29 March 2017

Wirtschaft und Menschenrechte: die „Loi Rana Plaza“ vor dem französischen Conseil constitutionnel

Im April 2013 stürzte das Rana Plaza-Fabrikgebäude in Bangladesch ein. Mehr als eintausend Arbeiterinnen, die für amerikanische und europäische Modekonzerne produzierten, starben, mehr als 2400 wurden verletzt. Ähnliche Vorfälle und Missstände in globalen Lieferketten sorgen immer wieder für Schlagzeilen: Sklaverei in der südostasiatischen Fischereiindustrie, Auftragsmorde an Gewerkschaftern oder Umweltschützerinnen in Südamerika, ein Massaker lokaler Sicherheitskräfte an streikenden Arbeitern einer südafrikanischen Platinmine, Großbrände in südasiatischen Textilfabriken. Aus der Perspektive der Industriestaaten werfen solche Fälle eine grundlegende (Rechts-)frage auf: Welche Verantwortung trifft ein hier ansässiges Unternehmen, dafür zu sorgen, dass sich Derartiges in der eigenen globalen Liefer- oder Wertschöpfungskette nicht zuträgt? Was folgt daraus, wenn am Produktionsstandort ausreichende Sicherheitsstandards bekanntermaßen fehlen oder die lokalen Behörden unfähig, unwillig oder schlicht zu korrupt sind, um die dort geltenden Vorschriften durchzusetzen? Bislang gibt weder die deutsche noch irgendeine andere Rechtsordnung auf diese Fragen klare und abschließende Antworten. Die Bundesregierung reagierte auf das Fanal von Rana Plaza mit der Gründung eines „Bündnisses für nachhaltige Textilien“ sowie einem Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte, scheut sich jedoch bislang vor einer rechtsverbindlichen Klärung der aufgeworfenen Fragen. Der französische Gesetzgeber ging diese Fragen etwas mutiger an, indem er mit der „Loi Rana Plaza“ das weltweit erste Gesetz zur Regelung einer verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht für Unternehmen schuf.

Das Gesetz hat nun seine erste Bewährungsprobe bestanden. Im Rahmen einer präventiven Normenkontrolle entschied der Conseil constitutionnel (eine dem Bundesverfassungsgericht nur entfernt vergleichbare Institution) am 23. März 2017 über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Lediglich die vorgesehene Sanktion der Geldbuße kassierte er und gab dem Gesetz im Übrigen grünes Licht. Am 28. März 2017 ist es im französischen Gesetzblatt verkündet worden. Um das richtungsweisende Gesetz und die Entscheidung des Conseil constitutionnel soll es im Folgenden gehen.

Das Gesetz über die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Unternehmen

Nach jahrelangem Ringen mit dem Senat verabschiedete die französische Nationalversammlung Ende Februar das Gesetz über die Sorgfaltspflicht der Muttergesellschaften und der auftraggebenden Unternehmen. Hinter dem etwas kryptischen Titel verbirgt sich eine Ergänzung des französischen Handelsgesetzbuches, die im Kern die gesetzliche Anordnung einer „menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht“ vorsieht (in Anlehnung an die human rights due diligence in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte).

Der Anwendungsbereich des Gesetzes beschränkt sich auf Unternehmen mit Sitz in Frankreich, die mindestens 5.000 Beschäftigte auf französischem Territorium oder mindestens 10.000 Beschäftigte weltweit haben. Der persönliche Anwendungsbereich ist damit relativ eng: Betroffen sind voraussichtlich nur ca. 150 französische Unternehmen.

Das Gesetz verpflichtet die erfassten Unternehmen, einen wirksamen plan de vigilance (wörtlich: Wachsamkeitsplan, passender wohl: Vorsichtsmaßnahmen- oder Monitoringplan) einzurichten. Dieser Plan muss angemessene Vorsichtsmaßnahmen enthalten, um die Risiken schwerer Beeinträchtigungen der Menschenrechte und der „Grundfreiheiten“ (libertés fondamentales), insbesondere der Gesundheit und Sicherheit von Menschen sowie der Umwelt zu erkennen und ihnen vorzubeugen. Bahnbrechend ist dabei, dass das Unternehmen nicht nur die eigenen Tätigkeiten in den Blick nehmen, sondern auch Tochtergesellschaften sowie Subunternehmer und Zulieferer einbeziehen muss. Letztere allerdings nur dann, wenn zu ihnen eine gefestigte Geschäftsbeziehung besteht und auch nur soweit die Tätigkeit des Zulieferers im Zusammenhang zur Geschäftsbeziehung stehen.

Das Gesetz konkretisiert die Mindestanforderungen an den plan de vigilance durch eine Aufzählung fünf konkreter Maßgaben, darunter etwa die Erstellung eines „Risikoatlas’“ (cartographie de risques) und die Einrichtung eines Warn- bzw. Whistleblowingsystems. Der plan de vigilance sowie ein entsprechender Umsetzungsbericht müssen veröffentlicht werden.

