22 August 2022

Die unklare Zukunft der Wissenschaftstransparenz

Wann äußert sich das Bundesverfassungsgericht zur Zweitverwertungspflicht?

Müssen Wissenschaftler ihre Ergebnisse frei zugänglich machen? Unter diesem Titel wurde vor fünf Jahren über ein Normenkontrollverfahren in Baden-Württemberg berichtet, auf das damals die deutsche Wissenschaft mit Spannung wartete. Das Interesse an der Frage ist ungebrochen, betrifft sie doch den Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit. Deshalb sollte der Rechtsstreit in Baden-Württemberg „Signalwirkung für […] den ganzen deutschsprachigen Raum haben“. Nicht umsonst beschäftigt er seit September 2017 auch das Bundesverfassungsgericht, dem das Verfahren zur Entscheidung einer Vorfrage vorgelegt wurde. Bald jährt sich die Vorlage zum fünften Mal. Was seither geschah?

Nichts.

Absolut gar nichts.

Das Große Schweigen aus Karlsruhe: Fünf Jahre „absolute Funkstille“

Wir erinnern uns: 17 Konstanzer Professor:innen der Literatur- und Rechtswissenschaften wehrten sich gegen die „Satzung zur Ausübung des wissenschaftlichen Zweitveröffentlichungsrechts” ihrer Hochschule. Denn diese sah eine dienstrechtliche Pflicht zur Ausübung des Zweitverwertungsrechts nach § 38 Abs. 4 Satz 1 UrhG vor, also zur freien digitalen Bereitstellung ihrer bereits publizierten Fachtexte. Dagegen wehrten sich die Wissenschaftler:innen unter Berufung auf ihr Grundrecht aus Art. 5 GG. Der für ihren Normenkontrollantrag zuständige Verwaltungsgerichtshof Mannheim ließ solche materiellen Fragen zunächst offen, weil er schon Zweifel an der formellen Verfassungsmäßigkeit der landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage hatte. Er hielt die Satzungsermächtigung (§ 44 Abs. 6 LHG) für eine Vorschrift des Urheberrechts, und Urheberrecht fällt nach Art. 71, 73 Abs. 1 Nr. 9 GG in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Damit wurde „am Ende alles nur eine Kompetenzfrage“ – und genau die sollte das am 26. September 2017 angerufene Bundesverfassungsgericht beantworten.

Fast ein halbes Jahrzehnt ist seither ins Land gegangen. Der Autor dieser Zeilen erkundigte sich wiederholt nach dem Stand des Verfahrens und durfte praktisch im Jahrestakt die immer gleiche Standardfloskel lesen: „zu Ihrer oben genannten Anfrage teile ich Ihnen mit, dass das Normenkontrollverfahren 2 BvL 3/18 derzeit noch in Bearbeitung ist. Ein konkreter Entscheidungstermin ist derzeit nicht absehbar.“ Dieses Mantra der Geschäftsstelle des Zweiten Senats bekam auch ein befreundeter FAZ-Reporter noch vor wenigen Wochen (Ende Juli 2022) von der Pressestelle des Gerichts zu hören: „das Verfahren ist hier weiterhin unter dem Aktenzeichen 2 BvL 3/18 anhängig. Es ist derzeit nicht absehbar, wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist.“ Und ein Verfahrensbeteiligter teilte kürzlich mit: „In Sachen Karlsruhe weiß ich nur: absolute Funkstille.“ Niemand weiß, wann es weitergeht; niemand erfährt, warum nicht.

„Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz.“

So predigt das Bundesverfassungsgericht schon seit 2005 immer wieder. Seither hat es die Maßstäbe dafür, was „zeitgerecht“ sei, wortreich konkretisiert. In einer durch Copy- und Paste-Entscheidungen der Jahre 2012, 2015, 2016 und 2018 etablierten ständigen Rechtsprechung entschied das Gericht:

