Nach dem Brexit-Referendum: ein Fast Track zur deutschen Staatsbürgerschaft für bedrohte Unionsbürger!
Ich hatte eigentlich ziemlich gut geschlafen heute nacht. Irgendwie war ich tief im Inneren doch sehr sicher, dass die Brit_innen sich gemäß ihrem nationalen Stereotyp verhalten und nichts tun würden, was zu allererst mal ganz furchtbar schlecht für sie selber ist.
Well, I was wrong.
Auf der Suche nach Gründen, mit denen ich mein Entsetzen, meine Trauer und meine Angst unter Kontrolle bekommen kann, finde ich dies: Wenigstens gibt es jetzt eine Alternative. Wenigstens wird man denen, die die Lippen fletschen und die Augen rollen über die blöde EU, in Zukunft sagen können: schaut auf Großbritannien und sagt uns, ob ihr das so viel toller findet. Wenigstens wird man jetzt auf konkrete Erfahrungstatsachen verweisen können, wenn man sich mit den Rechts- und Linkspopulisten über die Vorzüge und Nachteile der EU-Mitgliedschaft streitet – Erfahrungstatsachen, die den Preis sichtbar machen, den eine nationale Politik des Ihr-Könnt-Uns-Alle-Mal zu zahlen hat, wenn man sie wirklich beim Wort nimmt. Johnson, Gove und Farage werden jetzt Verantwortung übernehmen müssen für das, was sie angerichtet haben. Die Euroskeptiker können ihr erpresserisches Spiel, sich als Opfer zu inszenieren, ohne selbst jemals liefern zu müssen, nicht mehr so leicht weiterspielen. Ihr Bluff fliegt auf. Und die europäische Integration, nicht länger alternativlos, wird endlich wieder politisch.
Um die Depression auf Abstand zu halten, will ich aber noch einen Schritt weiter gehen und einen Vorschlag machen.
Ich schlage vor, dass wir in Deutschland einen Fast Track zur deutschen Staatsbürgerschaft für Unionsbürger einführen.
Nach § 10 StAG muss man als Ausländer acht Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt haben, um Deutscher werden zu können. Wer einen Integrationskurs besucht hat, kann schon nach sieben Jahren den Antrag stellen, wer besonders gut Deutsch kann, schon nach sechs.
Mein Vorschlag: wir führen einen § 10 Abs. 2a StAG ein, wonach sich für Unionsbürger, deren Herkunftsstaat aus der Europäischen Union austreten will, diese Frist auf sechs Monate verkürzt.
Die Bürgerinnen und Bürger von London haben zu 60 Prozent für Remain gestimmt. London hat, anders als Schottland und Nordirland, keine Perspektive, sich vom Leave-willigen England/Wales abzutrennen und so in der Union bleiben zu können.
Das sind Unionsbürger! Und viele von ihnen verzweifeln regelrecht angesichts der Aussicht, diesen “grundlegenden Status” (EuGH) ohne ihr Zutun und Verschulden einbüßen zu müssen. Da die Unionsbürgerschaft an die Staatsangehörigkeit in einem EU-Mitgliedsstaat geknüpft ist, wäre es ein starkes Zeichen für die europäische Integration, für unsere Mit-Unionsbürger, die vom Verlust dieses Status akut bedroht sind, einen eigens auf sie zugeschnittenen Tatbestand in § 10 StAG zu schaffen.
Wenn wir schon mal dabei sind: Vielleicht finden wir auch für die US-Amerikaner_innen eine Lösung, die sich im Spätherbst entschließen, sich das Abenteuer einer von Donald Trump regierten USA lieber von außen ansehen zu wollen. Her mit ihnen. Refugees welcome!
Wozu die Sonderregelung? Es gibt keine sachliche Rechtfertigung für eine solche Bevorzugung. Wenn einem die Regeln als zu lang erscheinen, dann sollte man eher die 6-8 Jahre verkürzen.
Man kann auch mit einer großzügigen Niederlassungserlaubnis arbeiten, die meisten haben ja eh Probleme ihren Ausweis abzugeben. Die Niederlassungserlaubnis wird vermutlich eh im Abspaltungsvertrag nach Art. 50 geregelt werden.
Die Niederlassungserlaubnis verschafft keinen Zugang zur Unionsbürgerschaft. Um die geht es hier ja, apropos Sonderregelung
Nachdem Johnson gerade schon angekündigt hat, dass man sich mit dem Austritt ggf. noch etwas Zeit lassen wird, fürchte ich schon, dass die Euroskeptiker ihr “erpresserisches Spiel” noch etwas weiterspielen werden: Bis der offizielle Beschluss i.S.d. Art. 50 ergeht werden die Briten sicher alles tun, um sich eine gute Verhandlungsposition zu erkämpfen. Druckmittel dafür gibt es reichlich, schließlich ist UK bis zum Beschuss formell ordentliches EU-Mitglied – samt aller Blockademöglichkeiten…
Die durch Ihren Vorschlag Begünstigten würden ihre britische Staatsangehörigkeit verlieren, um als Deutsche “Unionsbürger” zu bleiben – wieso sollte man das wollen?
