Zwischen Prinzipientreue und Pragmatismus
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsreform der Ampelkoalition
Mit seinem Urteil zur Wahlrechtsreform der Ampelkoalition vom 30. Juli 2024 hat das Bundesverfassungsgericht den Kern der Reform – die Zweitstimmendeckung – bestätigt, aber die Sperrklausel partiell beanstandet. Der Beitrag gibt einen ersten Überblick über die wesentlichen Erwägungen des Gerichts und ordnet sie kritisch in den wahlrechtlichen und politischen Kontext ein.
Zweitstimmendeckung bestätigt
Was wurde der Wahlrechtsreform der Ampelkoalition nicht alles vorgeworfen? Schon als der Gesetzentwurf im Januar 2023 bekannt wurde, war in der politischen Arena von „organisierter Wahlfälschung“ die Rede, die man sonst nur aus „Schurkenstaaten“ kennt Wahlkreissiegern würde der Einzug in den Bundestag „verwehrt“, Wahlkreisabgeordneten ihre Mandate „aberkannt“ (vgl. die Berichterstattung). Namhafte Staatsrechtslehrer:innen schlossen sich dieser Einschätzung an, wenn auch nicht im Ton, so doch in der Sache. Das Kernelement der Reform – die Zweitstimmendeckung –, wurde als „Kappungsmodell“ geframed, das mit Demokratie- und Bundesstaatsprinzip ebenso wenig vereinbar sei wie mit Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien. In Schriftsatzform gegossen wurden diese Einwände, die oft mehr auf verfassungspolitischen Intuitionen denn auf verfassungsrechtlichen Ableitungen beruhten, dem Gericht präsentiert, das nach eingehender Prüfung davon nichts übrig ließ. Kein einziger Kritikpunkt hatte in Karlsruhe Bestand.
Das Gericht selbst gibt sich betont prinzipientreu und hebt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Wahlrecht hervor. In Erfüllung seines Verfassungsauftrags, ein Wahlrecht für den Bundestag zu schaffen (Art. 38 Abs. 3 GG), könne der Gesetzgeber Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen. Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, sei nicht an besondere Voraussetzungen gebunden (Rn. 169). Die Kritiker stützten ihre Ablehnung der Reform maßgeblich auf vermeintliche Kontinuität im Wahlrecht, aus der sie ableiteten, dass die Personenwahl in den Wahlkreisen einen legitimatorischen Eigenwert habe und daher jeder mit einfacher Mehrheit gewählte Kandidat – wie bisher – zwingend ein Mandat erhalten müsse (Rn. 177). Der Gesetzgeber hat sich jedoch von der Personenwahl verabschiedet (vgl. dazu schon unsere Beiträge zum Gesetzentwurf und zur Reform). Im Gesetzestext kommt sie nicht mehr vor. Das Gericht vollzieht diesen Paradigmenwechsel nach. Zwar will es auf den Ausdruck „Personenwahl“ auch ohne gesetzliche Grundlage nicht verzichten, doch definiert es ihn neu: „Die Personenwahl ist nach dem Bundeswahlgesetz ein Personalisierungselement der Verhältniswahl, das der Gesetzgeber dieser untergeordnet hat“ (Rn. 210). Diese Unterordnung kommt in der Regel zum Ausdruck, dass den Parteibewerbern im Wahlkreis nur noch dann Mandate zugeteilt werden, wenn sie die Mehrheit der Erststimmen im Wahlkreis errungen haben und die Mandate vom Zweitstimmenergebnis ihrer Partei gedeckt sind. Der Gedanke der „Kappung“ ist schon deshalb verfehlt, weil unter dem reformierten Wahlrecht ein Wahlkreismandat erst dann entsteht, wenn es durch Zweitstimmen gedeckt ist (vgl. Rn. 178).
