28 February 2022

Wirtschaftssanktionen gegen Russland und ihre rechtlichen Grenzen

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat viele Opfer: zuvörderst Menschenleben, die territoriale Integrität des ukrainischen Staates, die Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes, die Demokratie, die internationale Stabilität und Sicherheit und nicht zuletzt auch das Völkerrecht als solches. Nachdem der Westen direkten militärischen Beistand früh ausgeschlossen hat, bleiben neben Waffenlieferungen an die Ukraine nur Wirtschaftssanktionen als Gegenmaßnahme.1)

In der Dynamik der letzten Tage wurden von den USA, der Europäischen Union und anderen Staaten Sanktionen gegen Russland beschlossen, die als „beispiellos“ und „verheerend“ bezeichnet wurden. Personenbezogene Sanktionen beschränken die Bewegungsfreiheit und beschlagnahmen das Vermögen nicht mehr nur der dritten und zweiten Reihe der russischen Führung, sondern mit Einschränkungen auch von Präsident Putin und Außenminister Lawrow selbst. Finanzsanktionen schneiden russische Banken und die Zentralbank von westlichen Finanzmärkten ab, der teilweise Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungsabwicklungssystem isoliert das russische Finanzsystem weltweit. Russland spricht von “illegitimen“ Sanktionen und trifft Gegensanktionen, droht gar mit atomarer Abschreckung. Auch im Angesicht einer in jüngerer Zeit beispiellosen russischen Aggression stellt sich die Frage, ob die erlassenen Sanktionen noch im Einklang mit dem Völker- und Europarecht stehen. Gerade der teilweise Ausschluss von SWIFT stellt die Frage auf, ob es sich dabei nicht um eine extraterritoriale Sanktion handelt: zwingt hier die Europäische Union über die Belegenheit von SWIFT in Belgien anderen Staaten Sanktionen gegen Russland auf?

Die erlassenen Sanktionen sind nicht so beispiellos, wie es die Politik darstellt, beispiellos ist nur der Einsatz gegen eine Großmacht und die Bedeutung für die Weltwirtschaft. Der Iran musste im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen und sein Atomprogramm bereits schwerere Sanktionen einschließlich eines weitgehenden Öl- und Gasembargos und eines vollständigen Ausschlusses von SWIFT für eine gewisse Zeit hinnehmen. Wirklich verheerend waren die umfassenden Wirtschaftssanktionen gegen den Irak unter der Führung Saddam Husseins, die zu einer Unterernährung der Bevölkerung führten, wenngleich die Auswirkungen durch das Regime selbst verschärft und auch als Waffe gegen die kurdische Minderheit missbraucht wurden.2)

Bei dem gegen Russland erlassenen Sanktionspaket handelt es sich dagegen um zielgerichtete, „smarte” Sanktionen. Ziel von Wirtschaftssanktionen ist es grundsätzlich, das politische Kalkül der russischen Führung durch die Auferlegung zusätzlicher politischer Kosten zu verändern: Sie sollen die russische Bevölkerung dazu bringen, den innenpolitischen Druck auf ihre Führung zu verstärken, die Außenpolitik zu ändern. Trotz des russischen Unterdrückungsapparates sind mehrere Tausend mutige russische Bürgerinnen und Bürger gegen den Krieg auf die Straße gegangen, viele wurden sogleich verhaftet. Können Sanktionen dazu führen, dass sich zehn- oder hunderttausende erheben?

Diese Logik sieht sich vielerlei Kritik ausgesetzt: die Bevölkerung muss leiden, was zu einer Stärkung der Herrschaft führen kann („rally around the flag“).3) Moderne, technisch hochgerüstete Überwachungs- und Desinformationsstaaten können Protest effektiv unterdrücken. Die Bevölkerung ist kein monolithischer Block, so dass „smarte“ Sanktionen gegen die herrschende Elite und ihre Unterstützer bei Schonung der breiten Bevölkerungsmasse mehr Effektivität versprechen.4) Die Fernsehinszenierung, die Präsident Putin vor dem Angriff mit seinem nationalen Sicherheitsrat veranstaltete und bei der er öffentliche Bekenntnisse jedes Mitglieds erforderte, mag ein Anzeichen dafür sein, dass die Geschlossenheit der Führungselite nicht selbstverständlich ist. Auch wenn den betroffenen Personen der Führungselite in Russland und nicht an den Sanktionen beteiligten Ländern immer noch hinreichend Vermögen und Annehmlichkeiten zur Verfügung stehen sollten, ist die persönliche Zuschreibung von Verantwortung von hohem symbolischen Wert.

