Wir bleiben bis ihr handelt?
Klimacamps unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit
Seit Sonntag verhandeln bei der UN-Klimakonferenz COP26 in Glasgow Vertreter*innen von mehr als 190 Staaten über die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, das die Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad begrenzen soll. Die Lage ist drängender denn je, laut dem aktuellen Bericht des UN-Weltklimarats IPCC ist selbst für eine Begrenzung auf unter 2 Grad kaum noch Zeit.
Dass auf internationalen Klimaschutzkonferenzen nicht mehr nur Rhetorik ausgetauscht wird, sondern auch konkrete Ziele vereinbart werden, verdanken wir nicht zuletzt dem unermüdlichen Protest der Zivilgesellschaft, insbesondere von Klimaaktivist*innen, wie Fridays for Future. Doch genau diejenigen, die sich seit Jahren für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen einsetzen und durch die kritische Begleitung politischer Maßnahmen zu deren Umsetzung beitragen, sind in Deutschland zunehmend unverhältnismäßigen Einschränkungen ausgesetzt.
Unter dem Motto „Wir bleiben bis Ihr handelt“ veranstalten Fridays for Future bundesweit Klimacamps, deren dauerhafte Präsenz im öffentlichen Raum auf die Dringlichkeit der Klimakrise hinweisen soll. Schwierigkeiten bereiten den Camps nicht die extremen Wetterbedingungen im Winter, sondern Behörden und Gerichte. Gut vier Jahre nach einer intensiven Auseinandersetzung um das Verfahren zum G-20-Protestcamp 2017 in Hamburg ist die Frage, ob und inwieweit die Versammlungsinfrastrukturen von Art. 8 GG geschützt sind, rund um die Klimacamps erneut entbrannt.
Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte sowie die Versammlungsbehörden beachten in ihren Entscheidungen zu Klimacamps jedoch allzu häufig das Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter:innen sowie die demokratisch-teilhaberechtliche Funktion der Versammlungsfreiheit nicht ausreichend. Dabei wären gerade diese vom Bundesverfassungsgericht hoch gehaltenen Kernelemente des Art. 8 I GG hilfreiche Leitplanken für eine stringentere Auslegung, die im Zweifel für die Protestcamps streitet.
Protestcamps vor Gericht
Restriktive Verwaltungspraxis und drohende Strafverfolgung haben für die Klimacamps ein prekäres Umfeld geschaffen. Die Versammlungsbehörden untersagen häufig selbst einfachste Infrastruktur für die Sicherheit und für elementare Bedürfnisse (wie Sanitäranlagen, einfache Sitzgelegenheiten). Nur noch die „Hartgesottenen“ haben die Ausdauer, Protest unter diesen Bedingungen längerfristig aufrecht zu erhalten. Eine solche Praxis ist nur schwer mit der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft in Einklang zu bringen. Für die Camps ist der Schutz von Art. 8 Abs. 1 GG essentiell: Nur wenn ein Protestcamp insgesamt unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit steht, kann es ohne zusätzliche Anzeigen oder Genehmigungen im öffentlichen Raum durchgeführt werden. Straßen-, Wege- oder Grünflächenrecht lassen sonst eine dauerhafte Belegung von Plätzen, Straßen oder Parks oft nicht zu.
Ob und inwieweit Art. 8 Abs. 1 GG die Durchführung von Protestcamps im Ganzen schützt, ist verfassungsrechtlich nicht geklärt. Das BVerfG stellte zuletzt in einer Eilentscheidung fest: „ob und in welchem Umfang Art. 8 Abs. 1 GG die Einrichtung von Protestcamps unter Inanspruchnahme öffentlicher Anlagen schützt, wirft schwierige und in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung ungeklärte Fragen auf“ (BVerfG, Beschluss vom 28.6.2017, 1 BvR 1387/17). Die Verwaltungsgerichte behelfen sich in Abwesenheit einer klaren Konturierung des Schutzbereichs durch das BVerfG mit dem Konzept „gemischter Veranstaltungen“. Einzelne Elemente der Versammlungsinfrastruktur können danach dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit unterfallen, wenn sie unmittelbar der Meinungskundgabe dienen. Sind auch Infrastrukturelemente vorhanden, die dies nicht tun, so wird nach dem „Gesamtgepräge“ der Veranstaltung entschieden. Der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG ist eröffnet, soweit diejenigen Elemente, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, diejenigen Elemente überwiegen, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind. Bei Zweifeln „bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung behandelt wird“ (BVerwG, Urt. v. 16.05.2007, 6 C 23.06, Rn. 16).