Dass durch das Verfahren der Zweitstimmendeckung Wahlkreise unbesetzt bleiben können, irritiert das Gericht nicht: Die angeblichen Gebote der Regionalisierung oder der Wahlkreisrepräsentation fänden weder im Grundgesetz noch im bisherigen Wahlrecht eine Stütze (Rn. 180). Zur Wahlkreisrepräsentation findet das Gericht deutliche Worte: „Es wäre […] verfehlt, Wahlkreisabgeordnete als Delegierte ihres Wahlkreises anzusehen. Denn sie sind gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Vertreter des ganzen Volkes und allein ihrem Gewissen verantwortlich“ (Rn. 182). In der Tat ist die Emanzipation des Abgeordneten vom Wahlkreis der verfassungshistorische Ursprung des Gedankens der Gesamtrepräsentation. So erklärte die Französische Verfassung von 1791 – als erste ihrer Art – den Abgeordneten zu Repräsentanten „der ganzen Nation“, um sie von den Aufträgen ihrer Wahlkreise freizustellen (Tit. III, Abschn. III, Art. 7).
Auch dass fehlende Wahlkreisabgeordnete in angeblich „verwaisten“ Wahlkreisen eine desintegrative Wirkung entfalten können, überzeugte den Senat nicht (Rn. 189). Die Anhörung von Abgeordneten in der mündlichen Verhandlung illustrierte, was die empirische Wahl- und Parlamentsforschung längst nachgewiesen hat: Die Wahlkreisarbeit von Listen- und Wahlkreisabgeordneten unterscheidet sich nicht. Dass den Wahlkreisabgeordneten eine besondere Bindung an seinen Wahlkreis auszeichnet, ist ein Mythos, mit dem das taktische Interesse der Unionsparteien am Erhalt der Überhangmandate im Reformdiskurs der letzten 15 Jahre demokratietheoretisch camoufliert wurde. So wenig, wie es dieser Legende Glauben schenkte, war das Gericht geneigt, den plötzlichen Meinungsumschwung der Union in Sachen Parlamentsgröße nachzuvollziehen: Dem Einwand, die zunehmende Größe des Bundestages begründe keinen hinreichenden Reformbedarf, stehe der breite Konsens einer langjährigen Reformdebatte entgegen (Rn. 192).
Das Bundesstaatsprinzip konnte der Reform schon deshalb nicht gefährlich werden, weil das Gericht stets entschieden hatte, der Gesetzgeber sei bei der Gestaltung des Wahlrechts zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet, föderale Belange zu berücksichtigen (Rn. 196). Heilsam für den völlig verzerrten Repräsentationsdiskurs könnte die Feststellung wirken, dass eine Partei wie die CSU, selbst wenn sie alle Wahlkreismandate in einem Land gewinnt, damit nach der Konzeption des Grundgesetzes nicht zur Repräsentantin dieses Landes im Bundestag wird (Rn. 197). Auch die auf das demokratische Mehrheitsprinzip gestützte Kritik an der vermeintlichen „Kappung“ verpufft, wenn das Gericht notiert: „Das Mehrheitsprinzip trifft keine Aussage darüber, was mit einer Mehrheit erreicht wird“ (Rn. 198) – ein Satz, dem dank seiner Eleganz und Überzeugungskraft eine steile Karriere in der verfassungsrechtlichen Literatur beschieden sein dürfte.
Allein der Vorliebe des Gerichts für die Wahlgleichheit (krit. dazu Drossel 2021) dürfte der Einwand, die Reform benachteilige Parteikandidaten gegenüber unabhängigen Bewerbern, seine vergleichsweise ausführliche Würdigung verdanken (Rn. 198 ff.). Denn die Rechtfertigung dafür, dass einem unabhängigen Bewerber die bloße Erststimmenmehrheit zum Mandatserwerb genügt, liegt doch auf der Hand: Er verzichtet auf das „Ticket“ einer Partei, von dem die Wahlchancen in einer Parteiendemokratie entscheidend abhängen. Nicht zufällig hat es seit 1953 kein unabhängiger Bewerber mehr in den Bundestag geschafft, und auch die drei parteilosen Wahlkreisabgeordneten von 1949 waren bei näherem Hinsehen alles andere als „unabhängig“ (vgl. Nestler 2014). Dass das Gericht dennoch an der realitätsfernen Prämisse festhält, die unabhängige Kandidatur sei ein Korrektiv zur hervorgehobenen Rolle der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes (Rn. 202 mit Verweis auf BVerfGE 41, 399), ist daher verwunderlich. Unabhängige Kandidaten spielen in der politischen Praxis schlicht keine Rolle. Im reformierten Wahlrecht sind sie nicht mehr als ein Fossil, bei dem man bezweifeln kann, ob sein musealer Wert die Ausstellung in der prominenten Vitrine des § 1 Abs. 4 BWahlG rechtfertigt.