Ob „der verfassungsrechtlich garantierte Rechtsschutz […] innerhalb angemessener Zeit gewährt“ sei, richte sich nach Art. 19 Abs. 4, Abs. 2 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Diese Vorschriften enthielten zwar (im Gegensatz zu § 97b Abs. 1 Satz 4 BVerfGG, der immerhin eine Untergrenze statuiere) „keine allgemein gültigen Zeitvorgaben“, die Angemessenheit sei also wieder einmal „eine Frage der Abwägung im Einzelfall“. Dennoch geht das Gericht zugleich unter Berufung auf den EGMR davon aus, dass seine Rolle als „Hüter der Verfassung“ es gebiete, „auch andere Überlegungen zu berücksichtigen als die Zeitfolge, in der Fälle registriert werden, zum Beispiel die Art der Sache und ihre politische und soziale Bedeutung“. Insbesondere könne es Verfahren zurückzustellen, deren „Entscheidung von dem Ergebnis eines sogenannten Pilotverfahrens abhängig ist“, oder Verfahren vorrangig behandeln, die „für das Gemeinwesen von besonderer Bedeutung sind“. Das Gericht belässt es auch nicht beim Konjunktiv, sondern erklärt mit resoluter Bestimmtheit: „Verfahren, die für das Gemeinwesen von besonderer Bedeutung sind, ist Vorrang einzuräumen.

Dass eine besondere Bedeutung für das Gemeinwesen auch im Verfahren 2 BvL 3/18 vorliegt, kann angesichts der schon zum Wikipediawissen avancierten „Zeitschriftenkrise“ kaum fraglich sein. Das zugrundeliegende Problem, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer schwerer zu bekommen sind, weil Verlage sie immer teurer verkaufen, wurde auch für die deutsche Rechtswissenschaft dokumentiert. Wissenschaftsinstitutionen auf allen Ebenen des akademischen Betriebs (ERC, DFG, BMBF, MPG, u.v.m.) versuchen seit Jahren gegenzusteuern. Hier reihte sich der baden-württembergische Gesetzgeber 2014 ein: Um den „Zugang zu wissenschaftlichen Informationen für Forscherinnen und Forscher und sonstige am wissenschaftlichen Fortschritt interessierte Kreise“ zu erleichtern, schuf er den nun angegriffenen § 44 Abs. 6 LHG, der trotz fortbestehender Kommerzialisierung der Wissenschaft noch „eine angemessene Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse“ sichern sollte.

Neben Gemeinwohlbelangen zu berücksichtigen seien zwar auch – so ein weiterer Textbaustein der BVerfG-Beschwerdekammer seit mindestens 2012 – „die Natur des Verfahrens, die Bedeutung der Sache und die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere von ihnen zu verantwortende Verfahrensverzögerungen, sowie die gerichtlich nur begrenzt zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen“. Auch unter Berücksichtigung dieser sechs Kriterien könne ein Zeitraum von fünf Jahren je nach den Umständen des Falles allerdings schon als „exorbitant hohe Verfahrensdauer“ gelten, die „unter Berücksichtigung aller Umstände nicht mehr vertretbar“ sei und „die Bedeutung der Garantie effektiven Rechtschutzes verkennt“.

Mit solch kernigen Wendungen kritisierte das Gericht bisher freilich nur die Verfahrensdauer bei Instanzgerichten. Seine eigenen Verfahren beurteilt es wesentlich großzügiger und lässt mitunter schon die hohe Arbeitsbelastung einer Berichterstatterin genügen, um auch eine „Dauer der Pilotverfahren von sechs Jahren und vier Monaten“ als „im Ergebnis nicht unangemessen“ einzustufen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hingegen rügte just diese Verfahrensdauer in einem anderen BVerfG-Verfahren als überlang, weil sie nicht „dem Erfordernis der ‚angemessenen Frist‘ entsprach“. Selbst in diesen Fällen ging es allerdings zumindest um Verfahren besonderer (steuer- bzw. persönlichkeitsrechtlicher) Komplexität. Wie lange dagegen die Entscheidung der aus Baden-Württemberg vorgelegten Kompetenzfrage dauern dürfte, ist völlig offen.

Wie lange darf die Klärung einer Kompetenzfrage dauern?

