Wie die Grundrechte-Charta unbegleitete Minderjährige vor dem europäischen Verschiebebahnhof schützt
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) ist umfangreich reformiert worden. Die Anfang Juni 2024 im Amtsblatt veröffentlichten Regelungen finden ab 2026 Anwendung. Weiterhin zentral bleibt dabei die Frage, welcher Mitgliedstaat für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig ist. Bisher regelt dies die Dublin-III-Verordnung, die durch die AMM-Verordnung ersetzt wird. Die Grundidee bleibt dabei aber die gleiche: greift keine andere Zuständigkeitsregelung, ist der Mitgliedstaat für die Überprüfung des Asylantrags zuständig, in dem Betroffene erstmalig europäischen Boden betreten haben (Art. 33 AMM-VO). Etwas anderes gilt nach einem grundlegenden Urteil des EuGH bisher jedoch für unbegleitete Minderjährige, die sich ohne rechtmäßig aufhältige Familienangehörige in der EU befinden. Für sie ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem sie ihren letztmaligen Asylantrag gestellt haben. Im Laufe des langen Reformprozesses war die Zuständigkeit von Ersteinreisestaaten auch für unbegleitete Minderjährige häufig Gegenstand von Änderungsvorschlägen – stets mit dem Ziel, eine Rücküberstellung auch von unbegleiteten Minderjährigen zu ermöglichen. Die nun gefundene Regelung des Art. 25 Abs. 5 AMM-VO scheint Mitgliedstaaten einen Interpretationsspielraum zu geben. Ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren, das regelhaft die Möglichkeit der Überstellung in den Erstregistrierungsstaat prüft, verstößt aber gegen die – unveränderten – kinderrechtlichen Garantien der EU-Grundrechtecharta (GRC).
Bis Ende dieses Jahres müssen Mitgliedstaaten der EU-Kommission nationale Implementierungsstrategien vorlegen, in denen sie erläutern, wie sie das Gesetzespaket umsetzen werden. Eine GRC-konforme Auslegung der zentralen Norm des Art. 25 Abs. 5 AMM-VO ist folglich schon jetzt angezeigt.
Vorrangiges Kindeswohl in der EuGH-Rechtsprechung
Anders als etwa das Grundgesetz misst die GRC Kinderrechten grundrechtlichen Charakter zu. Gemäß Art. 24 Abs. 2 GRC muss das Wohl des Kindes bei „allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen […] eine vorrangige Erwägung sein“. Dies hat sowohl Eingang in die Dublin-III-VO (Erwägungsgründe 16, 24) als auch in die AMM-VO (etwa Erwägungsgründe 19, 46) gefunden.
Bereits 2013 hat der EuGH die Bedeutung des Kindeswohlvorrangs für die Dublin-II-VO herausgestellt. In MA, BT, DA hatten drei unbegleitete Minderjährige Asylanträge in verschiedenen Mitgliedstaaten, zuletzt im Vereinigten Königreich, gestellt. Die britischen Behörden ordneten unter Verweis auf das Ersteinreiseprinzip aus Art. 3 Abs. 1 Dublin-II-VO die Überstellung der Minderjährigen in die jeweiligen Mitgliedstaaten an. Gegen diese Überstellungsentscheidungen klagten die unbegleiteten Minderjährigen. In zweiter Instanz legte der Court of Appeal (England & Wales) dem EuGH entsprechende Rechtsfragen zur Entscheidung vor.
Der Gerichtshof urteilte, dass für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger der Kindeswohlvorrang aus der GRC stets maßgeblich sei. Elementarer Bestandteil des Kindeswohls sei danach, „[…] dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht unsachgemäß in die Länge zieht“ (Rn. 61). Es dürfe mithin nicht länger dauern als „unbedingt nötig, was bedeutet, dass unbegleitete Minderjährige grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind“ (Rn. 55). Im Gegenteil sei „ein rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten“ (Rn. 61).
Demnach seien unbegleitete Minderjährige grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen, was ein objektives Kriterium i.S.d. Erwägungsgrundes 4 der Dublin-II-VO sei. Dieser findet sich wortgleich im Erwägungsgrund 37 AMM-VO.
Der EuGH erteilte damit Staaten eine klare Absage, die der Verhinderung von sogenannter Sekundärmigration innerhalb der EU Vorrang gegenüber dem Kindeswohl einräumten.
Bedeutung für mitgliedstaatliche Rechtsanwendung
Diese Rechtsprechung ist nicht nur aufgrund ihrer Klarheit beachtenswert. Sie macht zudem deutlich: Auch in einem primär ordnungsrechtlichen Verfahren im europäischen Asylrecht sind die aus dem Kindschaftsrecht anerkannten Kriterien verfahrensrechtlicher Kindeswohlaspekte – einfache Zuständigkeitsregelungen, die schnellen Zugang zu Schutz sicherstellen (vgl. bspw. Art. 6 KSÜ) – vorranging. Der EuGH legt in diesem Urteil zudem – unverändertes – Primärrecht aus, das die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union bindet (Art. 51 GRC). Demnach ist die Entscheidung auch weiterhin für die Umsetzung des GEAS sowie für dessen Anwendung durch die Bundesrepublik und damit auch für die hier diskutierte Regelung in Art. 25 Abs. 5 AMM-VO maßgeblich. Diese hat, genau wie die Neuregelung des GEAS selbst, einen langen Anlauf bis zur finalen Fassung genommen.