Die auf die Gleichheit der Stimmen (Rn. 206 ff.), die Unmittelbarkeit der Wahl (Rn. 212 ff.) und die Chancengleichheit der Parteien (Rn. 215 ff.) gestützten Einwände weist das Gericht mit knappen, aber überzeugenden Ausführungen zurück. Für die politische Kontextualisierung der Reform von besonderer Bedeutung ist der Hinweis, dass diese lediglich dazu führe, dass im kommenden Bundestag von jeder Partei weniger Abgeordnete vertreten sein werden als nach dem bisherigen Wahlrecht. Von dessen beschränkten Ausgleich der Überhangmandate hatte nämlich allein die CSU profitiert: „Wird die Ungleichbehandlung beseitigt, stellt dies die Chancengleichheit wieder her und verletzt sie nicht“ (Rn. 216). Auch das musste angesichts der erhitzten Debatte über die Wahlrechtsreform einmal gesagt werden.
Sperrklausel modifiziert
So überraschend deutlich die Zurückweisung der Kritik an der Zweitstimmendeckung ausfiel, so wenig überrascht die Beanstandung der Sperrklausel, die erst in der letzten Phase des Reformprozesses durch den Wegfall der Grundmandatsklausel verschärft worden war. Schon nach der mündlichen Verhandlung hatte sich der Eindruck verfestigt, dass das Gericht insoweit korrigierend eingreifen würde. Denn immerhin drohen mit der Linken und der CSU zwei etablierte Parteien bei der nächsten Bundestagswahl an der reformierten Sperrklausel zu scheitern. Darüber, wie der Eingriff aussehen würde, war aber bis zuletzt rege spekuliert worden. Die „Lösung“, die das Gericht schließlich gewählt hat, dürften dabei nur die wenigsten auf dem Zettel gehabt haben.
Denn der Eingriff setzt nicht bei der „bewährten“ (Rn. 235) Höhe der Sperrklausel von 5 Prozent der gültigen Zweitstimmen an. Künftige Korrekturen bei einem anwachsenden „sperrklauselbedingten Ausfall an Stimmen“ werden zwar explizit nicht ausgeschlossen, doch sieht das Gericht dafür derzeit keinen Anlass (Rn. 248). Den Zugriff auf die verschärfte Sperrklausel eröffnet es sich vielmehr durch eine an der politischen Praxis orientierte Verhältnismäßigkeitsprüfung, in der es zeigen will, dass die Klausel unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang erforderlich ist, um das damit verfolgte Ziel zu erreichen (Rn. 249 ff.). Dieses Ziel ist die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments (Rn. 224). Die Einschätzung darüber, was zu dieser Sicherung erforderlich ist, hatte das Gericht bisher weitgehend dem Gesetzgeber überlassen. Diese Zurückhaltung war in der mündlichen Verhandlung nicht ohne Kritik geblieben. Das Gericht konkretisiert nunmehr die verfassungsrechtlichen Vorgaben: Die Funktionsfähigkeit des Parlaments wird nach dem Urteil durch die Fraktionen als zentrale Handlungseinheiten gewährleistet (Rn. 233 ff.). Ziel der Sperrklausel muss daher sein, eine effektive Fraktionsbildung sicherzustellen. Die Fünf-Prozent-Hürde des Wahlrechts dient diesem Ziel, indem sie gewährleistet, dass Fraktionen eine bestimmte Mindestgröße haben (Rn. 236). Die Geschäftsordnung des Bundestages greift diese durch die Sperrklausel geschaffene Voraussetzung auf, indem sie in § 10 Abs. 1 Satz 1 für die Fraktionsbildung ein Quorum von mindestens fünf Prozent der Abgeordneten verlangt. Sperrklausel und Fraktionsmindeststärke hängen also – in der Deutung des Gerichts – untrennbar miteinander zusammen.
