Das Hohe und das Menschliche: eine Anmerkung zur Affäre Schnizer
Österreich hat einen neuen Buhmann. Sein Name ist Johannes Schnizer. Er ist Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Ihm hält man vor, er habe das Ansehen der hohen Institution beschädigt und sie in den Strudel politischer Debatten gezogen.
Die Geschichte ist rasch erzählt. Das Erkenntnis des VfGH, das zur Aufhebung der Stichwahl zum Bundespräsidenten führte und im Effekt Van der Bellen den Sieg über den FPÖ-Kandidaten Hofer kostete, hat in jüngster Zeit immer heftigere Kritik auf sich gezogen. Schnizer fühlte sich nach mehreren Monaten dazu berufen, das Erkenntnis zu verteidigen. Er tat dies in einem Interview mit einer Wochenzeitschrift und im Rahmen eines Gesprächs in einer spätabendlichen Nachrichtensendung.
Schnizers Verteidigung des Erkenntnisses berief sich im Wesentlichen auf die ständige Rechtsprechung. Dem VfGH seien durch seine eigenen Judikate die Hände gebunden gewesen, auch wenn deren Tenor mit dem Wortlaut der Verfassung nicht kompatibel sei. Auch ließ er durchblicken, dass er sich schwer vorstellen könne, dass die Beschwerde seitens der FPÖ nicht bereits vor dem Tag der Stichwahl ein wenig vorbereitet gewesen sei. Und schließlich bekannte er sich dazu, Van der Bellen gewählt zu haben.
In den Tagen danach tobte ein Sturm los. Einer der Wortführer war und ist der Anwalt der Freiheitlichen Partei Dieter Böhmdorfer. Er verlautete, dies Schnizers Bemerkung enthalte einen „Vorwurf gegen eine politische Partei, und zwar die derzeit größte, sich kriminell auf einen Wahlvorgang eingestellt zu haben, damit man nachher die Wahl anfechten kann.” Zwar wurden Klagsdrohungen kulant zurückgezogen, bevor sie gemacht worden waren, aber Schnizer immerhin ein Ultimatum gestellt, seine Behauptung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu widerrufen. Dem VfGH selbst, insbesondere seinem Präsidenten, wurde durch Böhmdorfer vorgehalten, „nicht mehr Tätigkeit zu entwickeln, um seinen Ruf zu retten.“
Der Kritik, die zunächst von rechts ausging, pflichteten dann, wenn auch in moderaterer Form, Journalisten aus dem politischen Zentrum bei. Allseits zeigte man sich unglücklich darüber, dass die politisch neutrale Instanz des VfGH in den Strudel parteipolitischer Auseinandersetzungen gezogen worden sei. Schnizer habe den VfGH zum Gegenstand einer politischen Kontroverse gemacht. Der Schaden sei vielleicht sogar irreparabel. Es wurde gemunkelt, dass Amtskolleginnen und –kollegen sich seinen Rücktritt aus dem Richteramt wünschten.
Der Druck auf Schnizer wurde so groß, dass er gestern seinen Amtskolleginnen sein Bedauern darüber ausdrückte, die Mitglieder des Gerichtshofs „einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt zu haben“. Auch habe er sich „zu Äußerungen hinreißen lassen, die er jetzt als großen Fehler betrachte“. Damit sind wohl seine Mutmaßungen über die Vorbreitung der Wahlanfechtung gemeint, die von der FPÖ und ihrem Anwalt Böhmdorfer als „Vorwurf“ ausgelegt worden sind.
Diese Geschichte wirft ein bezeichnendes Licht auf die österreichische Verfassungskultur. Sie belegt, dass Ästhetik und Tabu eine wichtige Rolle spielen. Es geht um die Bewahrung einer Aura. Sie zeigt aber auch, dass ein Verfassungsgericht gegen seine eigene „Politisierung“ ohnmächtig ist, wenn eine politische Partei einen der Richter zum Feind erklärt. Und das ist hier geschehen.
Diese Phänomene werden fassbarer, wenn man sich die Irrationalität der Debatte vor Augen hält. Ein Verfassungsrichter tritt öffentlich auf, um zu sagen, die ständige Rechtsprechung habe es erforderlich gemacht, für die Aufhebung – und insofern „gegen“ Van der Bellen – zu entscheiden. Politisch sei er für Van der Bellen gewesen, aber die Anwendung des Rechts habe von ihm etwas anderes als den Sieg seines Kandidaten gefordert.