Diese Schutzbereichsabgrenzung anhand des Kundgabebezugs suggeriert eine Klarheit, die sich in der gerichtlichen Praxis nicht spiegelt. Bereits auf der ersten Stufe – also der Frage nach dem Kundgabebezug eines Gegenstands – ist die Rechtsprechung diffus und uneinheitlich. Versammlungsinfrastruktur sei (zusammengefasst) dann der Versammlungsfreiheit zuzurechnen, wenn der jeweilige Gegenstand „zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional, symbolisch oder konzeptionell für die kollektive Meinungskundgabe wesensnotwendig sei“ (vgl. etwa OVG Schleswig, Beschluss vom 26.03.2021, 2 B 84/21).
Versammlung unter Vorbehalt –Was ist geschützt?
Zu welchen Ergebnissen die Gerichte bei der Anwendung dieser Kriterien kommen, ist für die Veranstalter:innen eines Protestcamps jedoch kaum vorhersehbar. Mangels eindeutiger Maßstäbe bzw. einer verfassungsgerichtlichen Klärung, stellen die Gerichte teilweise unverständlich hohe Hürden an die Durchführung von Protestcamps (vgl. die Darstellung zu G-20 bei Rusteberg). Die Gerichte untersagen regelmäßig die Nutzung von Schlaf-Zelten. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass die Aktivist*innen in Hotels in der Innenstadt, statt im Protestcamp übernachten könnten. Dabei vernachlässigen sie, dass der dauerhafte Aufenthalt, also auch das nächtliche Schlafen, dieser Versammlungsform immanent ist. Mit der symbolischen Bedeutung der Zelte als Protest- und Kommunikationsmittel setzen sie sich oft nicht ernsthaft auseinander – selbst wenn die Anmeldenden die Symbolik der Zelte für ihre politischen Standpunkte ausführlich und schlüssig darlegen.
Die Sicht des durchschnittlichen Betrachters, die Grundlage für die Bewertung der Symbolik sein soll (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.8.2007, 6 C 22/06, juris Rn. 14, 17), wird nicht selten durch den Erkenntnishorizont der Richter*innen ersetzt. Innovative, kreative oder ungewöhnlich und verstörende Kommunikationsmittel haben es dann schwer. Die Gerichte legen auch die funktionale Notwendigkeit unverhältnismäßig eng aus. Sie klammern selbst (einfachsten) Witterungsschutz vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus, da den Protestierenden im Rahmen der Versammlungsfreiheit kein Komfort zustehe oder es einer Versammlung unter freiem Himmel immanent sei, den Witterungsbedingungen ausgeliefert zu sein (so VG Hamburg, Beschluss vom 4.9.2020, 13 E 3768/20).
Die Praxis vieler Behörden und Gerichte führt damit auch faktisch zu einem Genehmigungsvorbehalt für jedes einzelne Infrastrukturelement. Die Anmelder:innen der Camps müssen für jeden Gegenstand darlegen, dass dieser dem Zweck der Versammlung dient. Die Hamburger Versammlungsbehörde etwa gestattete dem dortigen Klimacamp – selbst im Winter – nur den Aufbau eines geöffneten Pavillons und Zelte nur zur Aufbewahrung anderer Kundgebungsmittel. Die Einbringung weiterer Infrastruktur wurde durch eine versammlungsrechtliche Auflage unter einen Genehmigungsvorbehalt gestellt; das Schlafen am Versammlungsort untersagt. Mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 GG, der grundsätzlich die erlaubnis- und genehmigungsfreie Durchführung einer Versammlung ermöglicht, sind diese Darlegungserfordernisse kaum zu vereinbaren. Wie schwer der Eingriff in Art. 8 Abs.1 GG wiegt, zeigt die Durchsetzung der Auflagen durch die Hamburger Behörden und Polizei: Beamt*innen wecken nachts plan- und regelmäßig schlafende Demonstrierende im Camp, und dokumentierten mit Fotoaufnahmen, wenn doch Demonstrierende eingeschlafen waren. Wegen eines mobilen Klaviers im Camp leitete die Polizei ein Strafverfahren gegen die Anmelder:innen ein.
Andere Gerichte, wie jüngst das VG Oldenburg (VG Oldenburg, Beschluss vom 12.07.2021, 7 B 2319/21), orientieren sich stärker am Selbstbestimmungsrecht der Anmelder:innen und legen für eine Beurteilung des Zusammenhangs von Campinfrastruktur und Versammlungszweck maßgeblich das vorgetragene Versammlungskonzept zu Grunde. Das Protestcamp gegen den Bau der A20 wurde im vorläufigen Rechtsschutz dem Schutz der Versammlungsfreiheit mit der Begründung unterstellt, dass davon auszugehen sei, dass den Infrastruktureinrichtungen im Camp zumindest teilweise eine funktionale und symbolische Bedeutung im Hinblick auf das Versammlungsthema zukommt. Ausschlaggebend war für das Gericht unter anderem, dass die für das Camp benötigten Zelte öffentlichkeitswirksam jeweils nach einer durch den Bau der A 20 bedrohten Tierart benannt werden sollten die einen Teil des Ökosystems vor Ort symbolisieren.