Durch diesen Zusammenhang gelingt es dem Gericht, eine parlamentsrechtliche Bestimmung, die auf CDU und CSU zugeschnitten ist, ins Wahlrecht zu übertragen. Denn nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GOBT ist die Bildung einer Fraktion aus Abgeordneten verschiedener Parteien zulässig, wenn diese Parteien auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. CDU und CSU können daher – auch ohne Zustimmung des Bundestages (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT) – eine Fraktion bilden, obwohl diese eigentlich entlang der Parteilinien zu konstituieren ist. Das Gericht macht deutlich, dass es sich hier um eine Sonderregelung zugunsten der beiden Unionsparteien handelt, die in der politischen Öffentlichkeit als „Schwesterparteien“ auftreten (Rn. 239). Weil die Sperrklausel dieser besonderen Situation nicht Rechnung trägt, scheitert sie – nur insoweit! – an der Erforderlichkeitsprüfung. Denn zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestags soll es nicht notwendig sein, „eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete im Fall ihrer Berücksichtigung eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden“ (Rn. 249).
Dabei will das Gericht die abstrakte Möglichkeit der Fraktionsbildung nicht ausreichen lassen, sondern verlangt eine Art konkreter Wahrscheinlichkeit, auf die es anhand von drei Elementen schließen will: „erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden“ (Rn. 258). Diese Kriterien sind der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU auf den Leib geschneidert, denn nur die „Schwesterparteien“ erfüllen alle drei Voraussetzungen. Mehr noch: Nur sie können überhaupt alle drei Voraussetzungen erfüllen, denn das zweite Element verlangt, dass eine gemeinsame Fraktion bereits besteht. Die darin liegende Ungleichbehandlung aller anderen Parteien, die sich zu einer gemeinsamen Fraktion verbinden wollen, rechtfertigt (vgl. Rn. 261) das Gericht mit dem Verweis darauf, dass bei ihnen das zweite Kriterium eben nicht vorliege (Rn. 263). Wie der Verweis auf die zu rechtfertigende Voraussetzung die Voraussetzung rechtfertigen soll, bleibt unklar.
Das Gericht lässt es ausdrücklich offen, ob eine gemeinsame Berücksichtigung von Parteien zur Überwindung der Sperrklausel auch dann gerechtfertigt wäre, wenn lediglich einzelne der drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls sei sie gerechtfertigt, wenn alle drei Voraussetzungen erfüllt sind (Rn. 265). Der Pragmatismus des Urteils ist an dieser Stelle mit Händen zu greifen. Angesichts der restriktiven älteren Rechtsprechung zu Listenverbindungen (Rn. 266 mit Verweis auf BVerfGE 82, 322) wäre der Gesetzgeber gewiss dankbar für Hinweise gewesen, wie eine „Zusammenrechnung“ von Parteien verfassungskonform auszugestalten wäre. Er erhält aber nur zur Antwort: Jedenfalls zugunsten von CDU und CSU ist die Überwindung der Sperrklausel zulässig, alles andere kann offen bleiben. Das Gericht deutet verschiedene Gestaltungsvarianten an, die von einer Veränderung oder Absenkung der Sperrklausel bis zur Wiedereinführung der alten Grundmandatsklausel (jetzt: Wahlkreisklausel) reichen (Rn. 273 ff.). Obwohl es die Wahlkreiswahl unter die Verhältniswahl im reformierten Wahlrecht unterordnet (s. o.), hält es relative Erststimmenmehrheiten nach wie vor für geeignet, die Sperrklausel zu durchbrechen (Rn. 278 ff.). Denn ein Erfolg in den Wahlkreisen könne immer noch als Indiz für eine besondere Repräsentationswürdigkeit der Partei gewertet werden (Rn. 282). Dass die Gesetzesbegründung gerade die politische Aussagekraft der immer knapperen Wahlkreissiege bezweifelt hat (BT-Drs. 20/5370, S. 10) – 2021 wurden Wahlkreismandate im Schnitt mit 33 Prozent der Erststimmen gewonnen! –, vermag das Gericht nicht von seinem Kurs abzubringen.