Der Vorlagebeschluss des VGH Mannheim (Beschl. v. 26.9.2017, Az. 9 S 2056/16) ist ausführlich begründet, zitiert die umstrittenen Vorschriften ebenso umfassend wie er die Prozessgeschichte referiert. Im Kern allerdings geht es um eine einfache Frage: Ist die Vorschrift „Die Hochschulen sollen die Angehörigen ihres wissenschaftlichen Personals durch Satzung verpflichten, das Recht auf nichtkommerzielle Zweitveröffentlichung […] für wissenschaftliche Beiträge wahrzunehmen, die im Rahmen der Dienstaufgaben entstanden […] sind“ Teil des Urheberrechts oder nicht? Falls ja, fehlte dem Landesgesetzgeber dafür die Gesetzgebungskompetenz. Falls nein, müsste das Verfahren in Baden-Württemberg weitergehen und die keineswegs trivialen Fragen materieller Rechtmäßigkeit geklärt werden.

Betrachtet man diese Vorlagefrage, so erscheint durchaus fraglich, welches der vom Gericht definierten sechs Kriterien (Verfahrensnatur, Sachbedeutung, Auswirkungen auf Beteiligte, Schwierigkeit der Sachmaterie, zurechenbares Verhalten, Tätigkeit Dritter) hier eine Verfahrensdauer von mindestens fünf Jahren rechtfertigen könnte. Misst das Bundesverfassungsgericht der Sache keine große Bedeutung bei? Erkennt es keine Auswirkungen der langen Verfahrensdauer für die Beteiligten? Hält es das Urheberrecht für ungewöhnlich schwierig? Muss es noch Sachverständige anhören? Man weiß es nicht, kann sich aber nicht recht vorstellen, welches dieser Hindernisse hier vorliegen könnte. Immerhin wurde schon vor fünf Jahren darauf hingewiesen, dass viele Universitäten damals „in den Startlöchern“ standen, um ihren verfassungsmäßigen Auftrag in einer Weise zu erfüllen, die den auch vom Bundesgesetzgeber zelebrierten „aktuellen Erfordernissen der Wissensgesellschaft“ genügen würde.

Die Debatte über Wissenschaftstransparenz muss weitergehen

Letztlich betrifft die Frage, wie lange die Klärung einer Kompetenzfrage dauern „darf“, in erster Linie die Verfahrensbeteiligten, die womöglich eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer nach §§ 97a ff. BVerfGG beanspruchen könnten. Die Frage hingegen, wie lange die Klärung einer Kompetenzfrage dauern „sollte“, geht uns alle an.

Denn die präjudizielle Natur der Kompetenzfrage verleiht ihr ebenso akute Dringlichkeit wie die Tatsache, dass sie auch im besten Fall nur den ersten Schritt des Konstanzer Pilotverfahrens bilden kann. Die ungleich schwierigere materielle Grundrechtsabwägung wird auch den Verwaltungsgerichtshof Mannheim wieder auf lange Zeit – und danach zweifellos erneut das Bundesverfassungsgericht – beschäftigen. Nicht umsonst wird sie immer öfter auf wissenschaftlichen Symposien etwa des BMBF-Projektes „Offener Zugang zum Öffentlichen Recht“ (OZOR) oder des Netzwerks „Open Access für die Rechtswissenschaft“ (jurOA) diskutiert: Schon im Jahre 2018 ebenso wie in einigen Wochen erneut.

Mit der bisherigen Verfahrensverzögerung blockiert der Zweite Senat also die Klärung nicht „nur“ einer formellen Vorfrage, sondern auch der letztlich entscheidenden Abwägungsfrage. Damit leisten die Richter der Wissenschaftsdigitalisierung in Deutschland einen Bärendienst. Denn bei der aktuellen Geschwindigkeit des Verfahrens werden viele der Konstanzer Beschwerdeführer eher das Pensionsalter erreichen, als dass sie sich verpflichtet sähen, ihre bereits publizierten Erkenntnisse auch digital verfügbar zu machen.


SUGGESTED CITATION  Hamann, Hanjo: Die unklare Zukunft der Wissenschaftstransparenz: Wann äußert sich das Bundesverfassungsgericht zur Zweitverwertungspflicht?, VerfBlog, 2022/8/22, https://verfassungsblog.de/wissenschaftstransparenz/, DOI: 10.17176/20220822-181911-0.

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