweisung von Asylsuchenden an der deutschen Grenze wäre also ein klarer Verstoß gegen geltendes Recht. Sie würde zu genau der dramatischen Situation führen, die das Dublin-System vermeiden will: dem Hin- und Herschieben von Flüchtlingen zwischen Staaten, von denen sich keiner zur Schutzgewähr bereitfindet (refugees in orbit).
So genau will das Gutachten das offenbar gar nicht wissen, denn sein Autor hält sich mit einer Analyse der Europarechtskonformität seiner Vorschläge nicht auf. Die Berufung auf den „integrationsfesten“ Kern der deutschen Verfassung erfüllt ersichtlich die Funktion, sich von einem Abgleich dessen, was der Autor für verfassungsrechtlich geboten hält, mit dem, was europarechtlich zulässig ist, zu entlasten. Unionsrechtliche Verpflichtungen stehen für Di Fabio offenbar unter einem staatstheoretisch begründeten, überverfassungsrechtlichen Notstandsvorbehalt, wenn entsprechende Maßnahmen zur Selbstbehauptung deutscher Staatlichkeit und damit vermeintlich zur Wahrung des Verfassungsidentität des Grundgesetzes geboten scheinen. Dass es zu den Grundaussagen eben dieser Verfassung gehört, sich für das überstaatliche Recht zu öffnen, hierzu Mitglied in der real-existierenden EU zu sein und ihr Recht als verbindlich anzuerkennen, gerät dabei aus dem Blick.
Wenn es so etwas wie eine Verfassungsidentität der EU gibt, dann gehört zu dieser basic structure doctrine des Europarechts gewiss, dass der völkerrechtliche Grundsatz der Gegenseitigkeit in der EU nicht gilt: Kein Mitgliedstaat kann sich zur Rechtfertigung seiner Verstöße gegen das Unionsrecht auf angebliche Verstöße anderer Mitgliedstaaten oder der EU-Organe berufen. Diese grundlegende Aussage hat der Europäische Gerichtshof erstmals in einem Urteil vom 13. November 1964 getroffen, sie definiert also schon seit mehr als 50 Jahren die Geschäftsgrundlage der Mitgliedschaft in der Union (EuGH, verb. Rs. 90/63 und 91/63, Kommission/Belgien und Luxemburg, Slg. 1964, S. 1329, 1344). Die deutsche Souveränität über die eigenen Staatsgrenzen ist, wie Di Fabio zutreffend schreibt, „vertraglich überlagert“ (S. 87); das Beiwort „lediglich“ ist in einem rechtlichen Diskurs fehl am Platz. Dies schließt es für die Dauer der (verfassungs-)vertraglichen Bindung gerade aus, die von Di Fabio für zulässig erachteten Selbsthilfe- und Gegenmaßnahmen zu ergreifen – gleichviel, ob man es aus einer verfassungsrechtlichen oder europarechtlichen Perspektive betrachtet.
Fazit: Das Gutachten nutzt fragwürdige staatstheoretische Argumente, um den Bund zu europarechtswidrigen Alleingängen anzuhalten, die dieser den Ländern angeblich verfassungsrechtlich schuldet. Das ist steil. Man kann dieses Gutachten auch als Zeugnis einer Verhärtung des politischen Klimas sehen, in dem nun ehemalige Verfassungsrichter ihre hohe Reputation dazu verwenden, einer demokratischen Regierung einen Rechtsbruch zu unterstellen, ohne diesen konkret benennen zu können. Sicherlich nicht bringt dieses Gutachten dagegen eine Absicht der Bayerischen Staatsregierung zum Ausdruck, gegen den Bund zu klagen. Dass eine Klage damit nicht zu gewinnen ist, wissen auch die erfahrungsgemäß hervorragenden Juristen in München.