Zur Durchsetzung der materiellen Sorgfaltspflicht sind drei Mechanismen vorgesehen: Gerichtlich angeordnete Zwangsmaßnahmen, die zivilrechtliche Haftung für kausal auf einer Sorgfaltspflichtverletzung beruhende Schäden sowie ein Bußgeld bis 10 Millionen Euro. Nur an letzterem störte sich der Conseil constitutionnel.

Für eine Strafbewehrung zu unbestimmt

Der Conseil constitutionnel ließ die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht als solche sowie die Durchsetzungsmechanismen der Zwangsmaßnahmen und der zivilrechtlichen Haftung mit Blick auf die Anforderungen an Klarheit der Norm unbeanstandet. Interessant ist dabei, dass er insoweit lediglich vom Bestimmtheitsmaßstab der „Zugänglichkeit und Verständlichkeit“ (accesibilité et intelligibilité) des Gesetzes ausgeht (Rn. 22).

Die Bußgeldbewehrung hingegen verstoße als Sanktion mit Strafcharakter (Rn. 7 f.) gegen das in Art. 8 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 enthaltene Bestimmtheitsgebot für Strafnormen (principe de légalité des délits et des peines, hier also nulla poena sine lege certa). Diese Bewertung begründet der Conseil mit der Unbestimmtheit der verwendeten Begriffe wie „angemessene“ (raisonnable) Sorgfalt, „Menschenrechte“ und „Grundfreiheiten“ sowie mit der sachlichen Weite des Sorgfaltspflicht, die eben auch bestimmte Geschäftspartner einbeziehen müsse (Rn. 9-14).

Anzumerken ist zu dieser Begründung, dass das Bestimmtheitsproblem der Bußgeldsanktion nicht so sehr in der Formulierung der Sorgfaltspflicht unter Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, sondern vielmehr im Fehlen eines konkretisierten Bußgeldtatbestandes liegt. Das Gesetz ordnet ohne Definition eines solchen schlicht an: „Der Richter kann die Gesellschaft zu einer Geldbuße (amende civile) bis 10 Millionen Euro verurteilen“ (Art. L. 225-102-4. – I. Abs. 3 S. 1).

Eine den Bestimmtheitsanforderungen eines Bußgeldtatbestandes genügende Ausgestaltung wäre durchaus möglich gewesen. Zumindest hätte das Bußgeld etwa an das Unterlassen der im Gesetz aufgeführten Einzelmaßnahmen (Erstellung eines Risikoatlas etc.) anknüpfen können. Auf der sicheren Seite wäre der Gesetzgeber jedenfalls dann gewesen, wenn er die Sanktion an die Verletzung noch weiter konkretisierter Handlungspflichten wie der Dokumentation des Risikoatlas’, der Veröffentlichung eines Berichts oder Ähnlichem angeknüpft hätte.

Auch wenn der Conseil constitutionnel das Gesetz mit Ausnahme der Bußgeldbewehrung für hinreichend bestimmt (bzw. verständlich) hält, könnte es im Sinne eines höheren Maßes an Rechtssicherheit und -klarheit durchaus noch weiterentwickelt werden. So ließe sich der Begriff der „Menschenrechte“ durch Bezugnahme auf bestimmte Menschenrechtskataloge und die ILO-Kernarbeitsnormen näher konkretisieren. Auch der Begriff der Angemessenheit („mesures de vigilance raisonnable“) ist einer Konkretisierung durch Festlegung bestimmter Angemessenheitskriterien zugänglich (siehe zu diesen Ideen den Vorschlag für ein deutsches Sorgfaltspflichtengesetz).

Neben den Bestimmtheitsfragen reißt der Conseil constitutionnel noch einige weitere Rügen kurz an (unternehmerische Freiheit/Geschäftsgeheimnisschutz: Rn. 15-19; Diskriminierungsverbot: Rn. 20 f.; effektiver Rechtsschutz: Rn. 28), verwirft sie jedoch mit knapper Begründung. Verständlicher werden die dahinterstehenden Erwägungen möglicherweise mit der Veröffentlichung des Commentaire zu der Entscheidung, der hier abrufbar sein wird.

Schadenshaftung bei Verletzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht

Ein zweiter Schwerpunkt der Entscheidung ist die Haftungsregelung in Art. 2 des Gesetzes. Den Vorwurf, die Regelung führe unter Verstoß gegen das in Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verankerte „Verantwortungsprinzip“ zu einer unzulässigen Haftung für Handlungen Dritter, weist er zurück. Das Gesetz verweise auf die allgemeinen Haftungsregeln des französischen Zivilrechts (die Generalklausel in Art. 1240 sowie Art. 1241 Code civil) und setze eine direkte Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden voraus (Rn. 27).