Ein weiterer Ansatz für smarte Sanktionen ist es, nicht die ganze Außenwirtschaft, sondern nur wichtige Schlüsselindustrien und das Finanzsystem zu sanktionieren. Mit einem relativ schmalen Tatbestand lässt sich ein großer wirtschaftlicher Schaden erzielen. Mittel der Wahl sind daher im Falle Russlands Sanktionierungen der Rohstoffindustrie, Hochtechnologie und des Finanzsystems. Diese Sanktionstechnik wird bereits seit 2014 genutzt, allein der teilweise Ausschluss vom SWIFT-Nachrichten-System ist nicht nur eine quantitative, sondern wegen der weltweiten Wirkung auch eine qualitative Steigerung.

Schließlich haben Sanktionen generell eine wichtige symbolische5) wie rechtliche Wirkung: angesichts des Völkerrechtsbruchs bekräftigen sie dessen Geltung und beugen einer schleichenden Änderung über die Staatenpraxis vor.

Warum handelt die Europäische Union und nicht der UN-Sicherheitsrat oder Deutschland? Eigentlich ist das Verhängen von Sanktionen gegen einen Staat, der das Gewaltverbot verletzt, zuerst Sache des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, in dem Russland trotz seiner Befangenheit jedoch ein Vetorecht innehat. Daher sind nationale Wirtschaftssanktionen gefragt. Innerhalb der Europäischen Union gehört dies freilich zu den Unionskompetenzen, da der Außenhandel betroffen ist, Art. 215 AEUV. Da zugleich aber die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betroffen ist, bedarf es zuerst eines einstimmigen Beschlusses des Rates nach Art. 29 EU, so dass jeder Staat eine Vetomöglichkeit hat. Die Sanktion ergeht dann in Form einer Verordnung, welche in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfaltet.

Völkerrecht

Auch wenn die Sanktionen nicht so beispiellos sind, wie dargestellt, stellen sie einen schwerwiegenden Eingriff in die internationale Wirtschaftsordnung dar und sind rechtlich nicht ohne weiteres zulässig, insbesondere wenn sie sich auch auf Drittstaaten auswirken, wie im Fall des SWIFT-Ausschlusses.

Wirtschaftssanktionen betreffen zuerst das Welthandelsrecht, weil sie Waren und Dienstleistungen aus den Zielstaaten vom Marktzugang ausschließen und diskriminieren. Das Welthandelsrecht und auch bilaterale Verträge enthalten jedoch breit verstandene Sicherheitsausnahmen, insbesondere auch für Krieg und Notfälle in den internationalen Beziehungen (Art. XXI (b) (iii) GATT; Art. 99 Nr. 1 d) Partnerschaftsabkommen EU-Russland).

Wirtschaftssanktionen verstoßen richtiger und nahezu einhelliger Auffassung nach nicht gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 UN-Charta, das nur militärische Gewalt erfasst, wie sie Russland einsetzt. Selbst wenn man anderer Auffassung wäre, würde aber das Recht auf kollektive Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta Wirtschaftssanktionen erlauben.6) Tatsächlich darf jeder Staat der von Russland angegriffenen Ukraine völkerrechtsmäßig auch mit Waffengewalt zur Hilfe eilen – und damit erst recht auch mit Sanktionen.

Wirtschaftssanktionen müssen sich jedoch am Interventionsverbot (Art. 2 Abs. 7 UN-Charta) messen lassen. Dieses lässt sich sinnvoll nur vor dem Hintergrund territorialer Souveränität verstehen: Eingriffe in die Regelungs- oder gar Vollzugskompetenz anderer Staaten sind demnach verboten, sofern nicht eine eigenständige Regelungskompetenz für den grenzüberschreitenden Sachverhalt besteht. Nun mag man argumentieren, dass die Verhängung von Wirtschaftssanktionen für Handel aus dem eigenen Staatsgebiet gar keine grenzüberschreitende Wirkung habe (Drittstaaten betreffende Sanktionen wie den SWIFT-Ausschluss ausgenommen). Im Rahmen der Globalisierung und der fortgeschrittenen Arbeitsteilung sind die Staaten jedoch aufeinander angewiesen. Der grenzüberschreitende Handel berührt demnach auch die Souveränität Russlands, so dass Sanktionen durch ein entsprechendes Schutzinteresse der Europäischen Union und der anderen sanktionierenden Staaten gedeckt sein muss.

