Katja Kippings “Klassenjustiz”-Tweet, oder das Verfassungsgericht als politischer Feind
In Polen kann man zurzeit sehr eindrucksvoll studieren, wie eine national-populistische Partei das Verfassungsgericht sturmreif schießt, indem sie ihm systematisch unterstellt, mit dem politischen Gegner im Bunde zu stehen. Das Kalkül dahinter ist leicht zu erraten: Verfassungsrecht legt der politischen, durch Mehrheitsentscheid gewonnenen und legitimierten Macht rechtliche Fesseln an. Welche Fesseln genau, wann und wo und bis zu welcher Grenze sie gelten, das definiert in den meisten westlichen Verfassungsstaaten ein unabhängiges Gericht, das seine Maßstäbe dem Recht entnimmt und nicht politischen Nützlichkeits- und Interessenerwägungen. Denn nur dann kann die Verfassung tun, wozu sie da ist, nämlich den politischen Machtkampf eine friedliche und regelgebundene Auseinandersetzung zwischen Freien und Gleichen, mit anderen Worten: demokratisch bleiben zu lassen und sicherzustellen, dass nicht einfach die eine Seite die andere platt macht, weil sie gerade die dazu nötige Macht besitzt. Das macht es für solche, die tatsächlich die andere Seite platt machen wollen, attraktiv, das Verfassungsgericht zu politisieren: Dann ist es ja selbst auf der anderen Seite. Dann ist Verfassung, soweit das Verfassungsgericht daraus Bindungen für einen ableitet, nicht mehr Recht, sondern Politik. Nichts mehr, was einen bindet, sondern etwas, was man bekämpft, weil und soweit es der anderen Seite nützt anstatt der eigenen.
Anderes Beispiel: Österreich. Dort wird am 4. Dezember womöglich der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer zum Bundespräsidenten gewählt, obwohl sein grüner Konkurrent Alexander van der Bellen die Wahl bereits gewonnen hatte. Das Verfassungsgericht hatte diese Wahl aufgehoben, wegen formeller Wahlfehler. Als einer der Richter auf den nicht ganz fern liegenden Verdacht hinwies, die FPÖ habe diese Wahlanfechtung von langer Hand vorbereitet, feuerte die FPÖ aus allen Rohren: Skandal! Total politisiert, dieses Verfassungsgericht! Daraufhin diskutierte ganz Österreich, ob das Verfassungsgericht der FPÖ womöglich politisch feindlich gesonnen ist, anstatt über den Verdacht zu reden, dass es womöglich von derselben als Tool zur Wahlmanipulation missbraucht worden sein könnte, wobei das doch auch eigentlich eine interessante Frage gewesen wäre.
Und in Deutschland?
Gestern hat die Vorsitzende der Linkspartei Katja Kipping nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der Bundesregierung beim Freihandelsabkommen CETA vorläufig unter Auflagen freie Hand zu lassen, folgenden Tweet abgesondert:
Das nennt man dann wohl Klassenjustiz: #Bundesverfassungsgericht billigt #CETA und macht sich zum Handlanger der #Groko & Großkonzerne.
— Katja Kipping (@katjakipping) 13. Oktober 2016
Mal ganz abgesehen von der Frage, ob das inhaltlich irgendeinen Sinn ergibt – immerhin hatte das Gericht ja den Klägern durchaus zu einem Teilerfolg verholfen – : Klassenjustiz? Und: Handlanger der großen Koalition?
Ernsthaft jetzt?
Auf Twitter gab es auf Kippings Tweet hin immerhin ein Shitstörmchen minderer Intensität.
Bundesverfassungsgericht als “Handlanger der Großkonzerne”,”Klassenjustiz”. Linke können wie Rechte Stimmungsmache gegen Verfassungsorgane https://t.co/jb8JIUP1ME
— Armin Laschet (@ArminLaschet) 13. Oktober 2016
.@katjakipping Mir macht Angst, wie verächtlich Linkspartei, CDU und AfD auf ihnen unangenehme Urteile des BVerfG reagieren 🙁
— Ulrich Kelber (@UlrichKelber) 13. Oktober 2016
Ich weiß immer noch nicht, was mich fassungsloser macht: Die PK in Dresden oder der “Klassenjustiz”-Tweet von @katjakipping.
— Tobias Dünow (@TobiasDuenow) 13. Oktober 2016
Und CDU-Generalsekretär Peter Tauber ließ ausrichten, unter Kipping verkomme die Linke “zur roten AfD”.
Aber das ist ja alles nur ganz normales politisches Geplänkel, nicht wahr? Ist ja klar, dass SPD und CDU angefasst reagieren, sie wurden ja schließlich mitattackiert. Politik eben. Die einen gegen die anderen halt. Nichts besonderes.
In der veröffentlichten Meinung finde ich dazu nichts. Im Deutschlandfunk heute morgen gab Kipping ein langes Interview, in dem sie sich in großer Ausführlichkeit und völlig zu Recht über die sächsische Landesregierung aufregen durfte. Ihre Position in Sachen Klassenjustiz brauchte sie nicht zu erläutern.
