Zum Gewalt-Begriff von § 113 StGB
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei Straßenblockaden der „Letzten Generation“
Im Berliner Tagesspiegel wurde am Montag, den 12.6.2023 bekannt, dass das Landgericht Berlins in einem Verfahren gegen einen Aktivisten der „Letzten Generation“ zum ersten Mal gegen eine strafbare Nötigung entschieden hat. Der Beschluss, der ein differenziertes Vorgehen beim Nötigungstatbestand anmahnt, verdeutlicht vor allem eines: Der Instanzenzug beginnt. Interessant ist nicht nur die Argumentation des Gerichts in Bezug auf § 240 StGB, sondern auch, dass es stattdessen eine Verfolgung desselben Angeklagten wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB für angezeigt hält.
Für zwei Tage war es daher pure Spekulation, worin der noch näher aufzuklärende strafbewehrte Widerstand der Aktivisten gelegen haben soll. Nun ist der Beschluss veröffentlicht worden, so dass sich erkennen lässt, welche Umstände das LG Berlin zu seiner Entscheidung bewegt haben. Da nahezu jede Aktion der „Letzten Generation“ zu guter Letzt durch die Polizei aufgelöst wird und die Blockierer gegen ihren Willen letztlich durch unmittelbaren Zwang von der Fahrbahn entfernt werden, lohnt sich vor einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des konkreten Beschlusses ein kurzer allgemeiner Blick auf den möglichen Anwendungsbereich von § 113 StGB. Darum – und nicht so sehr um den Einzelfall – soll es vorliegend gehen.
Anderer Gewalt-Begriff außerhalb von § 240 StGB
Der Tatbestand des § 113 StGB, der bekanntlich kurz vor den Krawallen bei dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 mit dem 52. StÄG geändert und vor allem in seine beiden heutigen Tatbestände des § 113 und § 114 StGB aufgespalten worden ist, beschränkt sich seither auf das Widerstandleisten mittels Gewalt oder Drohung mit Gewalt; der zuvor ebenfalls erfasste tätliche Angriff ist nunmehr in § 114 StGB geregelt. Da Drohungen mit Gewalt von Mitgliedern der „Letzten Generation“ nicht bekannt sind – die Aktivisten verzichten bekanntlich auf die Ausübung von Gewalt, muss es vorliegend wohl wieder um den „Gewalt-Begriff“ gehen, und die Frage, wie weit der reicht.
Das StGB enthält den Begriff der Gewalt als Tathandlung in verschiedenen Tatbeständen bzw. Kontexten. Bekanntlich ist er nicht stets gleich auszulegen, so dass etwa eine Übertragung des aus § 240 StGB bekannten Gewalt-Begriffs auch auf § 113 StGB – trotz dessen nötigungsähnlicher Struktur – nicht zwingend angezeigt ist. Im Gegenteil wird etwa bei der Nötigung von Verfassungsorganen gemäß § 105 StGB das dort enthaltene Nötigungsmittel der „Gewalt“ angesichts des Adressatenkreises – der Verfassungsorgane – weit enger ausgelegt1) als bei der Nötigung von „jedermann“ i.S.v. § 240 Abs. 1 StGB.
Ebenso muss bei § 113 StGB der Schutzzweck berücksichtigt werden. Danach muss Gewalt hier gegen die Person des Amtsträgers gerichtet und für ihn – unmittelbar oder mittelbar über Sachen – körperlich spürbar sein (BGHSt 18, 133). Im Falle einer Straßenblockade genügt es also nicht, dass mit der Zweite-Reihe-Rechtsprechung nötigende Gewalt zumindest für alle hinter der ersten Reihe zum Anhalten gezwungenen Fahrer bejaht werden kann und sich in diesem Stau auch ein Polizeifahrzeug befindet, dessen Insassen auf dem Weg zur Auflösung der Blockade sind (sonst läge gar keine Vollstreckungshandlung vor). Damit dürfte auch das Festkleben auf der Fahrbahn im Regelfall kein Widerstandleisten gegen den Amtsträger mittels Gewalt darstellen; der Beschluss des LG Berlin sieht das aber wohl anders. Da die Gewalt gegen die Person des Amtsträgers gerichtet sein muss, genügt es auch nicht, wenn ein Aktivist sich mit seinem Körpergewicht derart hängen lässt, dass der ihn wegtragende Polizist entweder dadurch körperlich beeinträchtigt wird oder ihn vor dem Ziel (z.B. dem Straßenrand) loslassen muss. Natürlich wäre Gewalt zu bejahen, wenn die Person den Polizisten schägt, tritt, etc., doch ist ein solches Verhalten seitens der „Letzten Generation“ bislang nicht erkennbar.
