26 May 2020

Zerreißprobe für den Flickenteppich?

Der deutsche Föderalismus in Zeiten von Covid-19

Kritik am Föderalismus zählt in Deutschland zu den festen Ritualen der öffentlichen Kommunikation. Einen Flickenteppich aus undurchsichtigen, unnötig komplizierten Regeln habe dieser gewebt. Der Bundesstaat sei ein aus der Zeit gefallenes Relikt – so lauten einige der während der Covid-19-Krise wiederkehrenden abwertenden Meinungen. Dass die Länder für viele Bereiche der Lockerung zuständig sind und der Bund die Länder gewähren lassen muss, hat jüngst gar zu Einschätzungen beigetragen, die das „Ende der Kanzlerindemokratie“ heraufziehen sehen. „Ein Zeichen der Schwäche“, „peinlich“ und „unwürdig“ sei die der Kanzlerin in der Krise verfassungsrechtlich zugewiesene Rolle.1)

Diese Einschätzungen offenbaren ein fragwürdiges Verständnis von Föderalismus und Demokratie. Sie sind Ausdruck einer gewachsenen unitarischen Kultur in Deutschland,2) die einheitliche, mindestens aber gleichwertige politische Lösungen in allen Teilen des Landes erwartet. Die verfassungsrechtliche Konstruktion des Bundesrates und die komplexe Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern zwingt diese Akteure in vielfältige bundesstaatliche Kooperationsbeziehungen. Vergleicht man die Entwicklung Deutschlands mit der anderer Föderalstaaten, so hat die verfassungsrechtlich untermauerte Leitidee der „Gleichwertigkeit“ seit dem Bestehen der Bundesrepublik zweifelsohne zur sozialen und räumlichen Kohäsion des Landes beigetragen. Das Sozialstaatsprinzip, in Art. 20 Abs.1 GG grundrechtlich verfasst, überlagert das bundesstaatliche Prinzip. Kein Wunder also, dass Bürger und kritische Öffentlichkeit gerade irritiert sind, wenn sie eine verwirrende Vielfalt der Lockerungsmaßnahmen in den Ländern und die ihnen zugrunde liegenden, sich widersprechenden Begründungen vergleichen und einordnen sollen. Das Bedürfnis der Bürger nach einheitlichen Regeln und straffer, hierarchisch organisierter politischer Führung, angesiedelt in der Bundesregierung und verkörpert durch eine starke Kanzlerin, ist offenbar groß.

Tatsächlich war der deutsche Bundesstaat mit seiner Kompetenzordnung zu Beginn der Pandemie nicht gut aufgestellt. Der Bundesgesundheitsminister war lediglich befugt, den Ländern „Empfehlungen“ zu erteilen und die Gliedstaaten zu koordinieren. Selbst in der erzföderalen Schweiz verfügte der Bundesrat (die Regierung) über eine zeitlich befristete Kompetenz, den Kantonen konkrete Maßnahmen anzuordnen.3) Dennoch liefen die eingespielten Abstimmungsverfahren zwischen Bund und Ländern zügig an. Dass es in Deutschland gelang, das Infektionsschutzgesetz Ende März 2020 in einem rekordverdächtigen Gesetzgebungsverfahren von wenigen Tagen nachzubessern,4) spricht für die Handlungsfähigkeit des kooperativen Föderalismus. Was zunächst als Versuch einer Selbstermächtigung der Exekutive begann, wurde immerhin noch demokratiefest ausgestaltet: Nicht der Minister, sondern der Bundestag beschließt die epidemische Lage und hebt diese wieder auf. Teile des novellierten Gesetzes sind zudem auf ein Jahr befristet, es muss eine Evaluierung der Maßnahmen geben.

