09 November 2011

5%-Hürde: Kein Grund zur Freude (außer für die CSU vielleicht)

Das EU-Parlament ist ja gar kein vernünftiges Parlament. Also kann man es getrost mit Winzparteien und Politsektierern vollpacken. Was beim Bundestag als tödliche Gefahr für die Stabilität der Demokratie gilt, lässt sich beim EU-Parlament mit einem Achselzucken ertragen.

Das ist die Quintessenz der heutigen Entscheidung zur 5%-Hürde bei den Europawahlen aus Karlsruhe. Einer Entscheidung, die in der Hall of Fame der intellektuellen Großtaten des Zweiten Senats wohl eher in einem der abgelegeneren Ausstellungsräume ihren Platz finden wird.

Vom Ergebnis her gedacht ist der Wegfall der 5%-Hürde bei Europawahlen natürlich erstmal eine schöne Sache für FDP, CSU (Foto) und andere Splitterparteien. Ihnen bleiben in jedem Fall ein paar Posten in Brüssel/Straßburg gewiss. Gratuliere dazu. Der NPD übrigens auch. Schöner Erfolg.

Aber das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist für mich dieser: Der Zweite Senat springt hier wieder mal in einer Weise mit dem Parlament um, dass einem ganz schwindlig wird. Gar nicht in erster Linie mit dem Europaparlament. Sondern mit dem Deutschen Bundestag.

Bundestag als Machtkartell

Der hat das maßgebliche Wahlgesetz erlassen und sich darin für eine 5-Prozent-Hürde entschieden. Das ist seine Zuständigkeit, dafür ist er verantwortlich und niemand sonst. Dabei, so räumt die Senatsmehrheit treuherzig ein,

hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe des Gesetzgebers zu übernehmen und alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen.

Aber, so der Senat weiter, eigentlich hat es dann doch genau diese Aufgabe, und zwar aus folgendem Grund:

Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle

Wie bitte? Da stellt das Gericht einfach mal so ganz gelassen in den Raum, dem Bundestag sei bei der Regelung des Wahlrechts nicht zu trauen, weil die Mehrheit sich ja doch nur die Konkurrenz vom Leib halten wolle? Unser Parlament sei ein korruptes Machtkartell und habe deshalb sei in allen Fragen des Wahlrechts ein rigoroses verfassungsgerichtliches Mikromanagement nötig?

Herr Lammert, möchten Sie sich vielleicht dazu äußern? Sollten Sie, finde ich.

Was sich seit 1979 geändert hat

Wo ich auch nicht recht mitkomme, ist die Passage, wo es um die Frage geht, was passiert, wenn die Welt sich ändert und die Prognoseannahmen des Gesetzgebers nicht mehr stimmen (RNr. 90). Dann, so die Senatsmehrheit wenig überraschend, ändert sich natürlich auch die Beurteilung des Ergebnisses. Woraus sie ableitet:

Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden.

Dazu muss man wissen, dass der Senat 1979 schon mal über die 5%-Hürde bei Europawahlen zu urteilen hatte und damals überhaupt kein Problem dabei erkennen konnte.

Diese Entscheidung kommt in der Begründung aber nur ganz am Rande vor. Mir ist bei ihrer Lektüre ehrlich gesagt nicht wirklich klar geworden, warum die 5%-Klausel 1979 zum Funktionieren des EU-Parlaments unabdingbar war und heute nicht mehr. Umgekehrt, okay. Damals hatte das EP kaum etwas zu melden, wozu also eine 5%-Hürde. Aber so herum? Großes Rätsel.

Stattdessen dekliniert uns die Senatsmehrheit vor, was das Parlament so alles tut und warum es dabei jeweils nicht so schlimm ist, ob da nun ein paar Einzelfreaks mehr oder weniger herumspringen.

Den Ausschlag scheint dann zu geben, dass das EU-Parlament keine Regierung im eigentlichen Sinne wählt. Stimmt ja auch. Dass ansonsten die Mehrheitsfindung im Parlament schwieriger wird, und das in diesen Zeiten, räumt die Senatsmehrheit zwar gleichmütig ein, befindet das aber in sehr kleinteiliger Einzelfallabwägung jeweils für okay.