CSU gerettet, und die Linke gleich mit?
Rechtstechnisch vollzieht sich die „Rettung“ der CSU dadurch, dass der Zweite Senat die Fortgeltung der (modifizierten) Grundmandatsklausel in Ziffer 4 des Urteils anordnet. Bis zu einer Neuregelung ist die Sperrklausel mit der Maßgabe anzuwenden, dass bei der Sitzverteilung Parteien, die weniger als fünf Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben, nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben. Einfacher formuliert: Relative Erststimmenmehrheiten in drei Wahlkreisen werden auch weiterhin von fünf Prozent der Zweitstimmen im Bundesgebiet gleichgestellt. Zur Entscheidungsbegründung passt diese Fortgeltungsanordnung nicht. Denn sie reflektiert nicht den Grund für die Beanstandung der Sperrklausel, der ja nichts mit Erststimmenmehrheiten zu tun hatte, sondern allein mit der Wahrscheinlichkeit, dass CDU und CSU miteinander eine Fraktion bilden. Diese Wahrscheinlichkeit ist unabhängig davon gegeben, ob und in wie vielen Wahlkreisen CSU-Kandidaten die meisten Erststimmen erhalten. CDU und CSU sind ja nicht „Schwestern“ geworden, weil sie Wahlkreise gewinnen, sondern weil sie die politischen Ziele teilen.
Zwischen Urteilsgründen und Tenor besteht also ein gedanklicher Bruch, über dessen Motive man nur spekulieren kann, zumal sich eine andere Entscheidungsvariante geradezu aufgedrängt hätte. Das Gericht hätte nämlich ohne weiteres anordnen können, die Sperrklausel – vorbehaltlich einer Neuregelung – bei der nächsten Bundestagswahl nach Maßgabe der Entscheidungsgründe anzuwenden ist, also die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, auf die die drei Kriterien zutreffen, für die Zwecke der Sperrklausel zusammenzurechnen. Diese Maßgabe hätte nicht nur zum Begründungsteil gepasst, sie hätte auch weniger stark in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingegriffen. Denn von der Fortgeltung der Grundmandatsklausel könnte neben der CSU noch eine weitere Partei profitieren, die nach dem Urteil gerade keinen Bestandsschutz genießt: die Linke, die trotz der Abspaltung des BSW und schlechter Umfragewerte immer noch darauf hoffen kann, in drei Wahlkreisen mit den Erststimmen vorn zu liegen. Weil das Gericht dem Gesetzgeber mit dem Verweis auf die Empfehlungen der Venedig-Kommission eine äußerst knappe Frist für eine Überarbeitung der Sperrklausel setzt (Rn. 290: Jahresfrist), ist es gut möglich, dass die Zeit nicht mehr ausreicht, eine Gesetzesänderung zu verabschieden, die der CSU den gerichtlich gebotenen Bestandsschutz gewährt, der Linken aber nicht. Die Linke würde gleichsam „mitgerettet“ – was die Regierungsbildung im künftigen Bundestag nicht gerade erleichtern dürfte.
Die politischen Konsequenzen der pragmatischen Rettungsaktion aus Karlsruhe lassen sich noch nicht voll überblicken. Das Urteil bewahrt die CSU einerseits davor, dass sie nicht mehr in den Bundestag einzieht oder sich als Landesverband der CDU anschließen muss, um die Sperrklausel (sicher) zu überwinden. Andererseits zwingt es sie auf ewig in die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Denn nur dem Faktum, dass die beiden Parteien eine Fraktion bilden, hat es die CSU zu verdanken, dass die Sperrklausel zu ihren Gunsten beanstandet wurde. Diese Abhängigkeit von der Kooperation mit der „großen Schwester“ könnte das politische Gewicht der bayerischen Regionalpartei mit bundespolitischem Anspruch erheblich verringern. Die bald latente, bald akute Drohung damit, die Fraktionsgemeinschaft aufzukündigen – die in der Vergangenheit gern als politisches Druckmittel eingesetzt wurde –, wird künftig jedenfalls niemand mehr ernst nehmen. Der legendäre „Geist von Kreuth“ ist in der Flasche des Wahlrechts gefangen.