Nachdem im Zuge des Lockdowns also Verantwortlichkeiten auf die Bundesebene verlagert wurden, beobachten wir nun, im Zuge der Lockerung, dass die Länder die ihnen weiterhin zustehenden Kompetenzen eigenständig nutzen und nicht, wie bislang üblich, die Koordinierung zwischen Bund und Ländern durch die Ministerpräsidentenkonferenzen abwarten. Die Ministerpräsidenten scheinen sich mit Vorschlägen, wie Deutschland wieder in eine Normallage einbiegen kann, wechselseitig nachgerade zu überbieten.

Die Föderalismusforschung kennt unterschiedliche Maßstäbe, an denen sich die derzeitigen Entwicklungen, einschließlich der damit verbundenen Kritik, spiegeln lassen: Sind die Maßnahmen mit elementaren Spielregeln und Prinzipien der Demokratie vereinbar, und sind sie, mit Blick auf die gegebene Problemlage, effektiv?

Zunächst sei daran erinnert, dass jedes föderale System von einer Mischung von „shared rule“ und „self rule“ 5) geprägt ist. Föderalismus ist ein Mechanismus der vertikalen Gewaltenhemmung und individuellen Freiheitssicherung,6) er soll die Macht der Zentralregierung einhegen und wirksam begrenzen. Den Gliedstaaten müssen eigene Zuständigkeiten bleiben, sie dürfen nicht zu reinen Verwaltungseinheiten des Bundes herabgestuft werden. Kompetenzen können deshalb in bundesstaatlichen Verfassungen nicht ohne Mitsprache der Länder oder Staaten „nach oben“ verlagert werden. Dies setzt effektive Vetorechte der Länder voraus. Die derzeit wahrgenommene Machtlosigkeit der Kanzlerin ist unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten somit keineswegs ein „peinlicher“ Offenbarungseid, sie ist vielmehr Ausdruck einer dem Bundesstaatsprinzip innewohnenden, historisch begründeten Skepsis gegenüber der Ballung von Macht an der Spitze des Staates. Offenbar ist in der einheitsstaatlichen politischen Kultur Deutschlands der Glaube ungebrochen, eine zentrale Regierung bringe grundsätzlich sach- und bürgergerechtere Lösungen zustande. Empirische Befunde belegen allerdings eher das Gegenteil. Ein Blick in die ebenfalls bundesstaatlich verfassten USA oder nach Brasilien zeigt, dass es dort derzeit gerade die Gouverneure sind, die dem verantwortungslosen Umgang der Präsidenten mit der Pandemie Gegenkräfte entgegensetzen. Wenn hingegen im Zentralismus schlecht regiert wird, sind die Folgen im wahrsten Sinne des Wortes weitreichend.

Gleichwohl steht außer Frage, dass sich föderale Staaten dem Zustand einer optimalen Kompetenzverteilung nur annähern, ihn aber nie erreichen können – Staatsaufgaben sind nicht statisch, sie wandeln sich über die Zeit hinweg, und neue kommen hinzu. Die Covid-19-Krise beschreibt ein solches unberechenbares, komplexes Problem. Man muss also fragen, ob die gegebene Zuständigkeitsverteilung den Problemstrukturen noch angemessen ist oder ob sie effektive Lösungen verhindert. Die „Flickenteppich“-Metapher legt das Gegenteil nahe. Die bundesstaatliche Koordinierung zergliederter Zuständigkeiten erscheint in Zeiten einer Pandemie, die exponentiell verläuft, zudem als zu zeitraubend.  

Auch unter Gesichtspunkten der Effizienz läge auf den ersten Blick eine Zentralisierung nahe. Ob diese die tatsächlich angemessene Lösung darstellt, ist jedoch höchst fraglich – und zwar aus mehreren Gründen. Erstens verläuft die Pandemie regional und lokal höchst unterschiedlich, was eine einheitliche Antwort auf räumlich disparate Probleme unangemessen erscheinen lässt. Zweitens können mit eigenen Zuständigkeiten ausgestattete lokale und regionale Gebietskörperschaften und ihre Behörden auf der Grundlage dezentraler Informationen schneller und zielgerichteter auf neuerliche Ausbrüche des Virus und bei der Verfolgung von Infektionsketten reagieren als dekonzentrierte Einheiten des Bundes, vorausgesetzt, die Landesregierungen und Kommunen nehmen diese ihre Verantwortung auch an.