Dann macht es halt selber

Das scheint mir überhaupt das Ziel des Manövers zu sein: Die Senatsmehrheit möchte uns gern weiterhin nach jeder Wahl mit ihren Gedanken zu Erfolgs- und Zählwertgleichheit plagen, bedenkenvoll den Kopf wiegen und – wie formulierten sie das so schön? – „alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen“. Der Bundestag soll mal machen, und hinterher wird dann minutiös über ihn zu Gericht gesessen, was er wieder für Blödsinn angerichtet hat.

Ich stelle hiermit den Antrag, dass doch bitte künftig gleich die Wahlgesetze in Karlsruhe formuliert werden. Dann sparen wir uns viele langweilige Debatten und Monate der Ungewissheit, während derer der Deutsche Bundestag bzw. das Europaparlament mit dem Makel leben muss, womöglich nicht zur Zufriedenheit des Bundesverfassungsgerichts zusammengesetzt zu sein. Wir sparen uns das sterbenslangweilige Ritual, dass alle möglichen Nasen sich über die „Klatsche“ oder die „Ohrfeige“ ereifern, die sich unsere sauberen Politiker wieder einmal eingefangen haben. Wir wissen, woran wir sind, und können alle in Frieden unseren eigentlichen Aufgaben nachgehen.

Als es um das negative Stimmgewicht ging und die Regierungskoalitionen (der Skandal ist unbenommen) nicht zu Potte kamen, hatte Voßkuhle ja ganz kühl angedeutet, dass er sich und seinem Gericht solche legislative Kompetenz schon zutrauen würde.

Also los. Schreiben Sie uns doch einen Entwurf, bitte. Den winken wir dann durchs Parlament, und Ruhe ist.

Gespaltener Senat

Dass dem Senat selbst nicht ganz wohl ist mit der Geschichte, zeigt seine Gespaltenheit: Nur fünf der acht Richterinnen und Richter tragen das Ergebnis mit, nur vier die Begründung. Ein Sondervotum haben aber nur Di Fabio und Mellinghoff veröffentlicht, die beide kurz vor dem Ausscheiden stehen, als Abschiedsgeschenk sozusagen. Das sind bekanntlich beides Juristen, mit denen ich gerade bei Europathemen eher selten auf einer Linie liege. Hier aber sprechen sie mir aus dem Herzen.

Zu diesem Stimmverhältnis ein kleines verfassungsprozessuales Fragezeichen: Nach § 15 IV 2 BVerfGG kann bei Stimmengleichheit die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht festgestellt werden. Das heißt, wenn der eine Richter, der gegen die Begründung gestimmt hat, auch gegen das Ergebnis gestimmt hätte, dann wäre die Sache anders ausgegangen.

Hat er nicht, deshalb ist das schon korrekt – aber wäre es nicht richtig gewesen, zumindest die abweichenden Gründe dieses Richters zu veröffentlichen? § 31 BVerfGG findet zwar bei Wahlprüfungssachen keine Anwendung. Trotzdem: Hinter dieser Begründung steht nicht die Mehrheit der Richter. Gerade bei dieser Entscheidung wäre ich froh gewesen zu erfahren, welche Gründe alle diese Entscheidung tragenden Richter zu ihren Schlussfolgerungen bewogen hat.

 


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: 5%-Hürde: Kein Grund zur Freude (außer für die CSU vielleicht), VerfBlog, 2011/11/09, https://verfassungsblog.de/5hrde-kein-grund-zur-freude-auer-fr-die-csu-vielleicht/, DOI: 10.17176/20181008-115750-0.

22 Comments

  1. Matthias Heppner Mi 9 Nov 2011 at 17:15 - Reply

    Ich kann die Begründung gegen das Urteil nicht nachvollziehen. Denn es wird hier einfach davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber (hier der Bundestag) bei der Ausgestaltung des Wahlgesetzes völlig freie Hand hätte und alles unter seiner Entscheidungsprärogative festlegen könnte.

    Dem ist aber nicht so! Ganz im Gegenteil müssen jegliche Restriktionen, wie die 5% Hürde, verfassungsrechtlich unbedenklich gerechtfertigt werden. Im Falle des Bundestags sind die historischen Erfahrungen der Weimarer Republik + generelle Erfahrungen im Ausland (z.B. Italien) zu nennen, welche die 5% für Bundestags- und Landtagswahlen rechtens erscheinen lassen.

