03 December 2016

Zwischen pädagogischer Freiheit und Selektivität: Warum die Förderung der freien Schulen verfassungsrechtlich auf dem Spiel steht

Selten ist eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) so schnell aufgenommen und breit diskutiert worden, wie es mit dem im Novemberheft der NVwZ erschienen Artikel „Das missachtete Verfassungsgebot – Wie das Sonderungsverbot nach Art. 7 IV 3 GG unterlaufen wird“ geschehen ist. In dem Beitrag kritisieren Marcel Helbig und ich auf der Grundlage der Auswertung von Sozialstrukturdaten, einer Erfassung und Darstellung der Verwaltungspraxis und eingehender Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur die mangelhafte Umsetzung des Sonderungsverbots bei der Privatschulgenehmigung und -kontrolle in den Bundesländern. Zusammenfassend stellen wir fest, dass die gegenwärtige Normsetzung und Verwaltungspraxis in den Ländern die verfassungsrechtlichen Vorgaben teilweise in einer Weise ignoriert, die unseres Erachtens als „Missachtung“ bezeichnet werden muss: „Dies ist nicht nur aus rechtsstaatlicher Sicht besorgniserregend, sondern fördert eine Entwicklung, welche die ohnehin problematische soziale Segregation in den Schulen weiter forciert“.

Worum geht es? – Art. 7 Abs. 4 GG als verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt

Der Ausgangspunkt unserer Kritik ist Art. 7 Abs. 4 GG, eine Verfassungsnorm, die in der staatsrechtlichen Diskussion eher ein Schattendasein führt. Dort ist die Freiheit verankert, private Schulen zu gründen und zu unterhalten. Wenn Privatschulen als Ersatz für eine öffentliche Schule dienen (Ersatzschulen) mit der Folge, dass dort die Schulpflicht erfüllt werden kann, stehen sie nach Art. 7 Abs. 4 S. 2 GG unter einem Genehmigungsvorbehalt. Das verfassungsrechtlich verankerte präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt soll sicherstellen, dass nur solche Ersatzschulen betrieben werden, die den in Art. 7 Abs. 4 S. 3 und 4 GG genannten Vorgaben entsprechen. Danach ist die Genehmigung (nur) zu erteilen, wenn „die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.“ Diese Genehmigungsvoraussetzungen sind nach h.M. abschließend und zwingend; Ausnahmen oder Dispense sind nicht vorgesehen. Darüber hinaus müssen sie fortlaufend eingehalten werden.

Das sogenannte „Sonderungsverbot“, das eine Förderung der Selektion von Schülern „nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ an den freien Schulen verbietet, hat dabei eine besondere Funktion. Das lässt sich an der Genese der Bestimmung gut erkennen. Gegen die Aufnahme der Privatschulfreiheit in das Grundgesetz hatte vor allem die SPD Bedenken, die Privatschulen als Mittel zur sozialen Selektion und Absonderung wirtschaftlich bessergestellter Eltern ansah. Auf der anderen Seite stand der Wunsch nach pädagogischer und weltanschaulicher Vielfalt – in Abgrenzung zu einem reinen Schulmonopol des Staates. Schließlich kam es im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates zu dem Kompromiss, der die Privatschulfreiheit in das Grundgesetz aufnahm, aber die Zulassung privater Ersatzschulen an die Bedingung des Sonderungsverbots knüpfte. Damit sollten vor allem die konfessionellen und reformpädagogischen Schulen geschützt werden. „Elite- und Standesschulen“ hingegen sollten, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt hat, „strikt“ unterbunden bleiben.

Die Realität: hohe soziale Selektivität der privaten Ersatzschulen, die zum Abitur führen

Dass die Vorgaben des Sonderungsverbots in der Praxis wenig kontrolliert und in Teilen offensichtlich umgangen wurden, war auch in der bildungsrechtlichen Literatur ein „offenes Geheimnis“. So bemerkt etwa Joachim Rux in seinem Lehrbuch zum Schulrecht, dass z.B. Internatsschulen „in der Regel Schulgelder in einer Höhe verlangen, die für Durchschnittsverdiener schlicht nicht zu finanzieren sind“. Allerdings hat das Problem in den vergangenen Jahren eine neue Dimension erlangt. Denn während in vielen Bundesländern die staatliche Förderung entweder weiter zurückgefahren bzw. nicht der Preisentwicklung entsprechend angeglichen wurde, hat sich die Zahl der Privatschulen seit 1992 um über 80 Prozent erhöht, also fast verdoppelt. Allein der „Nachholbedarf“ in Ostdeutschland kann das nicht erklären. Mittlerweile besucht schon jedes elfte schulpflichtige Kind in der Bundesrepublik eine private Ersatzschule.