In der völkerrechtlichen Praxis der Staaten hat sich die Überzeugung entwickelt, dass nicht jedes Schutzinteresse genügt, sondern dass es die durch das Interventionsverbot geschützten Interessen des sanktionierten Staates überwiegen muss. Hier können die Regeln der guten Nachbarschaft angeführt werden,7) die sogenannte „comitas“ als rechtlich verfestigte „Höflichkeit“ der Staaten im Umgang miteinander und daraus folgend eine „rule of reasonableness“, eine Angemessenheitskontrolle.8) Sanktionen, die auf Regimewechsel oder Demokratisierung (so im Falle Kubas) abzielen, verstoßen im Ergebnis9) gegen das Interventionsverbot. Sanktionen gegen schwerwiegende Menschenrechtsverstöße, relevante Bedrohungen der internationalen Sicherheit und Verstöße gegen das universelle, erga omnes geschuldete zwingende Völkerrecht sind jedoch auch selbst nicht betroffenen Drittstaaten erlaubt (so auch Art. 48 Abs. 1. Lit. b) der ILC drafts on state responsibility). Schon die Besetzung und Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine waren schwere Verstöße gegen das Gewaltverbot und die territoriale Souveränität der Ukraine. Dies gilt erst recht für eine groß angelegte Invasion unter Verstoß gegen das Gewaltverbot und mit dem Ziel des Regierungswechsels und der weiteren Verletzung der territorialen Integrität. Das Recht auf kollektive Selbstverteidigung in Art. 51 UN-Charta beinhaltet im Einklang damit die bereits erwähnte Befugnis aller UN-Mitgliedstaaten, Wirtschaftssanktionen gegen den Angreifer Russland zu verhängen.

Problematischer ist der Ausschluss von Russland aus dem SWIFT-Netzwerk, da auch der Zahlungsverkehr von Drittstaaten behindert wird, die selbst möglicherweise keine Sanktionen vorsehen. Es gibt jedoch über das Nachrichtensystem einen territorialen Bezug zur Europäischen Union, da die Zahlungsinformationen der Drittstaaten über das Territorium der Europäischen Union laufen. Ist der territoriale Bezug zur Europäischen Union zwar beschränkt, so genügt er doch, zumindest angesichts des schwerwiegenden Völkerrechtsverstoßes durch Russland. Es handelt sich daher um keine extraterritoriale Sanktion nach US-amerikanischer Praxis, bei der Unternehmen der Marktzugang zu den USA und dem US-Dollar gekappt wird, wenn sie ihrerseits nicht die Beziehungen zum sanktionierten Staat, z.B. Iran, einstellen. Dort gibt es keinen Zusammenhang zwischen den Geschäften mit den USA und den Geschäften mit dem Iran. Im Fall von SWIFT wird hingegen verhindert, dass die Europäische Union den Zahlungsverkehr mit Russland erleichtert.

Menschenrechtliche Grenzen und Entschädigung

Sind die Wirtschaftssanktionen gegen Russland somit dem Grunde nach zulässig, müssen bei der Ausgestaltung die menschen- und grundrechtlichen Grenzen einschließlich der Verhältnismäßigkeit beachtet werden (so auch Art. 50 b) ILC drafts on state responsibility).10) Auf Ebene der EMRK, der EU-Grundrechte und auch der deutschen Grundrechte ist anerkannt, dass die Grundrechtsbindung nicht zwingend an der Landesgrenze endet, sondern zumindest in ihrer Abwehrdimension auch ausländische Folgen staatlichen Handelns erfasst.

Die Sanktionen sind auch justiziabel: Wer individuell betroffen ist, kann Nichtigkeitsklage erheben (Art. 263 Abs. 4 AEU i.V.m. Art. 275 Abs. 2 AEU) und es gibt auch bereits Rechtsprechung. Rechtschutz besteht jedenfalls für personen- oder gruppenbezogene Sanktionen: So hat der EuGH in der Rosneft-Entscheidung11) auf die namentliche Individualisierung von Rosneft in dem Rechtsakt verwiesen. Darüber hinaus sollte jedoch auch eine konkrete faktische Betroffenheit genügen, wenn beispielsweise Schlüsseltechnologien für bestimmte Industrien mit Ausfuhrverboten belegt werden.