    Jedoch haben auch die Kommunalwahlen KEINE 5%-Hürde, und hier ist das Argument wohl ähnlich wie bei den Europawahlen

    http://www.sueddeutsche.de/politik/umstrittene-sperrklausel-fuenf-prozent-klausel-bei-europawahl-ist-verfassungswidrig-1.1184555

    „Der Senat unter Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle verwies in der Urteilsbegründung allerdings auf die strukturellen Unterschiede zwischen dem EU-Parlament und dem Bundestag. Das EU-Parlament wähle keine Regierung, die auf seine andauernde Unterstützung angewiesen sei. Darüber hinaus sei die EU-Gesetzgebung nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im Parlament mit einer stabilen Koalition abhängig. Dass die Arbeit des Parlaments durch den Einzug weiterer Kleinparteien unverhältnismäßig erschwert werde, sei nicht zu erkennen.“

    Ähnlich ist die Situation auch bei Kommunalwahlen, wo keine Regierung gewählt wird (Bürgermeisterämter sind darunter nicht zu subsumieren), welche eine unbedingte Verlässlichkeit erfordern.

    Insofern ist die Entscheidung des 2. Senats durchaus nachvollziehbar und in meinen Augen auch richtig.

  2. Max Steinbeis Mi 9 Nov 2011 at 17:23 - Reply

    Nein, nicht freie Hand. Einschätzungsspielraum heißt nicht freie Hand, und nicht freie Hand heißt nicht Mikromanagement.

  3. Matthias Heppner Mi 9 Nov 2011 at 17:34 - Reply

    Aber in deinem Text liest es sich so es so, dass du den Bundestag entscheiden lassen willst, wie Wahlgesetze auszusehen haben.

    „Wie bitte? Da stellt das Gericht einfach mal so ganz gelassen in den Raum, dem Bundestag sei bei der Regelung des Wahlrechts nicht zu trauen, weil die Mehrheit sich ja doch nur die Konkurrenz vom Leib halten wolle? Unser Parlament sei ein korruptes Machtkartell und habe deshalb sei in allen Fragen des Wahlrechts ein rigoroses verfassungsgerichtliches Mikromanagement nötig?“

    Das auch der Bundestag verfassungsrechtlichen Regelungen unterworfen ist, ist doch selbstverständlich, dafür ist es nicht einmal notwendig ein „korruptes Machtkartell“ zu sehen. Der Bundestag hat durch seine gesetzgeberischen Möglichkeiten sehr viel Macht, welche durch die Verfassung reglementiert wird.

    Und die 5%-Hürde ist ein starker Eingriff in die Verfassung. Es hebelt den Grundsatz der Gleichheit der Stimme aus (Art. 38 I GG), in dem der Erfolgswert der Stimme ungleich verteilt wird.

    http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_38.html

    Der Bundestag kann also nicht einfach mit Begründungen wie „Dann kommt auch die NPD rein“ etc.. einfach mal die Gleichheit der Wahl außer Kraft setzen. Und die Begründungen für die 5% Klausel, wie sie für den Bundes- und Landtag existieren, existieren in dieser Form in der Tat nicht für das Europaparlament, da die EU-Strukturen mit Kommission, etc.. (noch) nicht so stark von der Europawahl und der konkreten Zusammensetzung des Parlaments abhängen (was wiederum ein demokratisches Defizit darstellt).

    Mit der jetzigen politischen Struktur der EU ist eine 5% Klausel kaum zu rechtfertigen.

  4. Heinrich Mi 9 Nov 2011 at 22:01 - Reply

    Wie war das mit?: „Wer keine Ahnung hat einfach mal nichts schreiben“

    Nächstes Mal, wenn du wieder vor hast, ein Urteil des BVerfG zu kommentieren, bitte erst das Urteil lesen und verstehen. Verstanden hast du es nämlich offensichtlich nicht. Im Wesentlichen hat Matthias Heppner schon alles dazu gesagt.

    Und das Urteil ist eine 6 monatige Beratungszeit (nach der mündlichen Verhandlung vorausgegangen). Im Gegensatz zu deinen haltlosen Behauptungen.

  5. Guido Strack Do 10 Nov 2011 at 01:59 - Reply

    Das Urteil von 1979 war schwach, aber selbst dort war (iZm. der 1.Direktwahl des EP) von einer Prognoseentscheidung die Rede, die an Entwicklungen zu überprüfen ist.