Gerade zu komisch erscheint mir, dass die “Fortgeltungsanordnung” der Wahlkreisklausel den durch Karlsruhe selbst aufgestellten Maßstäben nicht gerecht wird. Denn für den (hypothetischen und nicht sehr realistischen) Fall, dass der Zweitstimmenanteil der CSU 5 % unterschreitet und sie keine drei Wahlkreissieger stellt, würden die Abgeordneten nicht in den Bundestag einziehen, obwohl dies nach den Urteilsgründen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages nicht erforderlich wäre. Das steht mE exemplarisch für die bereits im Beitrag angesprochene Dissonanz von Begründung und Fortgeltungsanordnung.
Danke für den gelungenen Artikel. Einzig der Satz “Im reformierten Wahlrecht sind sie nicht mehr als ein Fossil, bei dem man bezweifeln kann, ob sein musealer Wert die Ausstellung in der prominenten Vitrine des § 1 Abs. 4 BWahlG rechtfertigt.” hinsichtlich der Einzelkandidaten könnte schlechter altern, also Sie sich vielleicht gerade vorstellen. Es muss nur einmal jemand entdecken, mit wie wenig Geld hier ein Wahlkreis gewonnen wird und eine kleine Privatinvestition tätigen. So wie man eben einen Senatsposten in Ohio gewinnt.
Über einen Wahlkreis, besonders in örtlich begrenzten, sogenannten “Hochburgen” politischer Parteien in entsprechenden örtlichen Millieus, ein Mandat bewirken zu können, kann von der Anzahl der erforderlichen Stimmen um einiges wahrscheinlicher scheinen als über einen entsprechenden Stimmenanteil im gesamten Wahlgebiet auf Bundesebene.
Ein Grundmandat für 3 Wahlkreisgewinne kann danach vor dem Hintergund einer Gleicheit der Wahl in der Folgewirkung (“Erfolgswertgleicheit” o.ä.) nicht völlig unproblematisch wirken.
Fraglich kann scheinen, ob eine Sperrklausel in Höhe von 5 Prozent erforderlich sein muss, wenn etwa bei einer Sperrklausel in Höhe von 4,5 Prozent oder 4 Prozent keine Zerklüftung und wesentlich geringere Arbeitsfähigkeit des zu wählenden Parlamentes drohen muss.
5 Prozent können eine recht zufällige Zahl sein, wennn es keine näheren Belege für die Erforderlichkeit gibt.
Bei einer Sperrklausel unter 4 Prozent sollte die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Zerklüftung oder wesentlich geringeren Arbeitsfähigkeit eines zu wählenden Parlamentes zunehmend um einiges höher sein.
Es bedarf nicht einmal 1% der Stimmen um 3 Stimmkreismandante vom Zweitstimmenanteil zu decken – diese Gefahr scheint überschaubar, zumal dies in 70 Jahren Wahlgeschichte in Deutschland nicht vorkam.
Darf ich an dieser Stelle mal eine Frage stellen:
Worauf gründet die Behauptung, dass etwa die CSU, wenn sie nach dem neuen Wahlrecht bei der nächsten Wahl zB nur 4,9 % der Zweitstimmen erhalten würden auch nicht mit den zB errungenen 45 Erstimmenmandaten ohne eine Grundmandatregelung vertreten wäre?
Gem. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BWahlG nähme sie in diesem Fall doch gar nicht an dem Verfahren der Zweitstimmendeckung gem. § 6 Abs. 1 Satz 4 BWahlG teil, wie übrigens auch unabhängige Bewerber gem. § 4 Abs. 2 Nr. 1 BWahlG, auf die das BVerfG ausdrücklich eingeht.