Im Beschluss des LG Berlin scheint als Anknüpfungspunkt auszureichen, sich wiederholt auf die Fahrbahn zu setzen. In anderen Fällen mag es auch sein, dass sich Blockierer beim Wegtragen loszureißen versuchen. Solche Konstellationen hat es immer wieder gegeben. Und auch die Frage, ob und unter welchen Umständen hier Gewalt i.S.v. § 113 StGB zu bejahen sein kann, hat schon wiederholt die höchst- und obergerichtliche Judikatur beschäftigt. Grundsätzlich zum Gewalt-Begriff des § 113 StGB hat sich zuletzt vor drei Jahren – und damit nach der Neufassung der §§ 113 f. StGB – der BGH geäußert. Im Beschluss vom 11.6.2020 (BGHSt 65, 36.) heißt es dazu: „Mit Gewalt wird Widerstand geleistet, wenn unter Einsatz materieller Zwangsmittel, vor allem körperlicher Kraft, ein tätiges Handeln gegen die Person des Vollstreckenden erfolgt, das geeignet ist, die Vollendung der Diensthandlung zumindest zu erschweren (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 – 4 StR 497/12, NStZ 2013, 336 mwN).“ Da es im Weiteren vor allem auf die Konsequenz für einen tätlichen Angriff nach der Herauslösung dieser Tatvariante aus § 113 StGB geht, ergibt sich daraus wohl nichts für den vorliegenden Fall.
Losreißen während einer Vollstreckungshandlung als Gewalt
Zur Frage des Losreißens, in Blockade-Fällen sicherlich nicht gänzlich unwahrscheinlich, ist insbesondere ein Beschluss des OLG Dresden vom 21.7.2014 (OLG Dresden, NStZ-RR 2015, 10) erhellend, dessen 2. Leitsatz wie folgt lautet:
„Die “Gewalt” als sehr weitgehender Blankettbegriff des § 113 Abs. 1 StGB ist einzelfallabhängig ausfüllungsbedürftig. Auch wenn ein Sich-Losreißen aus einem Festhaltegriff den Gewaltbegriff im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB erfüllen kann, erfordert es doch stets eine Kraftäußerung, die sich gegen die Person des Vollstreckenden richtet. Dies kann – abhängig von der Intensität des Festhaltegriffs – auch bei einem mit nicht unerheblichem Kraftaufwand erfolgten Entwinden aus dem Festhaltegriff der Fall sein. Ein bloßes Sich-Entziehen aus einem lockeren Griff genügt allerdings, ohne dass anderweitige Aktivitäten (Schläge, Stöße etc.) gegen den Vollstreckungsbeamten ersichtlich sind, nicht.“
Als Kommentator des StGB – und darin auch der §§ 113 ff. StGB – habe ich daraus verkürzt gefolgert, dass auf Grundlage dieses Beschlusses für Gewalt i.S.v. § 113 StGB „ein kraftvolles Entwinden aus dem Festhaltegriff ausreichen soll“.2) Nun mag man räsonieren, ob in dem Wörtchen „soll“ am Ende dieses Satzes und vor dem Beginn des in Klammern gesetzten Nachweises ein gewisses Zaudern vor der möglicherweise weitgehenden Folge ablesbar sein mag. Das ja noch laufende Berliner Verfahren – das LG hat die Sache zur Anberaumung einer Hauptverhandlung an das AG Tiergarten zurückverwiesen, das zuvor die Anklage der Staatsanwaltschaft nicht zugelassen hatte – gibt Anlass dazu, noch einmal ad fontes zu meiner Quelle zu gehen und zu überprüfen, ob meine notwendige Verkürzung Anlass zu einem gegebenenfalls allzu weiten Verständnis dieses Gewaltbegriffs gegeben haben könnte.