In der Tat begründet die Haftungsregelung keine Zurechnung fremden Verschuldens (der Tochtergesellschaft, des Subunternehmers oder des Zulieferers). Vielmehr sollen Mutterunternehmen und Auftraggeber für die Verletzung der eigenen menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht haften, wenn die Pflichtverletzung kausal für den eingetretenen Schaden ist.

Fallstricke des Internationalen Privatrechts

Die Haftungsregelung wirft eine weitere, praktisch relevante und juristisch interessante Frage des Internationalen Privatrechts auf: Ist die Haftungsregelung auf die Fälle, auf die sie zugeschnitten ist (etwa Arbeits- und Industrieunfälle im globalen Süden), überhaupt anwendbar? Der Conseil constitutionnel befasst sich mit der Frage nicht wirklich (brauchte dies wohl auch nicht), geht aber explizit von der Anwendbarkeit auf Auslandssachverhalte aus (Rn. 28). So trivial ist dies jedoch nicht. Denn auf außervertragliche Ansprüche aus unerlaubter Handlung findet grundsätzlich das Recht desjenigen Staates Anwendung, in dem der Schaden eingetreten ist (Art. 4 Abs. 1 der Rom II Verordnung). Das ist in den relevanten Fällen vom Typus „Rana Plaza“ eben nicht französisches, sondern das lokale Recht des Fabrikstandortes. Die Rom II Verordnung enthält allerdings verschiedene Möglichkeiten, der lex fori – hier also dem französischen Recht – auch in solchen Fällen zur Anwendung zu verhelfen. Die überzeugendste Lösung ergibt sich aus Art. 16 der Rom II VO. Die Vorschrift ermöglicht es dem Forumstaat, durch sogenannte „Eingriffsnormen“ Sachverhalte zwingend zu regeln. Eingriffsnormen sind solche Vorschriften, die der Forumstaat so bedeutsam für die „Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation“ findet, dass sie Vorrang vor dem eigentlich anwendbaren Recht haben sollen (vgl. Art. 9 der Rom I Verordnung). Dass diese Voraussetzungen auf eine gesetzlich geregelte menschenrechtliche Sorgfaltspflicht zutreffen, lässt sich jedenfalls gut vertreten. Hier hätte der Eingriffsnormcharakter der Sorgfaltspflicht im Normtext allerdings explizit klargestellt werden können. Diesen Weg geht beispielsweise die Schweizer Volksinitiative (siehe Art. 101a Abs. 2 lit. c) des Initiativtextes). Obwohl das Problem im französischen Gesetzgebungsverfahren erkannt worden war (S. 32 des Berichts No 2628), fand ein klarstellender Änderungsantrag keine Mehrheit.

Ein Meilenstein in der Geschichte des Globalisierungsfolgenrechts

Weltweit gibt es eine Reihe von Regelungsansätzen, mit denen in den „Heimatstaaten“ global tätiger Unternehmen versucht wird, den Menschenrechtsschutz in transnationalen Wertschöpfungsketten zu verbessern. Beispiele für eine derartige home state regulation sind etwa der California Transparency in the Supply Chains Act oder der UK Modern Slavery Act. Auch das kürzlich verabschiedete CSR-Richtlinienumsetzungsgesetz gehört in diese Reihe. Diese Ansätze lassen sich als ein in Entwicklung befindliches „Globalisierungsfolgenrecht“ beschreiben: Auch wenn sich dort noch keine verbindlichen Regelungen einer umfassenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht findet, haben sie das gemeinsame Ziel, die ökologischen und menschenrechtlichen Risiken globaler Wertschöpfungsketten rechtlich einzuhegen.

Mit dem französischen Gesetz ist es nun erstmals gelungen, eine umfassende menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für Unternehmen gesetzlich zu verankern und mit „harten“ Durchsetzungsmechanismen zu versehen. Auch wenn das Gesetz vorerst ohne Bußgeldbewehrung auskommen muss und es an einigen Stellen noch das aufgezeigte Entwicklungspotential hat, wird es als Meilenstein in die Geschichte des Globalisierungsfolgenrechts eingehen.

Vorschläge, wie eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht durch eine Ergänzung des BGB oder die Schaffung eines neuen Stammgesetzes im deutschen Recht geregelt werden könnte, liegen vor und sind im Bundestag bereits aufgegriffen worden. In der Schweiz gibt es einen  Regelungsvorschlag einer Volksinitiative. In den Niederlanden gibt es eine Gesetzgebungsinitiative für eine Sorgfaltspflicht zur Vermeidung von Kinderarbeit. Auf europäischer Ebene geht die Entwicklung in eine ähnliche Richtung: Das Europäische Parlament hat vor wenigen Wochen den Entwurf für eine Konfliktmineralien-Verordnung gebilligt, die ebenfalls Elemente einer Sorgfaltspflicht enthält. Der Entwicklungsausschuss treibt eine EU-Leitinitiative für die Bekleidungsbranche in ähnlicher Richtung voran. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der Gesetzgeber in anderen Ländern oder auf Unionsebene dem französischen Vorbild folgt.