Ohne höchstrichterliche Klärung bleiben Veranstalter:innen und Protestierende jedoch maßgeblich auf behördliches Entgegenkommen oder Sondergenehmigungen angewiesen , um ihren Anliegen im Rahmen von Protestcamps Ausdruck zu verleihen.
Für ein starkes Selbstbestimmungsrecht
Zu mehr Rechtssicherheit würde eine Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter:innen beitragen. Der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG sollte auf der Grundlage dieses Selbstbestimmungsrechts und der Responsivität des Versammlungsbegriffs von vornherein weit verstanden werden. So kann ein einheitlich handhabbarer Maßstab gebildet werden, der die individuell-freiheitsrechtliche und die demokratisch-teilhaberechtliche Funktion der Versammlungsfreiheit in Einklang bringt und offen ist für neue und dem jeweiligen Begehren entsprechende Versammlungsformen wie Protestcamps.
Das Selbstbestimmungsrecht bildet den Ausgangspunkt der Definition des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 GG. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gehört die Versammlungsfreiheit wie die Meinungsfreiheit zu den für ein freiheitliches Staatswesen elementaren Kommunikationsgrundrechten. Das Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter:innen ist daher weit zu verstehen und schützt vor staatlicher Einmischung nicht nur hinsichtlich des Inhalts der Versammlung, sondern auch hinsichtlich ihrer Form (vgl., BVerfGE 69, 315 (343) – Brokdorf). Dieses versammlungsrechtliche Distanzgebot verbietet es dem Staat den Sinn und Zweck des Protestgegenstandes sowie die Wirksamkeit der gewählten Form zu beurteilen oder zu hinterfragen – freilich soweit sich Protestgegenstand und Form in den Grenzen des Grundgesetzes und außerhalb des Strafrechts befinden.
Daneben streitet die demokratisch-teilhaberechtliche Komponente des Art. 8 GG für ein responsives und dialogorientiertes Versammlungsrecht. Eine effektive Teilhabe am öffentlichen Diskurs umfasst neben dem Recht der Bürger:innen, ihre Meinungen kundzutun, zugleich die Pflicht des Staates, für das Kundgetane empfänglich zu sein. Kurz gesagt: Das Versammlungsrecht darf den Teilnehmer:innen nicht nur eine Stimme geben, sondern muss ihnen auch Gehör schenken (vgl. Schaefer, Die Verwaltung 2016 (49), 463, 476). Dies gelingt aber nur dann, wenn der Versammlungsbegriff offen ist für gesellschaftliche Entwicklungen, die in neuen Kommunikationsmitteln und Protestformen zum Ausdruck kommen.
Für die behördliche und gerichtliche Praxis bedeutet diese Perspektive auf die Versammlungsfreiheit nicht notwendig eine Abkehr von den Kriterien des funktionalen und symbolischen Zusammenhangs. Geringere Anforderungen an die Schutzbereichseröffnung verschieben die Darlegungslast für mögliche Einschränkungen wieder auf die Seite der Versammlungsbehörden. Soweit die Veranstalter:innen einen Zusammenhang von Campinfrastruktur und Versammlungszweck plausibel dargelegt haben, trägt die Behörde die Darlegungs- und Beweislast für mögliche Einschränkungen. Denn auch wenn Protestcamps dem Schutz von Art. 8 Abs. 1 GG unterstellt werden, ist dieser Schutz nicht absolut. Einschränkungen bleiben stets möglich, insbesondere durch versammlungsrechtliche Auflagen, wenn im Einzelfall eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegt, vgl. § 15 Abs. 1 VersG Bund.
Im Zweifel für die Versammlungsfreiheit
Das Gebot meinungsfreundlicher Auslegung (vgl. BVerfGE 7, 198 (212); BVerfGE 93, 266 (294 f.)) im Rahmen der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG), gibt eine übertragungsfähige Dogmatik vor, die auch in der Rechtsprechung des BVerwG und BVerfG zu Art. 8 Abs. 1 GG schon anklingt. Danach ist für den Fall, dass eine Aussage auf verschiedene Arten gedeutet werden kann, im Zweifel die von der Meinungsfreiheit geschützte Deutungsmöglichkeit zu wählen, sofern sie nicht offensichtlich unplausibel ist. Übertragen auf den Schutz von Infrastrukturen durch Art. 8 Abs. 1 GG bedeutet dies, dass die Behörden an die Darlegung der Veranstalter:innen, eine Infrastruktur diene dem kommunikativen Zweck der Versammlung, diesen Plausibilitätsmaßstab anlegen müssen. Die Darlegung der Protestierenden, eine bestimmte Verhaltensweise diene dem Zweck der öffentlichen Meinungskundgabe oder sei sogar selbst Meinungskundgabe, unterliegt damit nur noch einer eingeschränkten behördlichen Kontrolle.