Der legitime Zweck der Sanktionen ist die Verhinderung oder nun Beendigung des internationalen bewaffneten Konflikts. An diesem Zweck ist ihre Verhältnismäßigkeit zu messen. Geeignet, ihn zu erreichen, sind sie jedenfalls: Auch wenn es schwer ist, das politische Kalkül im Falle Russlands zu beeinflussen, fördern Sanktionen einen entsprechenden Politikwechsel und beschränken durch Aufrechterhaltung des normativen Anspruchs des Völkerrechts jedenfalls die Folgen. Nachdem die Diplomatie gescheitert ist, sind mildere, gleich wirksame Mittel nicht ersichtlich.

Im Rahmen der Angemessenheit überwiegt die Friedenssicherung grundsätzlich auch erhebliche wirtschaftliche Nachteile. Es kann erwogen werden, ein schonendes stufenweises Heraufschrauben der Sanktionen zu verlangen. Der EuGH hat dies in der Entscheidung Rosneft bei der Verhältnismäßigkeit hervorgehoben.12) Allerdings soll das die Wirksamkeit von Sanktionen vermindern.13) Nun hat der Angriff eine Vorgeschichte, und Sanktionen im Zusammenhang mit der Ukraine bestehen seit 2014 und wurden zwischenzeitlich immer wieder erweitert, ohne dass dies das Kalkül der russischen Führung hinreichend beeinflusst hat. Eine stufenweise Steigerung der Sanktionen ist daher jedenfalls gegeben, eine weitere Abstufung ist angesichts der kaum noch zu eskalierenden Aggression nicht notwendig. Eine weitere Grenze bildet das Recht auf Leben: Sanktionen müssen humanitäre Ausnahmen enthalten, welche die Versorgung mit Wasser-, Lebensmitteln und Medizinprodukten sicherstellt, was bei den umfassenden Sanktionen gegen den Irak zeitweise nicht der Fall war. Bei gezielten Sanktionen gegen die russische Finanz- und Energiewirtschaft sind jedoch keine lebensbedrohenden Versorgungslücken absehbar. Dennoch müssen die sanktionierenden Staaten die Folgen der Sanktionen beobachten und bei Bedarf entsprechende humanitäre Ausnahmen vorsehen. So könnten Lebensmittel und Medizinprodukte im Austausch für Rohstoffe geliefert werden.

Von den Sanktionen sind auch europäische und deutsche Unternehmen betroffen, die Geschäfte abbrechen müssen oder nicht annehmen können. Das greift in ihre Berufs- und Unternehmerfreiheit ein, ist aber entsprechend dem oben Gesagten gerechtfertigt. Entschädigungen für entgangene Gewinne kommen grundsätzlich nicht in Betracht. Erteilte Ausfuhrgenehmigungen stehen regelmäßig unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Unternehmen, die spezifisch von den Sanktionen betroffen sind und sich so im allgemeinen Interesse „aufopfern“ müssen, haben ebenfalls kaum Aussicht auf Entschädigung. Das EuG hat in der Rechtssache Dorsch Consult14) rechtskräftig entschieden, dass auch ein Sonderopfer einzelner Unternehmen oder Gruppen von Unternehmen durch den Sanktionszweck gerechtfertigt ist. Dies irritiert, da ein Aufopferungsanspruch ja gerade auch für rechtmäßige Handlungen gewährt wird, die nur durch die Härte des Sonderopfers insoweit rechtswidrig würden. Allerdings stellte das EuG in der Entscheidung auch maßgeblich auf das Geschäftsrisiko ab: Waren Sanktionen absehbar, gehören deren Folgen zum allgemeinen Geschäftsrisiko, das von den Unternehmen zu tragen ist. Das dürfte zumindest seit dem Erlass erster Sanktionen in Folge der Krim-Besetzung im Jahr 2014 der Fall sein. Der BGH hat einen Aufopferungsanspruch nach deutschem Staatshaftungsrecht abgelehnt, soweit die Sanktionen durch EU-Verordnung vorgegeben sind und daher auch haftungsrechtlich der Europäischen Union zuzurechnen seien.15)

Im Ergebnis stehen die erlassenen Wirtschaftssanktionen, aber auch weitere Verschärfungen, auf si