Eine gute Idee! Oder man führt für diesen Ausnahmefall eine orginäre Unionsbürgerschaft ein – ok, unrealistisch, Art. 20 AEUV müsste geändert werden, aber vielleicht ist nun eh der Zeitpunkt für einen neuen Vertrag gekommen (bzw. zumindest mittelfristig; kein Schnellschuss).
@CGHR: Was soll das völkerrechtlich sein, eine “originäre Unionsbürgerschaft”? Damit das etwas bringt, müsste die EU ein Staat werden. Sonst haben Sie bei der Einreise nach China herzlich wenig davon 😉
Ich habe auch einen Vorschlag für die betreffenden UK-Bürger, die es ohne EU-Bürgerschaft nicht aushalten:
https://www.youtube.com/watch?v=MH0ttEYOpbU
Worin besteht bitteschön der Unterschied zwischen “Das sind alles Unionsbürger, gebt ihnen sofort einen deutschen Pass” und “Heim ins Reich”?
Ich finde jeder Mensch sollte sich entscheiden dürfen. Entweder er bekommt einen nationalstaatlichen Pass, der Mitbestimmung auf Nationalstaatenebene erlaubt oder einen EU-Pass, eines Operettengebildes in Brüssel, welches nur für EU-Bürger Gesetze und Vorschriften macht. Damit wäre endlich allen gedient. Weltbürger bekämen einen eigenen Pass und Euroskeptiker wären die Einflussnahme aus Brüssel los.
Wenn wir schon damit anfangen, können wir ja gleich weitermachen mit denjenigen, die schon jahrelang hier leben und nur “geduldet” werden (oder andere vorläufige Aufenthaltstitel haben), ihre Kinder hier erzogen haben, wo die Kinder hier in die Schule gehen und Abschlüsse haben und so weiter…
Anders gesagt: Ein sehr viel liberaleres Zuwanderungsrecht. Und das bitte schnell.
Man wird sicherlich diese Trennung den Briten so schmerzvoll wie möglich machen. Als abschreckendes Beispiel für die viele euroskeptische Bürger der EU. Nur sind die voraussichtlich negativen Folgen nicht primär das Ergebnis des Ausscheidens aus der EU, sondern Strafaktionen.
Dies wird erkannt werden und ein auseinanderbrechen der restlichen EU begünstigen.
Menschen einzuschüchtern kann auch das Gegenteil erreichen, was man eigentlich wollte. Beispiele gibts in der Geschichte genug.
Andere Politiker mit mehr Verstand werden eine Reform der EU versprechen, um die EU zu retten. Dieses Versprechen wird genauso viel Wert sein, wie all die anderen. Z.B. die Regulierung des Finanzmarktes.
Machtmißbrauch, Korruption und Vetternwirtschaft ist nun mal des Menschen eigen und zerstört auf Dauer alles. In der freien Wirtschaft kann man das tollerieren, da es Wettbewerb gibt und eine Auslese stattfindet.
Doch eine EU wird nicht so leicht pleite gehen und Platz für Wettbewerber machen. Das ist das Problem.
Eine Mehrheit der Briten hat sich nicht bange machen lassen und riskiert einige vermeintliche Nachteile für ein höheres Ziel. Das ist charakterlich ein tolles Signal, das ich mir von den Deutschen nicht vorstellen kann, da denen die Brieftasche immer das Maß für Entscheidungen ist.
> Die Bürgerinnen und Bürger von London
> haben zu 60 Prozent für Remain gestimmt.
Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland haben übrigens noch für gar nichst im Zusammenhang mit der EU gestimmt. Das wäre doch mal an der Zeit?
Eine Umfrage unter Kollegen (Branche: Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung; Nichtjuristen) ergab, dass niemand von seinem Status als Unionsbürger wusste.
Dank des Verfassungsblogs ist mir vor ca. zwei Jahren meine Unionsbürgerschaft bewusst geworden. Die Gestaltung des Reisepasses habe ich wohl bis dahin als „Corporate Design“-Gedöns der EU aufgefasst.
Meine Unionsbürgerschaft mag ja rechtlich einwandfrei zu Stande gekommen sein. Mit meiner deutschen Staatsbürgerschaft und den vier Freiheiten habe ich mich aber wohl gefühlt. Eine EU als Freihandelszone de luxe würde mir vorerst ausreichen. Eine Bürgerschaft ist für mich etwas „Höchstpersönliches“, mit der EU verbindet mich kein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer „Bürgerschaft“. Deshalb erscheint mir die Zwangsbeglückung mit der Unionsbürgerschaft übergriffig.
Vermutlich besteht keine Möglichkeit der „Rückgabe“ der Unionsbürgerschaft unter Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaft (sozusagen als Zeichen dafür, was man von eine solch ungewollten Zwangsbeglückung hält)?
Eine Bürgerschaft als etwas “höchstpersönliches”? Was meinen Sie? Und warum die Anführungszeichen?
@MS: “Man” wird in (Staats-)bürgerschaft hineingeboren, gibt sie zurück oder nimmt sie an. Es hat für mich etwas mit Zugehörigkeit zu tun. Da lässt “man” sich (wie auch bei der Eheschließung) nicht vertreten.
Die Anführungsstriche: weil die Analogie natürlich schief ist.