Die uns vorliegenden und ausgewerteten Daten zeigen dabei eine besorgniserregende soziale Selektivität der privaten Schulen. Einschränkend muss gesagt werden, dass wir dabei nur die Grundschulen und die Schulen im Sekundarbereich angeschaut haben, die in der Regel bis zum Abitur führen (also insb. nicht die etlichen privaten Berufs- und Förderschulen). Auch liegen für viele Bundesländer nur unzureichende Daten vor, die etwa eine Aufschlüsselung nach der Anzahl lernmittelbefreiter Schüler an den jeweiligen Schulen ermöglichen. Hier sei nur ein Schlaglicht geworfen: So ist der Anteil von lernmittelbefreiten Schülern auf privaten Gymnasien und integrierten Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe im Land Berlin etwa um vier Mal geringer als bei den staatlichen Pendants. Wer sich für weitere Daten interessiert, sei auf den Beitrag und eine (rechts)soziologische Folgestudie verwiesen, die im Frühjahr erscheint.

Missachtung des Grundgesetzes durch die Verwaltungspraxis der Länder

Wie kann es zu einem solchen Zustand kommen, der das Verfassungsgebot faktisch leerlaufen lässt? Diese Frage haben wir uns natürlich gestellt und dafür einerseits die landesrechtlichen Vorgaben für die Umsetzung des Sonderungsverbots analysiert sowie andererseits eine Umfrage unter den sechzehn zuständigen Landesministerien durchgeführt. Es ist schon auf den ersten Blick auffällig, dass so gut wie kein Bundesland das Sonderungsverbot in seinen Schulgesetzen konkretisiert – ganz anders als die übrigen in Art. 7 Abs. 4 S. 3 und 4 GG aufgeführten Genehmigungsvoraussetzungen, für die teilweise umfassende Vorschriften erlassen wurden. Entsprechend willkürlich stellt sich die Verwaltungspraxis dar (die Ergebnisse der Umfrage sind hier einsehbar). Von neun von uns auf der Basis der Rechtsprechung herausgearbeiteten Kriterien zur effektiven Einhaltung des Sonderungsverbots erfüllen allein Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen immerhin fünf. In diesen Bundesländern besteht an den privaten Schulen eine „faktische Schulgeldfreiheit“, da entweder die staatliche Förderung an die Schulgeldfreiheit geknüpft ist (Rheinland-Pfalz) oder entsprechende Schulgeldeinnahmen vollumfänglich von der staatlichen Förderung abgezogen werden (NRW). Dass die Schulgeldfreiheit durchaus einen erheblichen Effekt auf die soziale Durchmischung haben kann, können wir anhand eines Vergleichs zwischen Rheinland-Pfalz und Berlin, dessen Verwaltungsvollzug besonders mangelhaft ist, zeigen: Im Vergleich mit den öffentlichen Schulen ist die soziale Selektivität mit Blick auf lernmittelbefreite Kinder in Rheinland-Pfalz erheblich geringer als in Berlin, wenn auch weiter signifikant.

Was ist zu tun? Der staatliche Förderanspruch steht auf dem Spiel!

Der gegenwärtige Zustand ist aus verfassungsrechtlicher und rechtsstaatlicher Sicht nicht hinnehmbar. Dies gilt umso mehr, als das Bundesverfassungsgericht in seiner grundlegenden Entscheidung zur Privatschulfinanzierung aus dem Jahr 1987 den Anspruch der privaten Schulen auf staatliche Förderung bekanntermaßen zentral damit begründet hat, dass die freien Schulen gerade wegen der Bindung an Art. 7 Abs. 4 S. 3 und 4 GG daran gehindert seien, sich über Eigenmittel auskömmlich zu finanzieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat das Gericht den Finanzierungsanspruch auch an die „strikte“ Einhaltung des Sonderungsverbots gebunden. Diese Argumentation kann vor dem Hintergrund der vorliegenden Erkenntnisse über die soziale Selektivität der Schulen kaum mehr aufrechterhalten werden.

Mittlerweile hat sich aufgrund des Nicht-Vollzugs des Sonderungsverbots in den Ländern eine Reihe von Privatschulen außerhalb des konfessionellen und reformpädagogischen Bereichs etabliert, die sich eine „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ geradezu zum Programm erhoben haben. So beginnt bei einigen Schulen wie der Berlin Cosmopolitan oder der Metropolitan School in Berlin das Schulgeld auf der günstigsten Stufe (für Bruttoeinkommen bis 30.000 EUR) bei etwa 250 EUR. Nach der insoweit relativ konsolidierten Rechtsprechung ist dagegen von einem durchschnittlichen (!) Schulgeld von maximal etwa 160 EUR auszugehen, das dann allerdings sozial gestaffelt erhoben werden muss. Geringverdiener und solche Familien, die auf staatliche Unterstützung nach SGB II, XII oder WohnGG angewiesen sind, müssten gänzlich befreit sein. „Stipendien“, die nach Aussage dieser Schulen in „begrenzten Umfang“ zur Verfügung gestellt werden (wobei dies durch die Behörden ebenfalls nicht nachgeprüft wird), reichen nach der unmissverständlichen Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht. Ohne Zweifel verfassungswidrig ist die Zulassung solcher Schulen wie der Berlin Brandenburg International School (BBIS), die als in Form einer gemeinnützigen GmbH betriebene Ersatzschule ganz offiziell Schulgelder ab 800 EUR aufwärts erhebt. Das gilt auch für Schulen wie die Internatsschule Schloss Salem, deren Beitragssätze weit jenseits der genannten Rechtsprechung liegen.