Änderungshistorie und aktuelle Regelung in Art. 25 Abs. 5 AMM-VO
Nach der Entscheidung des EuGH hatte die Kommission 2014 selbst noch einen Änderungsvorschlag zu Art. 8 Abs. 4 Dublin-III-VO formuliert, der die Entscheidung berücksichtigen sollte. Dies änderte sich jedoch in den nachfolgenden Vorschlägen.
In den Entwürfen von 2016 war in Art. 10 Abs. 5 der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) zu lesen, dass, falls es keine Familienmitglieder in der EU gäbe, der Mitgliedstaat zuständig wäre, in dem die*der unbegleitete Minderjährige „zuerst seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass dies nicht dem Wohl des Minderjährigen dient“ (zur damaligen Kritik hier).
Die entsprechende Regelung des „New Pacts“ von 2020 folgte dem Vorbild. Sie legte die Zuständigkeit für die Asylantragsprüfung von unbegleiteten Minderjährigen, sofern keine Familienmitglieder in der EU aufhältig sind, für den Mitgliedstaat fest, „in dem der erste Antrag des unbegleiteten Minderjährigen auf internationalen Schutz registriert wurde, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen nicht nachweislich zuwiderläuft“ (zur damaligen Kritik hier).
Von beiden Formulierungen unterscheidet sich Art. 25 Abs. 5 AMM-VO. Sofern es keine Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandten in der EU gibt, geht die Regelung von der Zuständigkeit des Mitgliedstaats aus „in dem der Antrag des unbegleiteten Minderjährigen auf internationalen Schutz zuerst registriert wurde, sofern dies dem Wohl des Kindes dient.“
Nur eine Anwendungsmöglichkeit für Art. 25 Abs. 5 AMM-VO
Wie schon die Dublin-III-VO bezieht die AMM-VO selbst in ihren Erwägungsgründen (19) zum Thema Zuständigkeitsvorschriften die oben genannten Grundsätze zum Kindeswohl ein. Somit verweist sie zur Auslegung des Begriffs Kindeswohl explizit auf Art. 24 GRC sowie auf die UN-Kinderrechtskonvention. In Erwägungsgrund 46 legt sie zudem fest, dass „vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Verordnung […] das Kindeswohl im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 und der Charta sein [solllte]“.
Daraus folgt, dass Art. 25 Abs. 5 AMM-VO nur so ausgelegt werden kann, dass der Mitgliedstaat, „[…]in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat“ grundsätzlich zuständig ist. Das ist auch von Art. 24 Abs. 2 GRC iVm Art. 37 Abs. 1 AMM-VO gedeckt. Eine Ausnahme gibt es nur, wenn das Kind bzw. seine rechtliche Vertretung im Namen des Kindes selbst Kindeswohlerwägungen einbringt (es etwa in den Erstregistrierungsstaat zurückkehren möchte).
Schneller Zugang zu Verfahren
Um nicht gegen EU-Primärrecht zu verstoßen, muss Art. 25 Abs. 5 AMM-VO so ausgelegt werden, dass schneller Zugang zu Schutz sichergestellt wird – auch in den Fällen, in denen ein*e unbegleitete Minderjährige*r weitergewandert ist. Dies ist i.S.d. EuGH nur dann gewährleistet, wenn ein „rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft“ (Rn. 61) sichergestellt ist. Eine (andere) Auslegung von Art. 25 Abs. 5 AMM-VO hingegen, die – etwa im Falle der Weiterwanderung – regelhaft die Zuständigkeit des Erstregistrierungsstaats annimmt, zieht stets ein längeres Zuständigkeitsbestimmungsverfahren vor der materiellen Prüfung („Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft“) nach sich. Denn der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat muss dann in jedem Einzelfall konkret nachweisen, dass eine Überstellung in den Erstregistrierungsstaat dem Wohl des Kindes im Einzelfall dient. Dafür muss die Überstellung die Rechte nach der GRC und der UN-Kinderrechtskonvention, etwa das Recht auf Schutz und Fürsorge (Art. 24 Abs. 1 GRC), auf bestmögliche Entwicklung und Gesundheit (Art. 24, 6 UN-Kinderrechtskonvention) oder auf Bildung (Art. 28 UN-Kinderrechtskonvention) des*der individuellen unbegleiteten Minderjährigen konkret fördern. Dabei müssten die Meinung des*der unbegleiteten Minderjährigen, dem Alter und Reifegrad entsprechend, berücksichtigt werden (Art. 24 Abs. 1, Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention). Nur wenn diese Prüfung erfolgt ist, könnte ein Mitgliedsstaat seine Unzuständigkeit annehmen. Diese Auslegung von Art. 25 Abs. 5 AMM-VO würde also nie dazu führen, dass das materielle Schutzersuchen „rasch“ geprüft würde, wie es der EuGH vorgibt. Es würde stets mehr Zeit als „unbedingt nötig“ in Anspruch nehmen, das Kind würde kostbare Zeit verlieren und das Verfahren würde sich regulär „[…] unsachgemäß in die Länge“ ziehen, was nach Rechtsprechung des EuGH gerade nicht mit Art. 24 Abs. 2 GRC vereinbar ist (Rn. 55, 61).
Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 25 Abs. 5 AMM-VO
Nichts anderes kann aus Art. 25 Abs. 5 AMM-VO folgen. Die Annahme, dieser würde eine Rückführung ermöglichen, missversteht das Regel-Ausnahme-Verhältnis, das die Vorschrift normiert. Diese sieht vor, dass der zuständige Mitgliedsstaat derjenige der Erstregistrierung sein soll, jedoch nur sofern dies dem Wohl des Kindes „dient“.
Die Formulierung unterscheidet sich von den Vorgänger-Entwürfen, nach denen eine Überstellung immer möglich war, falls nicht nachgewiesen wurde, dass diese nicht dem Wohl des Kindes dient. Dass der Gesetzgeber diese Formulierungsmöglichkeit zudem nicht einfach vergessen hat, zeigt etwa Art. 25 Abs. 2 AMM-VO, bei dem eine Überstellung dem Wohl des Kindes weiterhin gerade „nachweislich [zuwiderlaufen]“ muss.
Die nunmehr gewählten Formulierungen normieren stets die Ausnahme von der Regel: eine Überstellung nach Art. 25 Absatz 2 AMM-VO dient grundsätzlich dem Kindeswohl, es sei denn sie tut es nachweislich nicht; eine Überstellung nach Art. 25 Abs. 5 AMM-VO dient grundsätzlich nicht dem Kindeswohl, es sei denn sie tut es ausnahmsweise. Es ist daher immer die Aufgabe des (potentiell) überstellenden Mitgliedstaats, die Ausnahme von der Regel nachzuweisen, sollte eine Überstellung angestrebt werden, obwohl das Kind bzw. seine rechtliche Vertretung im Namen des Kindes nicht einbringt, in den Erstregistrierungsstaat zurückkehren zu wollen.
Primärrechtsverstoß und unzureichender Rechtsschutz in der AMM-VO
Bei Asylanträgen von unbegleiteten Minderjährigen, die keine rechtmäßig aufhältigen Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat haben, verstößt ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren, das regelhaft die Möglichkeit der Überstellung in den Erstregistrierungsstaat prüft, nach alledem gegen die kinderrechtlichen Garantien der GRC. Es wäre somit primärrechtswidrig. Stellt ein*e unbegleitete*r Minderjährige*r in der vorbenannten Konstellation einen Asylantrag in Deutschland, so ist daher davon auszugehen, dass eine Rücküberstellung nicht ihrem*seinem Wohl dient und dessen Überprüfung das Verfahren nur unsachgemäß in die Länge ziehen würde. Das BAMF hat daher in der Regel seine Zuständigkeit anzunehmen und das Schutzersuchen unmittelbar inhaltlich zu prüfen. Anderes gilt, wenn Kindeswohlaspekte durch Kind bzw. Vertretung/Vormund*in selbst in das Verfahren eingebracht werden. In diesem Fall hat das BAMF zu überprüfen, ob diese Aspekte und damit eine Rücküberstellung kindeswohldienlich i.S.v. Art. 25 Abs. 5 AMM-VO sind.
Falls der EuGH sich erneut mit der Frage befassen muss, würde er vermutlich schlicht wiederholen, was er bereits 2013 zu Papier gebracht hat. Nur: dass der EuGH mit der Frage befasst sein wird, hat der Unionsgesetzgeber in der AMM-VO verkompliziert, denn die Rechtsmittel sind in Art. 43 AMM-VO extrem eingeschränkt. So können unbegleitete Minderjährige gegen ihre Überstellung eigentlich nur dann vorgehen, wenn die Überstellung gegen Art. 4 GRC (nicht Art. 24 GRC) verstieße (Art. 43 Abs. 1 lit. a AMM-VO). Diese Einschränkung wirft – auch mit Blick auf Art. 47 GRC, dem Recht auf effektiven Rechtsschutz – Probleme auf, die einer anderen Abhandlung vorbehalten bleiben müssen.
Die hier veröffentlichten Beiträge von Nerea González Méndez de Vigo sind nicht dienstlich veranlasst und spiegeln ausschließlich die private und persönliche Auffassung der Autorin wider.