Auf diese Feststellung folgten Diskussionsbemerkungen über die Notwendigkeit, abweichende Meinungen zu veröffentlichen.
Zur Erinnerung: Schnizer ist ausgezogen, eine Entscheidung, für die er gestimmt hat, zu verteidigen. Wieso also eine Diskussion über dissenting opinions?
Schnizer äußert eine Vermutung über die Vorbereitung der Anfechtung, deren beeindruckender Umfang ihm als Mitglied des Gerichts vor Augen gestanden ist. Niemand fragt, warum das schlimm ist. Alle folgen dem ehemaligen Haider- und nunmehrige FPÖ-Anwalt Böhmdorfer und sehen in der Bemerkung eine Attacke, die zu einer „Politisierung“ und damit dem Verlust des Ansehens des Gerichts führt.
Muss sich ein Richter denn blind und taub stellen, vor allem wenn außer Streit steht, dass er das Recht nicht zu Ungunsten der FPÖ gebeugt hat? Darf ein Richter nicht sagen: „Ihr seid im Recht, aber Eure Beschwerde war so gut dokumentiert, dass ich den Eindruck hatte, Ihre wart darauf nicht unvorbereitet“? Darf ein Richter nicht sagen: „Die Verfassung gibt Euch Recht, aber wählen würde ich Euch nie“?
Keine diese Äußerung ist mit der Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit unvereinbar.
Wieso also die Aufregung?
Ein Teil der Erklärung liegt darin, dass die österreichische Verfassungskultur die Würde des Verfassungsgerichts bloß ästhetisch reflektiert. Möglicherweise ist in der Öffentlichkeit eine andere Reflexion gar nicht möglich.
Diese Reflexion spielt mit dem Bild von der hohen Mauer der Institution. Die Menschen – Richterinnen und Richter – haben hinter der Einfriedung des Kollegiums zu verschwinden. Gesichtslosigkeit garantiert Unpersönlichkeit, Unpersönlichkeit garantiert Unparteilichkeit. Der hohe und hoheitliche Charakter bleibt erhalten, wenn man die Entscheidung von oben nach unten kommuniziert und dann schweigt. Jeder Erläuterungsversuch eines Richters gibt zu erkennen, dass konkrete Menschen für die Entscheidungen verantwortlich sind. Das Gesichtslose, Unpersönliche und Unparteiliche des Rechts geht verloren. Das Gericht droht, menschlich – also persönlich und parteilich – zu werden.
Bedauerlicher Weise sieht niemand, dass diese Vorstellung von Unabhängigkeit eben bloß ästhetischer Art ist. Die Unabhängigkeit wird nicht durch Argumente, sondern durch ein Gehabe vermittelt. Die Institution spricht. Die Menschen schweigen. Solange die Sätze lang, die Worte bürokratisch verschroben und die Begründungen langweilig und undurchsichtig sind, spricht das Hohe zu uns. Es spricht zu uns aus der großen Distanz, in der es zu uns Erdlingen steht. Das Hohe ist unerreichbar und unanfechtbar.
Dieses Gehabe wird durch Tabuisierung geschützt. Tabus sind eine irrationale Form von Autorität. Jede Überschreitung der vom Tabu gezogenen Grenzen gilt als Frevel. Jeder Frevel zieht Unheil nach sich. Schnizer spricht im Fernsehen über eine Entscheidung. Das war noch nie da. Obendrein sagt er, für wen er gestimmt hat. Ein frevelhafter Akt. Das muss schlimme Folgen haben. Die Autorität des Gerichts wird untergraben. Gleich ist alles aus.
Das Festhalten an der Ästhetik einer tabuisierten Unabhängigkeit ist einer demokratischen Verfassungskultur aber nicht würdig. In einer Demokratie entscheiden Menschen über Menschen. Es sind Menschen, die politische Auffassungen haben und vor der Herausforderung stehen, bei der Entscheidungsfindung ihre politischen Präferenzen im Zaum zu halten. Schnizer hat nichts anderes getan, als zu beteuern, dass es ihm darum ging.
Verfassungsrichter müssen kein politisches Keuschheitsgelübde ablegen, um sich für ihr Amt zu qualifizieren. Sie müssen nicht auf ihr Wahlrecht verzichten. Sie müssen bloß in der Lage sein, die Unterscheidung zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungspolitik plausibel zu handhaben.