Nach § 4 Abs. 1 und 2 BWahlG wird die Gesamtzahl der Sitze (also 630) nach dem Zweitstimmenproporz auf die Parteien verteilt. Eine Partei, die daran wegen § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht teilnimmt, erhält also überhaupt kein Mandat. Sie hat auch keines in den Wahlkreisen “errungen”, weil die Erststimmenergebnisse nur noch bei der parteiinternen Besetzung der Sitze relevant sind (§ 6 Abs. 1, 3 und 4 BWahlG). Im Wahlkreis gewählt werden können nur noch unabhängige Bewerber (§§ 1 Abs. 4, 6 Abs. 2, 20 Abs. 3 BWahlG). Parteibewerber mit den meisten Erststimmen in ihrem Wahlkreis qualifizieren sich lediglich für die interne Vorabzuteilung nach § 1 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 6 Abs. 1 BWahlG. Daher sind die “Wahlkreise” für sie eigentlich auch keine Wahlkreise im technischen Sinne mehr, sondern bloß Stimmkreise.
Vielen Dank für die ausführliche und nachvollziehbare Antwort!
Man kann nur hoffen, dass es nicht zu der vom Bundesverfassungsgericht nahezu empfohlenen Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU kommt. Der Regionalproporz würde dadurch erneut schwer beeinträchtigt werden. Mit Grausen erinnere ich mich daran, dass nach einer Bundestagswahl die 16 Überhangmandate der CDU in Baden-Württemberg durch den Wegfall von 10 Listenmandaten der CDU in Nordrhein-Westfalen, 5 Listenmandaten der CDU in Niedersachsen und 1 Listenmandat der CDU in Berlin kompensiert wurden.
Ich bin kein Jurist, daher bitte ich vorab um Verzeihung für meine unpräzise Wortwahl.
Ich frage mich, ob nicht die Legitimation einer (hohen) Sperrklausel bei Wahlen allgemein durch die jüngste Landtagswahl in Brandenburg weitere Risse bekommen hat.
Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis gestaltet sich die Regierungsbildung schwieriger mit 5-Prozent-Klausel, als sie es ohne oder mit niedriger Hürde gewesen wäre, weil mögliche Koalitionspartner wie Grüne und Linke an der Schwelle gescheitert sind. Siehe die zugehörige Berichterstattung (z. B. dpa-Meldung “Brandenburg-Wahl: Schwierig in Potsdam …”).
Weder SPD noch AfD kommen mit einem Partner auf eine Mehrheit, doch es werden ohnehin nur vier im Parlament vertreten sein. SPD + CDU 44 von 88 Sitzen, AfD + BSW 44 von 88 Sitzen.
Das ist natürlich rein politisch. Doch was schwerer wiegt: Die AfD hat eine Sperrminorität erreicht, die sie mti einer Hürde unter 5 Prozent wohl nicht erreicht hätte.
Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Einschränkung des Prinzips der gleichen Wahl, die immerhin 14,3% der Stimmen völlig unter den Tisch fallen lässt, – nämlich eine einfachere Regierungsbildung zu ermöglichen und den Einfluss extremer Parteien zu begrenzen -, wird also konterkariert. Denn die 5-Prozent-Hürde ermöglicht ja gerade erst das, was vermieden werden soll. Das ist paradox und im wörtlichen Sinn tragisch – das zu Vermeidende tritt dadurch erst ein, dass man es vermeiden will.
Klar, die AfD ist keine Kleinpartei und die Gesamtkonstellation ungewöhnlich. Es ist also wohl nicht die Lehrbuchsituation.
Dennoch: Wie kann auf dieser Faktenlage am Beispiel Brandenburg eine 5-Prozent-Hürde in dieser Höhe noch verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden? Wäre angesichts des grundsätzlichen Trends zu kleineren Stimmanteilen auch großer (ehemaliger) Volksparteien nicht eine niedrigere Hürde angemessener, z. B. 3 Prozent? Auch wenn das politisch kaum durchsetzbar wäre, aus Eigeninteresse der Großen.
Das beschäftigt mich als interessierten Laien und Staatsbürger. Anderswo habe ich dazu nicht viel Aktuelles gefunden. Vielleicht haben Sie einen kurzen Hinweis oder Artikelverweis für mich?
Vielen Dank!