Ich habe deshalb heute mal bei Katja Kipping nachgefragt: Was meint sie mit Klassenjustiz, und inwiefern fällt der gestrige Beschluss aus Karlsruhe darunter? Hat sie überhaupt verstanden, was das Urteil besagt, bevor sie diesen Tweet abgesetzt hat? Und was unterscheidet diese Äußerung von der politischen Instrumentalisierung des Verfassungsgerichts, wie wir sie in Polen, Österreich und den USA erleben?
Ich habe noch keine Antwort. Frau Kipping sei sehr beschäftigt heute, wurde mir ausgerichtet. Vielleicht kommt noch eine. Dann werde ich sie nachreichen.
Nun bin ich natürlich mitnichten der Ansicht, dass man das Bundesverfassungsgericht nicht kritisieren darf. Das wäre ja auch noch schöner. Schließlich habe ich das selber schon oft und mit Leidenschaft getan. Selbstverständlich kann man vieles, was aus Karlsruhe kommt, rechtlich und politisch falsch finden.
Aber das Gericht als “Handlanger” der politisch anderen Seite zu bezeichnen, ist ein Vorgang von vollkommen anderer Qualität. Einem “Handlanger” folgt man nicht, den bekämpft man. Wir hüben, die anderen drüben, und zu denen gehört auch das Verfassungsgericht mitsamt allem, was es zu den Bindungen, die die Verfassung politischer Macht auferlegt, zu sagen hat. Die gegen uns, und wir gegen die. Damit legt Katja Kipping die Axt an die Verfassung selbst.
Es sei denn, das war nur so dahingeschnullert und nicht weiter ernst gemeint. Nur so ein Winke-Winke an die Genoss’n und Genoss’n, for old time’s sake. Kann natürlich auch sein.
Das wäre im Zweifel vielleicht nicht ganz so disqualifizierend für Frau Kipping als künftige Koalitionspartnerin für SPD und Grüne als die andere Alternative. Aber immer noch disqualifizierend genug.
Update 18.10.2016: Katja Kipping hat mir gerade folgende Antwort ausrichten lassen:
Die Aufgabe des Verfassungsgerichts besteht in der Verteidigung der Grundrechte und demokratischen Verfahren. Letztlich hat das Verfassungsgericht die vorläufige Inkraftsetzung von CETA auf den Weg gebracht, auch wenn die Auflagen durchaus als wichtiger Teilerfolg der großen Proteste zu werten sind. Diese Inkraftsetzung trotz aller Einschränkungen sollte – zugegebenermaßen – etwas zugespitzt kritisiert werden. Die Kritik am Begriff der „Klassenjustiz“ kann ich selbstverständlich nachvollziehen und habe mich auch gestern ausdrücklich für alle kritischen Hinweise auf Twitter bereits bedankt. Ansonsten sehe ich es tatsächlich auch so, dass das Verfassungsgericht gerade nicht zum politische Ort solcher Entscheidungen wie Freihandelsabkommen werden sollte. Diese Frage gehören in einer Demokratie nicht vor Gericht, sondern in den gesellschaftlichen Raum und es sind die Parlamente, Partei und Bürger selbst, die darüber entscheiden sollten. Dies wäre auch der beste Schutz vor einer „Klassenjustiz“, um diesen zurecht umstrittenen Begriff mit einem Augenzwinkern nochmals zu bemühen.
Ihre Aufregung halte ich für übertrieben. Frau Kipping hat halt das Urteil nicht richtig verstanden – für CETA-Gegner war es ja durchaus ein Erfolg – und hat sich zu dieser Aussage hinreißen lassen.
Dass Frau Kipping zuspitzt, ist klar, aber normaler Bestandteil des Politikbetriebs. Das BVerfG ist Teil dieses Politikbetriebs und somit legitimes Ziel solcher Angriffe. Es gilt, wie auch sonst, you can`t have it both ways: Das BVerfG kann sich nicht fortlaufend in politisch hochsensible Fragen einmischen und zugleich für sich in Anspruch nehmen, es müsse als Gericht von politischer – und damit auch überspitzter – Kritik verschont bleiben.
nein, Frau Kipping macht rot-rot-grün im Bund richtig schwer. Das sollte man sich dann vielleicht doch noch mal gut überlegen.
Ich bin kein Jurist. Für mich ist das Verfassungsgericht aber eine Institution, die dem Einfluss der Politik in der Besetzung ausgesetzt ist. Das Gericht wirkt mit seinen Urteilen in die Politik hinein.
Trotzdem muss es vor der direkten Einflussnahme und Kritik durch die Parteien geschützt sein.
Diese Ansicht muss unter Demokraten Konsens sein, sonst heben wir die der Balance der Macht und der Interessen dienende Gewaltenteilung auf. In so fern trifft die4 Kritik an Frau Kipping.