In dem in Dresden behandelten Fall ging es um ein Losreißen einer Person, die wegen einer Beleidigung (der Polizisten) zur Feststellung der Personalien von einem Beamten am Oberarm festgehalten worden war. In den Entscheidungsgründen wird deutlich, warum das OLG Dresden den voran gestellten Leitsatz so versteht, dass in „seinem“ konkreten Fall Gewalt i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB ausscheidet (Rn. 12/13):
„Auch wenn ein Sich-Losreißen aus einem Festhaltegriff durchaus den Gewaltbegriff im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB erfüllen kann (vgl. OLG Celle, Urteil vom 05. November 1996 – 3 Ss 140/96 – juris; KG Berlin, Beschluss vom 02. Oktober 2000 – (3) 1 Ss 193/00 (71/00) -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 10. Mai 2012 – III-3 RVs 33/12, 3 RVs 33/12 -, juris), erfordert es dennoch stets eine Kraftäußerung, die sich gegen die Person des Vollstreckenden richtet. Dies kann – abhängig von der Intensität des Festhaltegriffs – auch der Fall sein, wenn die Person sich bei einem mit nicht unerheblichem Kraftaufwand erfolgten Entwinden aus dem Festhaltegriff der Fall sein. Ein bloßes Sich-Entziehen aus einem lockeren Griff genügt allerdings, ohne dass anderweitige Aktivitäten (Schläge, Stöße etc.) gegen den Vollstreckungsbeamten ersichtlich sind, nicht.
Hierzu verhält sich das Landgericht nicht. Zwar spricht es in seiner Urteilsbegründung von einem Los-“Reißen” des Angeklagten; dieser Ausdruck ist aber nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe ersichtlich nur dem allgemeinen Sprachgebrauch entlehnt, ohne damit das Maß einer Intensität der Handlung zu beschreiben. Insbesondere kommt damit nicht zum Ausdruck, welcher Kraftaufwand für den Angeklagten erforderlich war, um den Griff des Polizeibeamten zu überwinden. Immerhin hat ihn dieser unmittelbar danach (erneut) am Handgelenk ergreifen können.“
Vor diesem Hintergrund mag es in der Tat sinnvoll sein aufzuklären, ob sich der Aktivist tatsächlich aktiv und unter Einsatz körperlicher Kräfte gegen die ihn mit- oder festnehmenden Polizisten zur Wehr gesetzt hat oder ob er sich bloß durch Geschicklichkeit und unter Einsatz seines Köpergewichts bzw. (ggf. fehlender) Körperspannung so bewegt hat, dass die Polizisten ihn nicht (mehr) halten konnte und loslassen musste. Für Gewalt mögen mit dem zitierten Beschluss Schläge und Stöße sprechen, dagegen – und vorliegend meines Erachtens genau in den Blick zu nehmen – gerade auch der Umstand, dass die Polizisten erneut zugreifen konnten, obwohl sie zwischenzeitlich loslassen mussten. Ist also eine Vollstreckungshandlung – wie das Wegtragen von Aktivisten von der Fahrbahn – zwar durch deren zwischenzeitliches Losreißen und wieder Hinsetzen verzögert worden, ohne dass Gewalttätigkeiten gegen die Polizisten vorgekommen sind oder diese durch die Art des Losreißens nicht mehr zu einem gleichartigen Zugriff wie zuvor (erneutes Wegtragen etc.) in der Lage sein sollten, erscheint die Bejahung von Gewalt i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB zumindest nicht naheliegend.
Zum Schluss
Damit soll natürlich nicht der Beurteilung durch die zuständige Berliner Strafjustiz vorgegriffen werden. Der nunmehr veröffentlichte Beschluss deutet an, dass bereits Ausgangspunkt für eine Strafbarkeit wegen § 113 StGB sein kann, sich während der Vollstreckungshandlung immer wieder auf die Fahrbahn niederzulassen. Damit wird der Aspekt, dass nur der Widerstand mittels Gewalt gegen den Vollstreckungsbeamten oder (hier fernliegend) einer Drohung mit Gewalt tatbestandsmäßig sein kann, möglicherweise nicht gebührend berücksichtigt.