In demokratischen Gesellschaften ist es ein Zeichen großer geistiger Gesundheit, wenn Richterinnen zu ihrer Verantwortung stehen. Das Recht wird von Menschen für Menschen gemacht. Auch in Gerichten. Der Inszenierung von Hoheit und Tabu bedarf es nicht, wenn eine Rechtskultur einmal einen Sinn dafür entwickelt hat, dass gerichtliche Entscheidungen aus Kontroversen hervorgehen, um in diesen auch wieder zu verschwinden. Von den USA kann man in dieser Beziehung einiges lernen. Dort ist die Demokratie nicht deswegen in Gefahr, weil es sich allgemeiner Bekanntheit erfreut, dass die Entscheidungen des Supreme Court so oder auch anders ausfallen können, oder jeder weiß, dass letztlich auch die Weltanschauung der Richterinnen die Rechtsprechung beeinflusst.
Zugegeben, es wäre besser gewesen, wenn der Präsident des VfGH die Rolle des Apologeten gespielt hätte, aber leider konnte er sich dazu nicht entschließen. Schnizer meinte, einspringen zu müssen (vielleicht auch um ein bisschen auf sich aufmerksam zu machen als Kandidat für das demnächst neu zu besetzende Präsidentenamt?).
Schnizer wählt Van der Bellen und denkt sich seinen Teil, wenn er die umfangreiche Anfechtung seitens der FPÖ sieht. Nichts davon politisiert das Verfassungsgericht. Politisiert wird es durch Böhmdorfer, der Schnizer im Handumdrehen zum Feind der FPÖ erklärt.
Dies ist eine Feindschaft, gegen die sich das Gericht nicht wehren kann. Sie geht nicht von ihm aus. Auf bedrückende Weise wird Carl Schmitts Denken durch Böhmdorfers Handlungen bestätigt.
Wenn Böhmdorfer wirklich die Politisierung des VfGH beklagte, dann müsste er sich über sich selbst beklagen.
Danke
Ein wunderbarer Kommentar, herzlichen Dank, superb
Zu schade, dass das nicht zumindest auf den Titelseiten von „Presse“ und „Standard“ steht.
Vielen Dank – genau meine Meinung, nur wesenlich pointierter dargebracht – danke !
Hr Schnizer’S Erläuterung zum VGH-Urteil war eine bereits fällige Bringschuld gehenüber dem Wähler: der muss erneut zur Urne und hat das Recht sehr genau zu erfahren WARUM. Richtig es zu tun, die unabgesprochene Form ist diskutierbar, aber Sache innerhalb des VGH.
Teile Ihre Sicht der Dinge. Danke.
Liebe Kommentatorinnen,
vielen Dank für die freundlichen Worte, über die ich mich wirklich freue. Nach dem shitstorm, den ich gestern für eine kurze Wortmeldung in „Die Presse“ geerntet habe, tut das zur Abwechslung einmal ganz gut.
Lieber Herr Somek, ich bin zwar nicht in allen Punkten Ihrer Meinung,dennoch gefällt mir der Beitrag gut, besser als der Beitrag in DiePresse!
Auch mir gefällt dieser Beitrag sehr. Mein Kommentar soll dies nicht schmälern, sondern eine andere Seite beleuchten. Denn ich frage mich, ob nicht die Tabuisierung und das Aufrechterhalten von Fiktionen, Herkules der das einzig richtige Urteil fällt, auch eine bestimmte Funktion in einem Rechtsstaat erfüllen. Ob die USA in der jeder Bürger annimmt, dass die Justiz politisch agiert, ein Vorbild sind? Lebt nicht die Idee vom Rechtsstaat europäischer Prägung davon, dass Richter unparteiisch sind und damit keinerlei eigene politische Wertvorstellungen haben und sich nicht in die Öffentlichkeit begeben, sondern in ihrem Kämerlein Recht sprechen. Vielleicht ist ein Stück dieser Fiktion beibehaltenswert und wichtig für das Funktionieren eines Rechtsstaat. Vielleicht führt eine solche Fiktion gerade zu der viel beschworenen Befriedigung, die ein Richter oder ein Richterkollegium leisten soll. Auch wenn wir wissen, dass der Kaiser nackt ist, könnte es besser sein, daran zu glauben, dass er Kleider trägt?