Drittens schließlich fungieren Bundesstaaten idealerweise als institutionalisierte Lernsysteme. Die Covid-19-Krise ist wie kaum eine andere Materie geprägt von nicht konsolidiertem Wissen über die gesundheitlichen (und gesellschaftlichen) Folgen der Pandemie, begleitet von einem hohen Entscheidungsdruck. Auch berufene Experten unterbreiten unterschiedliche Ratschläge und nennen verschiedene Prioritäten. Angesichts dessen ist eine institutionelle Ordnung von Vorteil, die ein Abwägen verschiedener Problemlösungen erzwingt. Der Föderalismus bietet ehestens eine solche Struktur, da sie Bund und Länder dazu nötigt, mit plausiblen Argumenten immer wieder um mögliche Wege aus der Krise zu ringen.7) Die damit einhergehende Vielstimmigkeit, verstärkt durch konkurrierende Experten der Bundes- und Landesregierungen, mag irritieren. Mündige Bürger sollten aber in der Lage sein, sich kontroversen Debatten auszusetzen – Vielstimmigkeit ist schließlich eine notwendige Bedingung von Demokratie. Föderale Strukturen erlauben es, mit unterschiedlichen Lösungen zu experimentieren, etwa bei der Öffnung von Schulen und Kindergärten, dem öffentlichen Nahverkehr, dem Hochfahren der Wirtschaft und des Einzelhandels usw. Die Länder können best practices wechselseitig übernehmen, mögliche Fehlentscheidungen werden nicht flächendeckend getroffen, sondern bleiben lokal oder regional begrenzt.

Bisher hat Deutschland nicht trotz, sondern wegen seiner föderalen Struktur im internationalen Vergleich ein solides Krisenmanagement an den Tag gelegt. Gleichwohl bleiben ein gewisses Unbehagen und die Unsicherheit über den Überbietungswettbewerb der Länder. Die vergleichende Forschung weist in diesem Sinne darauf hin, dass gerade bundesstaatliche Strukturen ein opportunistisches Verhalten ihrer politischen Eliten begünstigen: Regierungen tendieren dazu, sich ihrer Verantwortung zu entziehen (shirking); sie können die Verantwortung für eigene, unpopuläre Entscheidungen auf die jeweils andere föderale Ebene abschieben (blame-shifting).8) Der Wettlauf der Gliedstaaten bedeutet keinesfalls immer, dass die politischen Eliten nach den bestmöglichen Entscheidungen suchen; sachliche Gesichtspunkte werden regelmäßig von elektoralen Logiken überlagert. In den USA z.B. verspricht Präsident Trump eine baldige wirtschaftliche Besserung, während er die für das Management der Krise zuständigen Gouverneure für die einschneidenden Restriktionen verantwortlich macht. Populistische Erwägungen der Amtsinhaber und von konkurrierenden Parteien, denen westliche Demokratien ausgesetzt sind, können sich in der Krise weiter vertiefen. Politische Eliten können Wettbewerbsdynamiken einleiten, deren Folgen – erneut ansteigende Infektionszahlen – schwer wieder einzudämmen sind und zudem nicht auf die eigene Gebietskörperschaft begrenzt bleiben.

In Deutschland gehen die Ministerpräsidenten der Länder mit ihren Versuchen, sich mit Lockerungsvorschlägen zu überbieten, derzeit ein nicht unbeträchtliches Risiko ein. Sie müssen sich für die ungewissen Folgen ihrer Entscheidungen in Wahlen und gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit legitimieren. Anders als im politikverflochtenen Bundesstaat üblich, können sie die Verantwortung diesmal nicht auf den Bund schieben: Die so oft beklagte Verantwortungsdiffusion ist keine realistische strategische Option.9) Die Landesparlamente stehen mehr denn je in der Pflicht, ihre Regierungen zu kontrollieren und Kontroversen gegenüber der Öffentlichkeit transparent zu machen.