Der Beschluss des LG Berlin macht deutlich, dass bei Blockadeaktionen wie denen der „Letzten Generation“ je nach den Umständen des Einzelfalls neben oder auch anstelle einer Nötigung eine Strafbarkeit wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Betracht kommen kann. Dafür genügt aber nicht bloß irgendwie widerständiges Verhalten der Blockierer bei der Beendigung der Blockade durch die Polizei; vielmehr müssen in jedem Einzelfall die Voraussetzungen von Gewalt als dem Widerstandsmittel geprüft werden, wobei die gegenüber dem Gewalt-Begriff der Nötigung engeren Voraussetzungen von § 113 StGB berücksichtigt werden müssen.
Den Ausführungen zur strafrechtlichen Würdigung aus der Perspektive des § 113 StGB korrespondiert eine verfassungsrechtliche Erwägung: Das Bundesverfassungsgericht hat schon im Jahr 2007 zur damaligen Fassung der Norm festgestellt, dass § 113 StGB ebenfalls einer verfassungsgemäßen Auslegung und Anwendbarkeit zugänglich ist, die mit der vom OLG Dresden jetzt geforderten “Kraftäußerung … gegen die Person des Vollstreckenden” übereinstimmt. Danach soll durch „die Strafbewehrung einer unter Einsatz von Gewalt oder der Drohung mit ihr erfolgenden Widerstandshandlung (§ 113 Abs. 1 StGB) … der rechtliche Schutz der Amtsträger verstärkt werden, die bei Vollstreckungsmaßnahmen besonderen Gefahren durch Gegenwehr ausgesetzt sind“ (B. v. 30.04.07 – 1 BvR 1090/06, Rn. 27). Dass diese besonderen Gefahren im Raume stehen, wenn sich Demonstrierende erneut / wiederholt auf die Straße setzen oder sich festkleben, erscheint aber als fernliegend (abl. auch LG Berlin, B. v. 20.04.23 – 503 Qs 2/23, Rn. 9). Zwar existiert auch eine vorangegangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge die Einordnung des „Festhalten[s] an Gegenständen“ als „Gewalt“ mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sei (B. v. 23.08.2005 – 2 BvR 1066/05, Rn. 2). Diese Entscheidung hatte aber nicht den Sinn der Strafnorm zum Gegenstand und dürfte jedenfalls überholt sein.
Ob im konkreten Fall eine Strafbarkeit nach § 113 StGB (gleichwohl) möglich erscheint, lässt sich zwar ohne nähere Informationen zum konkreten Sachverhalt nicht beurteilen. Das „übliche“ Verhalten der Klimaaktivisten bei Blockaden dürfte danach aber regelmäßig nicht ausreichen.
Es stellt sich die Frage, worin nach der Auffassung des LG Berlin genau das “bei der Vornahme” liegen soll.
Die Beamten dürften bereits die polizeirechtliche Gefahr aus dem Festkleben abgeleitet haben. Wenn aber das Festkleben überhaupt erst ermöglicht, dass Maßnahmen eingeleitet werden, wie kann dann das Festkleben schon der Widerstand sein? Insoweit unterscheidet sich der Fall auch deutlich von dem Fall des OLG Stuttgart zu Stuttgart 21. Dort war gegenüber allen Personen in einem bestimmten Bereich die Wegweisung verfügt worden. Die Gefahr war dort also aus der bloßen Anwesenheit an einem Ort, nicht aber aus dem Verhalten dort abgeleitet worden.
Wenn das, was hier passiert ist, keine Nötigung ist, kann es m.E. auch kein Widerstand sein, sofern nicht aus anderen Gründen eine polizeirechtliche Gefahr bejaht werden konnte. Andernfalls verkümmert der § 113 StGB zu einer Art “In-Sich-Delikt”: Handlungen sind dann Widerstand, weil es berechtigt ist, einen Widerstand zu brechen, was sich wiederrum aus dem Widerstand ergibt. Damit wird die Kernaussage des § 113 III StGB vollkommen unterlaufen. Sinnvoll kann nur sein, dass es zwischen dem Anlass der Diensthandlung und der Widerstandshandlung eine logische Zäsur geben muss.