Vergegenwärtigt man sich den Argumentationsgang des Bundesverfassungsgerichts, so ist die Tatsache, dass derartige „Eliteschulen“ neben den weit überhöhten Elternbeiträgen größtenteils in erheblichem Umfang an der staatlichen Privatschulfinanzierung partizipieren, durchaus beschämend und verkehrt die Intention des Grundgesetzes geradewegs ins Gegenteil.

Dabei könnte durch eine effektive staatliche Kontrolle, die sich unseres Erachtens auch auf die Aufnahmepraxis der Schulen erstrecken muss, der Sonderung wirksam entgegengewirkt werden. Sinnvoll wäre es zudem, den Förderanspruch – ganz im Sinne der Rechtsprechung – an die Einhaltung des Sonderungsverbots zu knüpfen. So werden freien Schulen, die tatsächlich für Kinder aus allen sozialen Schichten offen stehen, in ihrer besonderen pädagogischen Ausrichtung geschützt und (dann sogar besser als heute) staatlich gefördert. Das Land Berlin plant gegenwärtig eine Reform seiner Förderregelungen, die in diese Richtung geht. Es bleibt zu hoffen, dass auch die anderen Bundesländer nicht tatenlos bleiben.


SUGGESTED CITATION  Wrase, Michael: Zwischen pädagogischer Freiheit und Selektivität: Warum die Förderung der freien Schulen verfassungsrechtlich auf dem Spiel steht, VerfBlog, 2016/12/03, https://verfassungsblog.de/zwischen-paedagogischer-freiheit-und-selektivitaet-warum-die-foerderung-der-freien-schulen-verfassungsrechtlich-auf-dem-spiel-steht/, DOI: 10.17176/20161205-101205.

17 Comments

  1. Tichaona Sun 4 Dec 2016 at 17:42 - Reply

    Auch interessant in diesem Zusammenhang: die Praxis von Privatschulen mit niedrigen Schulgeldern, streng nach allerdings objektiven Kriterien wie der Leistung in der Grundschule, weiterer Bildung etc. zu selektieren, wer die Schule besuchen darf, dann aber Sonderregelungen für Kinder mit bestehenden Familienbanden zu der Schule (Besuch durch die Eltern, Geschwister, andere Verwandte) zu treffen.
    Auch so bleiben in der Praxis die Klans zu einem guten Teil unter sich.

  2. L-eser Sun 4 Dec 2016 at 23:06 - Reply

    Solange die Behörden den Ersatzschulen ermöglichen, wesentlich mehr Schulgeld einzunehmen, als zur Finanzierung des geforderten “gleichwertigen Pflichtschulbetriebes” notwendig ist, werden Privatschulen diese Möglichkeit nutzen und ihre Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern sondern, die in der Lage sind, hohe Schulgelder zu zahlen.

    Bisher liegen mit der Drs. 19/1632 nur für Hessen Informationen über die tatsächlich verlangten durchschnittlichen Schulgelder Ersatzschulen vor.
    So dass diese beispielhaft gelten können.*

    Angesichts der staatlichen Finanzhilfen, die in Hessen 85 % bzw. 90 % der Schülerkosten staatlicher Schulen entsprechen, ist zu erahnen, über welche Mehreinnahmen, die Ersatzschulen verfügen können, ohne dass sie ernsthafte Kontrollen oder Forderungen nach Erstattungen zu viel verlangter Gelder (Schulgelder oder Finanzhilfe) befürchten müssten.*

    Dabei wären Zusatzangebote und andere Wettbewerbsvorteile doch eigentlich durch freiwilliges Engagement (Spenden, ..) zu finanzieren.

    Es bleibt abzuwarten, ob sich mit der Studie der WZB etwas am Missstand ändert, oder diese wie der sexuellen Missbrauch an privaten Schulen oder die Feststellung der Kölner Richter v. 14.2.2008 noch jahrelang unbeachtet bleibt,*

    Lässt sich das Schweigen damit erklären, dass dieser “Störung des Schulfriedens” Reaktionen, wie z.B. eine Kündigung des Schulvertrages folgen kann? *

    Quellen:

    (Siehe dazu Anl. 4 in Drs. 19/1632 http://starweb.hessen.de/cache/DRS/19/2/01632.pdf;
    zur Höhe der Finanzhilfen s. Presseerklärung v. Hess. Kultusminist. v. 12.4.2013 http://www.agfs-hessen.de/resources/PM_Ersatzschulfinanzierung.pdf ).

    (DIE WELT am 15.2.2016 https://www.welt.de/regionales/nrw/article152258787/Privatschule-kassierte-trotz-Schulgeld-Zuschuesse.html ).

    (Berliner Zeitung v. 31.8.2015 http://www.berliner-zeitung.de/berlin/evangelische-grundschule-friedrichshain-berlinerin-fliegt-grundlos-von-der-schule-22572706).

    (FG Kö