Die mitunter geforderte ordnende Hand einer Bundeskanzlerin ist dem gewaltenhemmenden Föderalismus nicht angemessen, weder in demokratietheoretischer Sicht noch aus Effizienzerwägungen heraus. Welche Sicherungen10) sind also geeignet, um einen opportunistischen, gar populistischen Wettbewerb einzudämmen? Zum einen zeigen die vergangenen Wochen, dass Gerichte auf allen Ebenen Rechtsgüter, wie die Versammlungsfreiheit, sowohl während des Lockdowns als auch während der Lockerung abgewogen und Maßnahmen korrigiert haben. Neben diesen rechtlichen „safeguards“ werden in der Literatur auch genuin „politische“ Sicherungen diskutiert. Hierzu zählt einerseits eine kritische Öffentlichkeit – weshalb das Versammlungsrecht als elementares Recht auch allenfalls übergangsweise eingeschränkt werden darf. Vertikal integrierte Parteien,11) die Verbände in allen Gliedstaaten und im Bund aufweisen, tragen dazu bei, einen Überbietungswettbewerb der föderalen Einheiten in engere Bahnen zu leiten. Sie balancieren innerhalb ihrer Organisation auseinanderstrebende regionale Interessen untereinander und mit denen des Bundes aus. Nicht zuletzt führen die verfestigten Kooperationsstrukturen im deutschen Bundesstaat dazu, dass die gleichen bundesstaatlichen Akteure in verschiedenen Gremien und Foren fortlaufend aufeinandertreffen und letztlich aufeinander angewiesen bleiben. Gerade politikverflochtene Strukturen, die einen Verhandlungszwang institutionalisieren, hemmen deshalb tendenziell ein wechselseitig schädigendes, populistisches Verhalten, das das Prinzip der „Bundestreue“12) untergräbt – sie erleichtern es andererseits aber auch, Verantwortung gegenüber dem Wähler zu verschleiern. Ob die skizzierten Sicherungen auch unter den Bedingungen der schwerwiegenden Krise wirken, ist schwer vorhersehbar. Jedenfalls ist das föderale System dafür besser geeignet als Wunschbild eines allkompetenten Zentralstaats.

References

References
1 Dirk Kurbjuweit, Das Ende der Kanzlerindemokratie, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-in-der-corona-krise-das-ende-der-kanzlerindemokratie-a-3f98f45a-95e0-4eea-95d2-5bf053d2cc41, Zugriff am 23.05.2020.
2 Jeffery, Charlie and Pamphilis, Niccole M. 2016. Myth and Paradox of ‘Uniform Living Conditions’ in the German Federal System. German Politics 25 (2), 176-192.
3 Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG) vom 28. September 2012 (Stand am 1. Januar 2017), https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20071012/index.html, Zugriff am 23.05.2020.
4 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen, http://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/index.html, Zugriff am 23.05.2020.
5 Watts, R. (1998). Federalism, Federal Political System, and Federation. Annual Review of Political Science. 1 (1), 117- 137, hier S. 120.
6 Hamilton, A., Madison J., Jay J. (1989). The Federalist Papers. New York: Bantam (hier Madison No. 10).
7 Benz. Arthur (2012). Yardstick Competition and Policy Learning in Multi-level Systems. Regional and Federal Studies 22 (3), 251-267.
8 Bednar, Jenna. 2009. The Robust Federation. Principles of Design. Cambridge: Cambridge UP, S. 1-16.
9 Vgl. hierzu Scharpf, Fritz W., Reissert, Bernd and Schnabel, Fritz. 1976. Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik. Kronberg/Ts.: Scriptor.
10 Bednar, Jenna. 2009. The Robust Federation. Principles of Design. Cambridge: Cambridge UP, S. 95-131.