    Erst danach zeigte sich, dass das EP in seiner Funktionsfähigkeit durch eine immer größere Anzahl dort vertretener Parteien nicht beeinträchtigt wurde, sondern sich immer wieder in einer etwa konstanten Zahl von handlungsfähigen Fraktionen organisierte. Dies ist der entscheidende Grund meiner Beschwerde und der neuen Entscheidung.

    Etwas anderes kommt hinzu, die unterschiedliche Reversibilität bei Bundestagswahl und EP. Wenn sich irgendwann herausstellt, dass die Funktionsfähigkeit des EP in relevantem Maße durch den Wegfall der deutschen Sperrklausel beeinträchtigt wird, kann der Bundestag jederzeit diese wieder einführen. Bzgl. des Bundestags-Wahlrechts geht dies aber evtl nicht mehr. Und wenn man den Schritt im BVerfG jetzt nicht gegangen wäre, so würde man auch nie herausfinden können, ob die Gefahrenprognose wirklich stimmig ist (wohingegen die Verletzung des Grundsatzes der Erfolgswertgleichheit ja absolut sicher feststeht), sie hätte quasi eine Ewigkeitsgarantie bekommen.

    Das Urteil des BVerfG ist andererseits aber sehr wohl kritikwürdig: bezüglich seiner Folgenlosigkeit für die EU-Wahl 2009. Hier wäre zumindest eine Sitzneuverteilung ohne 2Abs.7EuWG nötig und unter Stabilitätsgesichtspunkten machbar gewesen. Insoweit ist die Begründung des BVerfG äußerst knapp und die Kritik der OSZE aus http://www.osce.org/odihr/elections/germany/40879 S.20f. erhält neue Nahrung. Dort hieß es noch:

    „It is recognized that the resolution of post-election complaints by the ESB and FCC in most cases requires considerable time.

    In case of a successful challenge, it appears that the only course of action available to rectify the identified mistake would be to invalidate the results of the election(s) in question and to repeat the polling. “

    Auch die Frage, ob bei festgestellter Verfassungswidrigkeit und dennoch folgenloser Wahlanfechtung noch eine „wirksame Beschwerde“ iSv. Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 u. 5 1.Zusatzprotokoll vorliegt werde ich wohl noch näher prüfen.

  6. Christian Boulanger Do 10 Nov 2011 at 09:43 - Reply

    @Heinrich

    Wie wäre es mit?: „Wer keine eigenen Argumente beizutragen hat und sich nicht zivilisiert äußern kann, einfach mal nichts schreiben?“. Würde die Diskursqualität verbessern.

  7. Mäßiger Do 10 Nov 2011 at 10:08 - Reply

    Ich bin mir nicht sicher, ob die Angaben zum Stimmverhältnis in dem Posting richtig interpretiert werden. Im Urteil heißt es: „Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen, wobei das Ergebnis von einem Mitglied des Senats aus abweichenden Gründen mitgetragen wird.“ Das kann man auch so lesen, dass das Mitglied des Senats mit den abweichenden Gründen ebenfalls dagegen gestimmt hat – was durchaus Sinn ergeben kann, wenn die Mehrheit für das Ergebnis feststeht. Die Formulierung ist aber unglücklich weil offen. Warum ein Sondervotum aller dissentierenden Richter hier angebrachter sein soll als in vielen anderen politisch heiklen Verfahren, in denen solche Sondervoten auch fehlen (zB: Cicero, Rasterfahndung hins. des zweiten dissentierenden Richters, Soldaten sind Mörder hins. der Dissents 2 und 3), erschließt sich mir nicht.

    Die Polemik gegen das Urteil, über das man in der Sache sicher geteilter Meinung sein kann, kann ich auch nicht nachvollziehen. Das Argument, dass der nun einmal de facto parteipolitisch zusammengesetzte Bundestag in parteipolitisch relevanten Fragen schärfer kontrolliert wird, ist alles andere als neu und durchzieht zB das Recht der Parteifinanzierung seit langem. Das hat auch nichts mit einem Korruptionsverdacht o.ä. zu tun, sondern mit dem grundlegenden Anliegen jeder verfassungsmäßigen Ordnung, der Begrenzung politischer Macht.

  8. Max Steinbeis Do 10 Nov 2011 at 10:59 - Reply

    @Mässiger: ach so, also 2 dissentings u